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Vorrede des Uebersetzers

Die erste Frage, die sich jedem Leser vorliegender Schrift aufdrängen dürfte, ist wohl die, wie es möglich war, daß eine derartige Arbeit der Oeffentlichkeit – abgesehen von den Lesern einer amerikanischen Zeitung – fast ein halbes Jahrhundert lang vorenthalten bleiben konnte. Die Beiden, die uns eine authentische Antwort auf diese Frage hätten ertheilen können, sind für immer verstummt. Aber ich glaube, wir haben nicht weit zu suchen, um eine ausreichende Erklärung für diese anscheinende Vernachlässigung einer wichtigen Schrift zu finden. Wenn je ein Mensch von Autoreneitelkeit frei blieb, so war es Marx, der, ebenso wie Engels, einige der wichtigsten seiner Arbeiten nicht unter seinem Namen herausgab, sondern unter dem der Organisation, in der und für die er wirkte, und der manche höchst bedeutende Ausführungen in den Schriften eines Anderen, unter dem Namen eines Anderen veröffentlichte – wir erinnern nur an die Schriften von Eccarius, an denen Marx einen großen Antheil hatte, oder an das Referat über den Normalarbeitstag, das A. Weiler auf dem Trades Unionkongreß 1878 zu Bristol erstattete. Und Marx ging ganz in den Kämpfen der Gegenwart und Zukunft auf; ihm lag das am Herzen, was er noch zu sagen hatte, nicht, was er bereits gesagt; bis zu seinem letzten Momente war die Fülle der Ideen, die in seinem Kopfe nach Verarbeitung und Mittheilung drängten, so groß, daß es Marx gar nicht in den Sinn kommen konnte, der Wiederausgrabung seiner früheren Schriften besondere Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen.

Als ich Marx 1881 einmal fragte, ob er nicht an eine Gesammtausgabe seiner Werke denke, lächelte er und meinte, vorerst müßten seine sämmtlichen Werke auch alle geschrieben sein.

Niemand hätte damals geahnt, wo Marx noch in voller Kraft dastand, daß thatsächlich seine sämmtlichen Werke im Wesentlichen bereits geschrieben seien und daß der Tod binnen Kurzem seinen großen Schlußpunkt dazu machen werde.

Nun trat neben der Frage der Herausgabe des noch ungedruckten literarischen Nachlasses von Marx auch die der Herausgabe seiner früher erschienenen Schriften in den Vordergrund. Sie wurde um so wichtiger, als gerade um die Zeit von Marx' Tod die neue Internationale zu erstehen begann, das heißt, der Uebertritt der vorgeschrittenen Arbeiterbewegungen aller Länder auf den gleichen theoretischen Boden, den des wissenschaftlichen Sozialismus. Nicht nur in proletarisch-sozialistischen Kreisen, sondern auch in denen der bürgerlichen Sozialpolitiker der verschiedensten Richtungen wuchs das Verlangen, die Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus zu erforschen und dazu an die Quelle selbst, die Schriften von Marx und Engels heranzutreten. Die Neuherausgabe der früheren Arbeiten der Beiden war jetzt mehr als ein Akt der Pietät oder rein wissenschaftlichen Interesses; sie war eine politische Nothwendigkeit.

Trotzdem war es auch Engels, dem literarischen Testamentsexekutor von Marx, nicht vergönnt, diese Aufgabe vollständig zu lösen. Lebte doch auch er mehr in der Gegenwart und Zukunft als der Vergangenheit, und wurde doch die Zeit, die ihm das literarische Eingreifen in die praktischen Kämpfe ließ, fast ganz von der Herausgabe des zweiten und dritten Bandes des »Kapital« in Anspruch genommen.

So ist denn den Epigonen der Beiden noch eine große Aufgabe hinterblieben und eine schwere Aufgabe. Indeß, Arbeitstheilung und Kooperation vervielfältigen die Kräfte der zur Lösung dieser Aufgabe Berufenen, es fehlt weder an Begeisterung noch an aufrichtigem Streben nach Gewissenhaftigkeit, und so darf man wohl erwarten, daß die noch wenig oder gar nicht bekannten Werke unserer beiden großen Meister in einer Form vor das Publikum gelangen, die allen berechtigten Ansprüchen genügt, und daß jede unnöthige Verzögerung der Publikationen vermieden wird.

