Fritz Mauthner
Aus dem Märchenbuch der Wahrheit
Fritz Mauthner

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Timon

Timon war tausend Jahre alt. Sein Haß war jung geblieben, tief in den Höhlen lohte die Glut seiner Augen. Auf einem Felsen saß der tausendjährige Timon und warf nach den Menschen mit Steinen und Schimpfreden.

Jesus und Petrus kamen die Straße gezogen. Auch nach ihnen warf Timon mit Steinen und Schimpfreden. Und Petrus, als ob er vorstellen wollte, sagte zum Herrn mit einem seltsamen Blick: »Timon, der Menschenfeind.«

Jesus hob seine Rechte und schaute auf Timon. Der blieb wie gebannt. Jesus sprach: »Hast du das neue Wort nicht vernommen?«

»Welches neue Wort? Viele neue Menschen und viele neue Worte sind geboren worden, seitdem ich sehen und hören kann.«

»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«

Der Bann war gebrochen. Wie ein Brüllen klang das Gelächter Timons. »Du bist also der! Das ist dein neues Wort! Huha! Das Wort habe ich vernommen! Seit einigen hundert Jahren vernehme ich's oft. Jeden Sonntag vor dem Mittagessen. Mit Glockenbegleitung. Neue Menschen werden geboren und neue Worte. Ich spei' auf die neuen Worte. Sie haben nichts umgeschaffen. Geblieben ist die alte Hundsfötterei!«

»Kein bloßes Wort! Ein neues Leben soll es dir sein! Du sollst – deinen – Nächsten – lieben – wie dich selbst!«

Da sprang Timon von seinem Felsen herunter. Wild hob er die Fäuste. »Nur die nicht, nur die Nächsten nicht. Die Nächsten, die kenne ich ja. Die Menschen, die ich kenne, die muß ich ja gerade hassen. Nur die Fernsten will ich gelten lassen, die ich nicht kenne, denen ich nicht ins Herz gesehen habe. Die über einen Steinwurf weit von mir entfernt sind. Sie sollen mir nicht nahekommen. Ich will sie nicht kennen, ich will sie nicht hassen.«

»Du warst gut. Du bist gut. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«

Schauerlich klang das Gelächter Timons. Dann hielt er die weiße Hand des Herrn Jesus zwischen seinen braunen Händen und schrie:

»Wie mich selbst! Mich selbst habe ich von je gehaßt, von dem Tage, da ich den viehischen Teufel in mir entdeckte. Die Menschen habe ich lieb gehabt wie mich selbst. Besonders die Nächsten. Und du, der du das neue Wort gefunden hast! Deine Nächsten haben dich verleugnet, verkauft und gekreuzigt. Die du gekannt hast, die waren deine Feinde. Die du nicht gekannt hast, für die hast du gebetet. Zu deinem Vater im Himmel, der dich verlassen hat. Warum? So hast du selbst gefragt! Pest und Marter in die Knochen der Menschen, die wir kennen. Tritt dicht zu mir heran. Du Wortfinder. Ich will dir etwas ins Ohr sagen. Ja, auch ich. Auch ich und immer noch. In jedem Frühjahr. Wenn dort, weit dort hinten am Rande der Ebene, an lichten Frühlingstagen, wenn dann junge Menschenkinder den Bach entlang schreiten, dann kommt dein Wort auch über mich. Nur von ferne seh ich sie, die sich bei der Hand gefaßt halten. Heiß quillt es in mir auf, bis zu den Augen. Mir wird priesterlich zumute. Huha! Priesterliche Sprüche drängen sich mir auf die Lippen. Segen über euch, Glück über euch, ihr Unbekannten, ihr neuen Menschen! Ja, ja, mein Herr, ich auch! Dem viehischen Teufel schlag' ich aufs Maul, und singerlich breitet sich meine Seele. Ich auch und immer noch. Darauf kommen sie heran, die neuen Menschen. Ich erkenne sie, und es ist der alte Unflat, der alte Menschenkot. Schaff sie aus meinen Augen, schaff sie aus meinem Wesen, damit ich sie lieben kann. Die Fernsten will ich lieben, die Nächsten muß ich hassen.«

»Menschensohn,« sprach Jesus, »laß dich belehren...«

»Fort,« schrie Timon, »weit fort von mir. Ich möchte dich lieben. Ich will dich nicht kennen.«

Traurig schritt Jesus seine Straße weiter.

Petrus ging hinter ihm her, schüttelte sein kluges Köpfchen und murmelte: »Schade! Der hätte ein ganz guter Christ werden können.«


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