Fritz Mauthner
Aus dem Märchenbuch der Wahrheit
Fritz Mauthner

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Die Kiesel

Am Strande, wo die Meereswellen Tag und Nacht heftig gegen das Ufer schlugen, lag schwer und fest ein alter Granitblock. Um ihn herum wälzten sich unzählige Kieselsteine bald hinauf, bald hinunter. Die Kieselsteine waren von verschiedener Größe und Gestalt, alle aber wurden von jeder Woge mit Knirschen und Rasseln emporgehoben und übereinander geschoben, um nachher wieder mit mahlendem Donnergeräusch ins Meer zurückzurollen. Wenn die Kiesel gegen den Granitblock aufschlugen, so rührte er sich nicht, sie aber verloren an ihm ihre Ecken, und gegenseitig rundeten und glätteten sie einander dermaßen, daß sie nach einigen hundert Jahren schon lauter polierte Kiesel waren.

In diesem kultivierten Zustand fingen sie an zu denken, und sie dachten:

»Du sollst Ehrfurcht haben vor dem alten Granitblock, als welcher nicht von der Erde ist und auch nicht vom Meer, sondern vom Monde niedergefallen.«

»Du sollst glatt werden nach deiner Größe.«

»Du sollst Feuer geben, wenn du auf dem Lande lebst und mit Stahl geschlagen wirst.«

»Du sollst jeder Welle gehorchen, hinauf und hinab, auf daß es dir wohl gehe auf der Erde und auch im Wasser.«

»Du sollst zerbrechen, was schwächer ist als du selbst; aber du sollst nachgeben, wenn einer härter ist als du.«

»Du sollst schwer sein.«

Die Strandkiesel nannten das ihre Moral und lebten auch danach. Die kleinen Strandmuscheln aber, welche zwischen die Kieselsteine gerieten und zerquetscht wurden, nannten die Kiesel unmoralische Geschöpfe,

Das oberste Gesetz der Strandmuscheln lautet:

»Du sollst leicht sein.«


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