Den Inhalt des vorliegenden Bändchens bildet eine Reihe von Artikeln, die Marx 1851 und 1852 für die New Yorker »Daily Tribune« geschrieben hat. Sie stehen – bis auf den Schlußartikel – in einem inneren Zusammenhang und tragen fortlaufend denselben Titel, den dieses Bändchen trägt. Die Kapitelüberschriften vorliegender Ausgabe rühren vom Uebersetzer her. Eleanor Marx-Aveling, nächst Engels die Vollstreckerin des Marxschen Testaments, hat die Artikelserie in ihrer Originalsprache herausgegeben, und nach dieser Ausgabe ist vorliegende Uebersetzung gemacht.

Die politische Situation der Zeit, in der Marx seine Mitarbeiterschaft an der »Tribune« begann, ist bekannt. Engels hat sie in seiner Einleitung zu den Marxschen »Enthüllungen über den Kommunistenprozeß in Köln« geschildert. Die Revolution von 1848 war endgiltig niedergeschlagen und jede Aussicht auf ihr sofortiges Wiederaufflammen vorbei. Indeß die Emigranten, die sich aus aller Herren Ländern in England zusammenfanden, wollten daran nicht glauben. Der Wunsch ist der Vater des Gedankens, und hier lag mehr als ein Wunsch vor; für die große Masse der Emigranten war der sofortige Wiederbeginn der Revolution nicht bloß eine politische Nothwendigkeit, sondern eine persönliche Existenzfrage. Bedenkt man noch, daß sie Ideologen waren, von der Ansicht ausgingen, der Wille und die Ideen der Menschen machten die Geschichte, und daß Emigranten nicht die Möglichkeit haben, die Verhältnisse im Vaterland nach eigener Anschauung zu beurtheilen; daß sie auf Erinnerungen, Zeitungsnachrichten und Briefe beschränkt bleiben, die stets lückenhaft genug sind, um der Phantasie zu gestatten, das Bild der Wirklichkeit je nach der Stimmung des Emigranten bald zu pessimistisch, bald zu optimistisch zu gestalten, – erwägt man das alles, dann darf es nicht Wunder nehmen, daß die Mehrheit der Emigranten in den ersten Jahren der Emigration aufs Zäheste an dem Gedanken festhielten, sie hätten den sofortigen Wiederausbruch der Revolution vorzubereiten, was freilich in Ermanglung jeder Möglichkeit einer praktischen Thätigkeit zu nichts Anderem führte, als daß sie ins Endlose untereinander konspirirten, intriguirten, debattirten und randalirten.

Eine Ausnahme machten Marx und Engels mit ihren politischen Freunden. Sie wußten, daß die Geschichte in letzter Linie nicht durch die Absichten der einzelnen Menschen bestimmt wird, sondern durch die ökonomischen Verhältnisse. Von diesem Standpunkt aus machten sie sich einestheils an die Erforschung der Ursachen des Mißlingens der jüngsten revolutionären Erhebung und anderntheils an die Untersuchung der bestehenden ökonomischen Verhältnisse, um daran die Aussichten der nächsten Revolution zu bemessen. Und sie kamen zu dem Schlusse, daß die Revolution vorläufig geschlossen und keine Aussicht auf ihr Wiederaufleben in nächster Zeit vorhanden sei.

Marx und Engels gehörten nicht zu den Leuten, die die Flinte ins Korn warfen. Auch sie konnten sich lange nicht entschließen zu glauben, daß es mit der Revolution einstweilen vorbei sei, und sie bemühten sich, die revolutionären Erwartungen ihrer Genossen aufrecht zu halten, solange noch die Verhältnisse gestatteten, solche zu hegen. Sie reorganisirten den Kommunistenbund, und noch im März 1850 erklärten sie in einer Ansprache der Zentralbehörde an den Bund: »Die Revolution steht nahe bevor, sei es daß sie hervorgerufen wird durch eine selbständige Erhebung des französischen Proletariats oder durch eine Invasion der heiligen Allianz gegen das revolutionäre Babel.«

Aber bald mußten sie sich eingestehen, daß diese Erwartung nicht mehr aufrecht zu halten sei. Die Nachwahlen vom 10. März 1850 in Frankreich hatten ein Wiederaufleben der Revolution erwarten lassen. Aber die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts daselbst durch das Gesetz vom 31. Mai, die in aller Ruhe vor sich ging, besiegelte den politischen Bankerott der kleinbürgerlichen Demokratie und bewies, daß die Junischlacht das Pariser Proletariat für Jahre hinaus kampfunfähig gemacht hatte. Und um dieselbe Zeit zeigte es sich, daß die industrielle Krisis, die 1847 eingesetzt, überwunden war und eine Aera des »wirthschaftlichen Aufschwungs« begonnen hatte. Unter diesen Umständen war es für Marx und Engels offenbar, daß an einen baldigen Wiederausbruch der Revolution nicht mehr zu denken sei. Sobald sie zu dieser Ueberzeugung sich durchgearbeitet, trugen sie kein Bedenken, ihr sofort Ausdruck zu geben. Im Oktober 1850 schrieben sie bereits in der Revue der »Neuen Rheinischen Zeitung«: »Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein ... Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.«

