Fritz Mauthner
Aus dem Märchenbuch der Wahrheit
Fritz Mauthner

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Das Opfer

Es war einmal ein Maler, der hatte viel gelernt auf der Akademie: Zeichnen und Farbenreiben, Anstreichen und Sichkleiden und große Pläne machen. Dazu hatte er noch eine wunderschöne Geliebte.

Er hieß Stieglitz und war ein schlechter Maler. Die Geliebte aber hatte starke Arme und starr emporgerichtete Augen; sie wollte ihn hoch sehen über seinen Genossen oder ihn hochheben über sie, wenn er nicht steigen konnte aus eigener Kraft.

Er ging müßig umher und sprach von einem großen Bilde, das sollte »das Opfer« heißen. Morgen wollte er anfangen. Nur ein Modell suchte er für das »Opfer«.

Jahrelang suchte er sein Modell. Endlich fragte die Geliebte:

»Was suchst du denn für ein Modell? Was wird dieses Weib denn können, das ich nicht kann?«

»Schön muß sie sein wie du, und dieses Messer muß sie sich in die Brust stoßen können, aufrecht auf dem Modelltisch, vor mir.«

»Spann die Leinwand auf,« sagte die Geliebte. »Nimm die Palette und mach die Augen auf!«

Ein Band nur löste sie und alle Gewänder fielen von ihr ab. Naät stand sie da, schlank und voll in ihrer Blüte; sie stieg drei Stufen hinauf, setzte das Messer an unter der schwellenden linken Brust, blickte stolz und entschlossen empor und fragte: »Ist es so recht?«

»Nicht ganz,« rief der Maler ungeduldig. »Das ›Opfer‹ muß ja lächeln! Lächelnd muß sie das Messer hineinstoßen.«

Die Geliebte lächelte und stieß sich lächelnd das Messer tief ins Herz.

Der Maler ist alt geworden und hat sein großes Bild nie gemalt. Er hatte doch ein glückliches Lächeln verlangt! Mit einem glückhaften Lächeln auf den Lippen mußte das Opfer sterben. Die Geliebte aber hatte im Tode ganz falsch gelächelt, bitter, spöttisch.


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