Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.
Polen, Tschechen und Deutsche

 

London, Februar 1852.

Die in den vorhergehenden Artikeln ausgeführten Thatsachen zeigten bereits klar, daß, wenn nicht eine neue Revolution der des März 1848 folgte, die Verhältnisse in Deutschland unvermeidlich wieder in den Zustand zurückfallen würden, in denen sie vor diesem Ereigniß gewesen. Aber das Wesen der historischen Erscheinung, auf die wir einiges Licht zu werfen suchen, ist ein so komplizirtes, daß die späteren Ereignisse ohne Berücksichtigung jener Verhältnisse, die man die auswärtigen Beziehungen der deutschen Revolution nennen kann, nicht völlig verstanden werden können. Und diese auswärtigen Beziehungen waren ebenso verwickelter Natur wie die inneren Angelegenheiten.

Die ganze östliche Hälfte Deutschlands bis zur Elbe, Saale und zum Böhmerwald, ist bekanntlich während der letzten tausend Jahre den eingedrungenen slavischen Völkern wieder abgerungen worden. Der größere Theil dieser Landstriche wurde germanisirt, so daß dort die slavische Nationalität und Sprache seit mehreren Jahrhunderten völlig verschwunden ist; und wenn wir absehen von einigen ganz isolirten Resten, die zusammen weniger als hunderttausend Köpfe zählen (Kassuben in Pommern, Wenden oder Sorben in der Lausitz), so sind ihre Bewohner in jeder Beziehung Deutsche. Aber anders liegt die Sache an der ganzen Grenze des ehemaligen Polen und in den Ländern der tschechischen Sprache, in Böhmen und Mähren. Hier sind die beiden Nationalitäten in jedem Bezirk gemischt; die Städte sind in der Regel mehr oder weniger deutsch, indeß das slawische Element in den Dörfern vorherrscht, wo es jedoch ebenfalls allmälig durch den steten Fortschritt des deutschen Einflusses zersetzt und zurückgedrängt wird.

Die Ursache dieses Standes der Dinge liegt in Folgendem: Seit der Zeit Karls des Großen haben die Deutschen ihre beständigsten und beharrlichsten Bemühungen auf die Eroberung, Kolonisirung oder wenigstens Zivilisirung des Ostens von Europa gerichtet. Die Eroberungen des Feudaladels zwischen der Elbe und Oder und die feudalen Kolonien der kriegerischen Ritterorden in Preußen und Livland legten nur die Grundlage für ein viel umfangreicheres und wirksameres System der Germanisirung durch das handeltreibende und industrielle Bürgerthum, das in Deutschland wie im übrigen Westeuropa seit dem fünfzehnten Jahrhundert zu gesellschaftlicher und politischer Bedeutung gelangte. Die Slaven, namentlich die westlichen, die Polen und Tschechen, sind vornehmlich ein Volk von Ackerbauern; Handel und Industrie standen bei ihnen nie in großem Ansehen. Die Folge davon war, daß mit dem Anwachsen der Bevölkerung und dem Erstehen von Städten in jenen Gegenden die Produktion aller Industrieartikel in die Hände deutscher Einwanderer fiel und der Austausch dieser Waaren gegen Ackerbauprodukte das ausschließliche Monopol der Juden wurde, die, wenn sie überhaupt zu einer Nationalität gehören, in diesen Ländern sicher eher Deutsche als Slaven sind. Das ist, wenn auch in geringerem Grade, im ganzen Osten Europas der Fall gewesen. Der Handwerker, der kleine Krämer, der kleine Fabrikant ist bis auf den heutigen Tag ein Deutscher in Petersburg, Pest, Jassy und selbst Konstantinopel; während der Geldverleiher, der Schankwirth, der Hausirer – eine sehr wichtige Persönlichkeit in jenen dünn bevölkerten Gegenden – fast ausnahmslos ein Jude ist, dessen Muttersprache in einem gräßlich verdorbenen Deutsch besteht. Die Bedeutung dieser deutschen Elemente in den slavischen Grenzbezirken, die mit der Zunahme der Städte, des Handels und der Industrie wuchs, nahm noch zu, als sich die Nothwendigkeit herausstellte, fast jedes Element geistiger Kultur aus Deutschland einzuführen; nach dem deutschen Kaufmann und Handwerker ließ sich der deutsche Geistliche, der deutsche Schullehrer, der deutsche Gelehrte auf slavischem Boden nieder. Und der eherne Tritt erobernder Armeen oder der behutsame wohlüberlegte Griff der Diplomatie folgte nicht nur dem langsamen aber sicheren Fortschritt der Entnationalisirung durch die gesellschaftliche Entwicklung, er ging ihm oft voran. So wurden große Theile von Westpreußen und Posen seit der ersten Theilung Polens germanisirt, indem man deutschen Kolonisten Land aus den Staatsdomänen verkaufte oder verlieh, deutsche Kapitalisten bei der Errichtung von Fabriken etc. in jenen Landstrichen unterstützte, und sehr oft auch äußerst despotische Maßregeln gegen die polnischen Bewohner des Landes ergriff.