Der Schlußsatz zeigt uns allerdings, daß Marx und Engels zur Zeit, wo diese Artikel geschrieben wurden, noch überzeugt waren, die Revolution werde nach einer kurzen Reihe von Jahren wieder beginnen – noch im September 1851 schrieb Marx in dem ersten der hier vorliegenden Artikel von der »wahrscheinlich sehr kurzen Ruhepause, die uns zwischen dem Schluß des ersten und dem Beginn des zweiten Aktes der Bewegung gegönnt ist«.

Immerhin, trotz aller revolutionären Leidenschaft und alles revolutionären Dranges, eine Thatsache stand für sie fest, im Gegensatz zur übrigen Emigration: für Jahre hinaus war es mit der Revolution zu Ende. Es galt, sich für den Friedenszustand einzurichten. Marx gehörte aber nicht zu jenen, die den Märtyrer vor einem zahlungsfähigen Publikum posirten oder Anleihen auf die kommende Revolution aufnahmen; sich auf den Friedenszustand einrichten, hieß für ihn also eine bürgerliche Existenz gründen. Es galt aber auch, ein Organ zu erhalten, in dem er die Ergebnisse seiner Beobachtungen der Oeffentlichkeit mittheilen konnte. Es gab jedoch keines, in dem er zum deutschen Publikum hätte sprechen können. Die Demokratie boykottete Marx. Seine Revue der »Neuen Rheinischen Zeitung«, die er mit Engels seit Januar 1850 herausgab, erlag diesem Boykott; das Doppelheft 5 und 6, dem wir die oben zitirte Stelle entnommen, war ihr letztes. Die deutsche Presse war Marx verschlossen. Von dem Untergang der »Neuen Rheinischen Zeitung« an bis zum Aufkommen einer sozialdemokratischen Presse in Deutschland ist von Marx, mit Ausnahme einiger Korrespondenzen für die »Neue Oderzeitung« in Breslau (im Jahre 1855), nichts in deutschen Zeitungen veröffentlicht worden.

Angesichts dieses Boykotts mußte es ihm um so willkommener sein, im Herbst 1851 von einer angesehenen amerikanischen Zeitung, der »New York Tribune«, zur Mitarbeiterschaft aufgefordert zu werden.

Heute ist die »Tribune« ein ganz gewöhnliches kapitalistisches Zeitungsgeschäft. In ihren Anfängen dagegen trug sie einen weit höheren Charakter, der sie der Mitarbeiterschaft eines Marx wohl werth machte.

Sie war ein Kind der fourieristischen Bewegung, die in den vierziger Jahren unter den literarisch gebildeten Klassen der Vereinigten Staaten eine große Bedeutung erlangt hatte, einer Bewegung, die den Reflex einer ähnlichen in Europa bildete. Es war das zu der Zeit, als das Proletariat begann, eine Macht zu werden; noch war es nicht stark und selbständig genug, um die besitzenden Klassen ernstlich zu erschrecken und zu einer »reaktionären Masse« zusammenzuschweißen, aber bereits stark genug, um in den Kämpfen der besitzenden Klassen untereinander – der Großgrundbesitzer, der Finanz, der industriellen Kapitalisten – der einen oder der anderen als Bundesgenosse willkommen zu sein. Die Sympathien mit dem Proletariat, die Anklagen gegen seine Ausbeutung und Degradirung, ja selbst Bestrebungen zu seiner Aufhebung, die bis zu einem utopistischen Sozialismus sich versteigen durften, waren damals sicher, bei einer oder der anderen Fraktion der besitzenden Klassen Duldung, mitunter sogar Förderung zu finden. Das gab einem großen Theil der »Intelligenz« den Muth, dem Sozialismus näher zu treten. Ohne proletarisches, aber auch ohne kapitalistisches Klassenbewußtsein, konnte sie unbefangen die entsetzlichen Greuel des Kapitalismus beurtheilen, die viele ihrer Mitglieder zum Theil berufsmäßig – z. B. als Aerzte – zum Theil auch durch Erfahrungen am eigenen Leibe kannten. Das war die Zeit der glänzendsten Schilderungen eines Dickens und Disraeli, eines Carlyle und Kingsley, einer George Sand und eines Eugen Sue und ihrer Nachtreter in Deutschland. Das war auch die Zeit, in der der Fourierismus in Amerika gedieh, allerdings mehr ein literarischer Nachhall, als ein Produkt der sozialen Zustände des eigenen Landes, die wohl in einigen Großstädten bereits schlimm genug waren, aber noch nicht so sehr den Stempel der Hoffnungslosigkeit trugen, wie die des alten Europa. Der besitzlose Amerikaner selbst betrachtete das Proletariat als ein bloßes Durchgangsstadium, das er durchmachen müsse, nicht als den Zustand, in den er lebenslänglich gebannt sei.

Zu denjenigen, für die das Proletariat nur ein Durchgangsstadium war, gehörte auch Horace Greeley, der sich vom Schriftsetzer zum Journalisten emporarbeitete und 1841 die »New York Tribune« gründete. Sie stellte sich sofort in den Dienst der fourieristischen Bewegung. Schon am 14. Dezember 1841 erschien in der »Tribune« ein Artikel » Association – plan of Fourier«, in dem über die beabsichtigte Gründung einer fourieristischen Kolonie in Frankreich berichtet wurde. »Wir haben schon einiges geschrieben«, heißt es in dem Artikel, »und werden noch weit mehr schreiben, um jene große soziale Revolution zu beleuchten und zu befürworten, die zu beginnen die Bestimmung unseres Jahrhunderts ist, indem es alle nützliche Arbeit gleichzeitig anziehend und ehrenvoll macht und die Noth sammt der mit ihr verbundenen Verkommenheit vom Erdball verbannt. Der Keim dieser Revolution ist in den Schriften Ch. Fouriers enthalten« u. s. w.

Aehnliche Artikel erschienen auch späterhin. Vom März 1842 an stellte die »Tribune« täglich eine Spalte ihrer ersten Seite den Fourieristen zur Besprechung sozialistischer Themata zur Verfügung.

Aber die Sozialisten blieben bei der literarischen Vertretung ihrer Ideen nicht stehen. In allen freieren Kulturländern wurden damals Versuche gemacht, die Ideale der großen Utopisten durch Gründung sozialistischer Genossenschaften zu verwirklichen. Besonders verführerisch lagen die Verhältnisse dazu in den Vereinigten Staaten, in denen man eine moderne Kultur und doch völlige Abwesenheit polizeilicher Bevormundung und Einschränkung fand, und das wichtigste aller Produktionsmittel, den Grund und Boden, so leicht erlangen konnte. Kein Wunder, daß die Vereinigten Staaten das Idealland für die Gründer kommunistischer Kolonien waren: für die des religiösen Kommunismus weltfremder Bauern und Handwerker, die noch in dem Ideenkreise der Reformation sich bewegten; für die Kolonien moderner materialistischer Proletarier aus Europa, die ihrem Vaterlande den Rücken kehrten, um in der Wildniß jenes Glück zu suchen, das die Heimath ihnen weigerte; und für die Experimente amerikanischer Enthusiasten, die den Kommunismus versuchten, wie so manches Andere auch.

In dem Zeitraum von 1842-53 gründeten die amerikanischen Fourieristen allein nicht weniger als 33 Phalangen (Kolonien). Zwei davon entstanden unter dem Einflusse Greeleys, darunter eine der langlebigsten, Sylvania in Pennsylvanien, die sich von 1843-1855 erhielt.