Auf diese Weise ist in den letzten siebzig Jahren die Grenzlinie zwischen der deutschen und der polnischen Nationalität gänzlich verschoben worden. Da die Revolution von 1848 sofort den Anspruch aller unterdrückten Nationen auf eine selbständige Existenz und auf das Recht, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln, wach rief, war es ganz natürlich, daß die Polen ohne Weiteres die Wiederherstellung ihres Landes innerhalb der Grenzen der alten polnischen Republik vor 1772 forderten. Allerdings war diese Grenze schon zu jener Zeit als Scheidungslinie zwischen der deutschen und polnischen Nationalität nicht mehr richtig gewesen; sie wurde von Jahr zu Jahr immer unrichtiger, seitdem die Germanisation fortschritt; aber die Deutschen hatten eine solche Begeisterung für die Wiederherstellung Polens an den Tag gelegt, daß sie erwarten mußten, man werde als ersten Beweis der Echtheit ihrer Sympathien den Verzicht auf ihren Antheil an der Beute von ihnen verlangen. Anderseits mußte man sich fragen, ob man ganze Landstriche, die hauptsächlich von Deutschen bewohnt, große Städte, die ganz deutsch waren, an ein Volk abtreten solle, das bisher noch keine Beweise davon abgelegt hatte, daß es fähig sei, über einen Zustand des Feudalismus hinauszugehen, der auf der Unfreiheit der Landbevölkerung beruhte. Die Frage war verwickelt genug. Die einzige mögliche Lösung bot ein Krieg gegen Rußland. Dadurch war die Frage der Abgrenzung der verschiedenen revolutionirten Nationen untereinander zu einer sekundären geworden gegenüber der Hauptfrage der Gewinnung einer sicheren Grenze gegen den gemeinsamen Feind. Die Polen hätten in Bezug auf den Westen eher mit sich ein vernünftiges Wort reden lassen, wenn sie ausgedehnte Territorien im Osten erhielten; und Riga und Mitau wären ihnen am Ende ebenso wichtig erschienen wie Danzig und Elbing. Da die radikale Partei in Deutschland einen Krieg mit Rußland für nothwendig erachtete, um die Bewegung auf dem Kontinent aufrecht zu erhalten, und von der Anschauung ausging, daß die nationale Wiederherstellung auch nur eines Theils von Polen unausweichlich zu einem solchen Kriege führen müsse, unterstützte sie die Polen; die regierende Bourgeoispartei dagegen sah klar voraus, daß ein nationaler Krieg gegen Rußland ihren Sturz herbeiführen müsse, da er thätigere und thatkräftigere Männer ans Ruder rufen würde, und daher erklärte sie, mit einem erheuchelten Enthusiasmus für die Ausdehnung der deutschen Nationalität, Preußisch-Polen, den Hauptsitz der revolutionären polnischen Agitation, für einen integrirenden Bestandtheil des deutschen Zukunftsreiches. Die Versprechungen, die den Polen in den ersten Tagen der Aufregung gegeben worden, wurden schmählich gebrochen; polnische Aufgebote, die mit der Zustimmung der Regierung aufgebracht worden, wurden von preußischer Artillerie zerstreut und niedergemacht, und bereits im Monat April 1848, binnen sechs Wochen nach der Berliner Revolution, war die polnische Bewegung erstickt und der alte nationale Gegensatz zwischen Deutschen und Polen wieder erweckt. Dieser ungeheuere und unschätzbare Dienst für den russischen Autokraten wurde von den beiden liberalen Kaufleuten und Ministern Camphausen und Hansemann vollzogen. Man muß noch bemerken, daß diese polnische Kampagne das erste Mittel war, dieselbe preußische Armee wieder zu organisiren und mit Selbstvertrauen zu erfüllen, die dann die liberale Partei von der Macht verjagte und jene Bewegung niederwarf, die zu Stande zu bringen die Herren Camphausen und Hansemann sich so sehr bemüht hatten. »Womit sie gesündigt, damit werden sie gestraft.« Das war das Schicksal aller der Emporkömmlinge von 1848 und 1849, von Ledru Rollin zu Changarnier, und von Camphausen herunter zu Haynau.

Die Nationalitätenfrage gab weiter den Anlaß zu einem Kampfe in Böhmen. Dies Land, bewohnt von zwei Millionen Deutschen und drei Millionen Slaven tschechischer Zunge, hatte große historische Erinnerungen, die fast alle mit der früheren Vorherrschaft der Tschechen zusammenhingen. Aber die Kraft dieses Zweiges der slavischen Völkerfamilie war seit den Hussitenkriegen im fünfzehnten Jahrhundert gebrochen; die tschechisch redenden Länder waren zerrissen, ein Theil bildete das Königreich Böhmen, ein anderer das Fürstenthum Mähren, ein dritter, das karpathische Bergland der Slovaken, war ein Theil Ungarns. Die Mähren und Slovaken hatten längst jede Spur nationalen Empfindens und Lebens verloren, obwohl sie zum größten Theil ihre Sprache erhielten. Böhmen war auf drei von vier Seiten von ganz deutschen Ländern umgeben. Das deutsche Element hatte in Böhmen selbst große Fortschritte gemacht; sogar in der Hauptstadt, in Prag, hielten die beiden Nationalitäten einander ziemlich die Wage, und allenthalben befanden sich Kapital, Handel, Industrie und geistige Kultur in den Händen der Deutschen. Der Vorkämpfer der tschechischen Nationalität, Professor Palacky, ist selbst nur ein übergeschnappter Deutscher, der bis jetzt noch die tschechische Sprache nicht korrekt und ohne fremden Accent sprechen kann. Aber, wie das oft der Fall, die dahinsterbende tschechische Nationalität, dahinsterbend nach dem Zeugniß aller bekannten Thatsachen der letzten vier Jahrhunderte, machte 1848 eine letzte Anstrengung, ihre frühere Lebenskraft wieder zu gewinnen, eine Anstrengung, deren Scheitern, von allen revolutionären Erwägungen abgesehen, beweisen sollte, daß Böhmen hinfort nur noch als Bestandtheil Deutschlands bestehen könne, wenn auch ein Theil seiner Bewohner noch für einige Jahrhunderte hinaus fortfahren mag, eine nichtdeutsche Sprache zu sprechen.

 

(Erschienen in der »Tribune« vom 5. März 1852.)


 << zurück weiter >>