Am hervorragendsten durch ihre Theilnehmer wurde jedoch unter den damaligen Gründungen amerikanischer Kommunisten die Kolonie von Brook Farm, einem Landgut in West-Roxbury, in der Nähe von Boston. Diese Gemeinde zählte in ihrer Mitte eine Reihe der begabtesten amerikanischen Schriftsteller, darunter auch den genialen Poeten Nathaniel Hawthorne, der Brook Farm zu literarischer Unsterblichkeit brachte, indem er es zum Schauplatz einer seiner liebenswürdigen Novellen wählte, The Blithedale Romance. So vieles auch in dieser Novelle freie Schöpfung des Dichters sein mag, so illustrirt sie doch sicherlich sehr gut die Stimmung, der diese Experimente entsprangen, zum Theil auch das Leben, das man in der kommunistischen Gemeinde führte. Sie muß eine reizende Idylle gebildet haben, ein anmuthiges Schäferspiel. Aber Schäferspiele sind leider nicht sehr einträglich – es sei denn in der Form eines Ballets für einen Theaterdirektor. Die Kolonie gerieth in Schulden, und schließlich sahen sich die Theilnehmer vor die Wahl gestellt, völlig zu verbauern, allen Ansprüchen auf eine höhere Kultur zu entsagen oder sich wieder unter das Joch der kapitalistischen Zivilisation zu begeben. Sie wählten natürlich das letztere und lieferten damit zwar nicht den Beweis der Undurchführbarkeit des Kommunismus, wohl aber den der Ungangbarkeit des Weges, den sie eingeschlagen. Eine Gemeinde feingebildeter Literaten, die auf Grund einer primitiv bäuerlichen Produktion zum Kommunismus gelangen will, wird stets scheitern. Wenn man sich über etwas wundern darf, so ist es nicht die Thatsache, daß die Gemeinde schließlich auseinanderging, sondern daß sie so lange zusammenhielt. Sie bestand von 1842 bis 1847.

Nach ihrer Auflösung wendete sich eine ganze Anzahl ihrer Mitglieder der New York Tribune zu; darunter G. Ripley, das Haupt der Gemeinde; Margaret Fuller, die Zenobia der »Blithedale Romance«; G. W. Curtis und endlich Charles A. Dana, den sein Biograph in Appletons » Cyclopædia of American Biography« den einzigen Geschäftsmann unter den Genossenschaftern von Brook Farm nennt.

1848 besuchte Dana für einige Monate Europa und machte dort die Bekanntschaft Freiligraths. Nach seiner Rückkehr wurde er Chefredakteur ( managing editor) der »Tribune«, und als solcher forderte er 1851 Freiligrath auf, an der »Tribune« mitzuarbeiten. Es war nach allen Anzeichen Freiligraths Vermittlung, durch die Dana veranlaßt wurde, auch Marx zur Mitarbeiterschaft einzuladen, die, wie schon gesagt, durch die vorliegende Artikelserie eingeleitet wurde.

Als Marx die Mitarbeiterschaft an der »Tribune« übernahm, war die amerikanisch-sozialistische Bewegung im Aussterben begriffen. Der europäische Literatensozialismus hatte durch die Junischlacht seinen Todesstoß erhalten; der Sozialismus hatte aufgehört, salonfähig zu sein. Das mußte auf den amerikanischen Sozialismus um so mehr zurückwirken, je weniger dieser in den heimischen Verhältnissen wurzelte, je mehr er ein importirtes Gewächs war; dazu kamen noch die entmuthigenden Fehlschläge der kommunistischen Experimente der vierziger Jahre, und endlich, und das ist wohl der wichtigste Grund des Absterbens des amerikanischen Utopismus jener Zeit, wurde der Reflex der sozialen Frage Europas völlig verdunkelt durch die wirkliche soziale Frage Amerikas, die damals in den Vordergrund trat und in den Vereinigten Staaten alles Interesse absorbirte, den Kampf gegen die Sklaverei oder genauer gesagt, gegen die Sklavenhalter.

Es entspann sich ein Klassenkampf zwischen den industriellen Kapitalisten des Nordens, die gegen die englische Industrie zu kämpfen hatten und nach Schutzzöllen verlangten, und den Latifundienbesitzern des Südens, die der englischen Industrie das Rohmaterial lieferten und am Freihandel festhielten. Es entspann sich aber auch ein Klassenkampf zwischen der rasch anwachsenden und nach dem Westen vordringenden bäuerlichen Bevölkerung des Nordens und den ebenso rasch nach Westen vordringenden Sklavenbaronen des Südens, die das Land für sich zu monopolisiren suchten. Gerade in dem Jahrzehnt, in dem Marx an der »Tribune« arbeitete, erreichten diese Gegensätze ihre schärfste Zuspitzung, bis sie schließlich im Sezessionskrieg ihren Austrag fanden. Das war eine Situation, die dem Sozialismus jeden Boden entzog.

Aber man ißt nicht vom Baume der sozialistischen Erkenntniß, ohne sich, selbst bei späteren Wandlungen – wenn man nicht geradezu ein Lump ist – eine höhere Auffassung des Lebens zu bewahren. Und so waren es denn auch die amerikanischen Kommunisten der vierziger Jahre, die im Kampfe gegen die Sklaverei in erster Linie standen, und die New York Tribune war es, die den Vorkampf führte, die aber auch in diesem Kampf und durch ihn zu einem der ersten Blätter Amerikas wurde. Ihr hervorragendster europäischer Mitarbeiter aber war Marx.

Das bezeugt uns Dana selbst in einem Briefe, dessen Veranlassung höchst charakteristisch ist.

Karl Vogt hatte 1859 ein Pamphlet gegen Marx veröffentlicht, in dem er ihm unter anderem den gegen Sozialisten, die nicht von ihren Renten leben, herkömmlichen Vorwurf macht, er lebe »vom Schweiß der Arbeiter«. Die Berliner »Nationalzeitung« übertrumpfte noch Vogt, indem sie Marx von Gelderpressungen und Polizeidiensten leben, ja ihn sogar die Verfertigung falschen Papiergeldes veranlassen ließ. Marx verklagte auf diese idiotischen Verleumdungen hin den Redakteur der »Nationalzeitung«, Zabel, zunächst bei der Berliner Staatsanwaltschaft, diese aber wies die Anklage zurück, weil kein öffentliches Interesse vorliege, das dem Staatsanwalt Anlaß gäbe, einzuschreiten. Und ebenso wurde Marx in allen Instanzen das Recht abgesprochen, gegen Zabel auf dem Wege der Privatklage vorzugehen, und damit bewiesen, daß die »Richter in Berlin« schon vor einem Menschenalter der »Nationalzeitung« ebenbürtig waren, also nicht erst der Bismarckschen Schule bedurften, um auf den Brausewetter zu kommen.

Unter den Beweismitteln, die Marx dem Gerichte vorlegte, befand sich auch ein Brief von Dana, der zeigen sollte, woher Marx während seines Londoner Aufenthaltes sein Einkommen thatsächlich bezogen. Der Brief, abgedruckt unter den Beilagen zu »Herr Vogt« von Marx, verdient wohl, in diesem Zusammenhange wieder veröffentlicht zu werden. Er lautet in Uebersetzung:

New York, 8. März 1860.

Hochgeehrter Herr!

»Mit Vergnügen stelle ich in Folge Ihres Ersuchens Ihre Verbindungen mit verschiedenen in den Vereinigten Staaten erscheinenden Publikationen fest, zu denen ich persönliche Beziehungen habe. Vor fast neun Jahren forderte ich Sie auf, für die »New York Tribune« zu schreiben, und das Engagement hat seitdem fortbestanden. Sie haben für uns regelmäßig geschrieben, ohne die Unterbrechung auch nur einer Woche, soweit ich mich erinnern kann; und Sie sind nicht nur einer der geschätztesten, sondern auch einer der bestbezahlten Mitarbeiter an dieser Zeitung. Ich habe nur Eines an Ihren Beiträgen auszusetzen gehabt, daß Sie mitunter für eine amerikanische Zeitung zu sehr den deutschen Standpunkt hervorkehrten. Das war sowohl gegenüber Rußland wie gegenüber Frankreich der Fall. Es schien mir mitunter, als legten Sie in Fragen, die den Zarismus oder den Bonapartismus angingen, zu viel Interesse und Besorgtheit für die Einheit und Unabhängigkeit Deutschlands an den Tag. Das zeigte sich vielleicht noch auffallender als sonst gelegentlich des letzten italienischen Krieges. In der Sympathie mit dem italienischen Volk stimme ich völlig mit Ihnen überein. Ich hatte ebensowenig Zutrauen zur Ehrlichkeit des französischen Kaisers wie Sie und glaubte ebensowenig wie Sie, daß die italienische Freiheit von ihm ausgehen werde; aber ich glaube nicht, daß Deutschland so viel Grund hatte, besorgt zu sein, wie Sie, im Verein mit anderen deutschen Patrioten, annahmen.

Ich muß hinzufügen, daß Sie in allen Ihren Schriften, die durch meine Hand gegangen sind, stets das größte Interesse für das Wohlergehen und den Fortschritt der arbeitenden Klassen bekundet haben, und daß viele Ihrer Beiträge direkt diesem Zweck dienten.

Ich habe auch zu verschiedenen Zeiten innerhalb der letzten fünf bis sechs Jahre Beiträge von Ihnen für »Putnams monthly«, eine literarische, sehr vornehme Revue, und für die »New American Cyclopaedia« vermittelt, die ich ebenfalls redigire, und für die Sie einige höchst wichtige Artikel geliefert haben.

Wenn weitere Auskünfte nöthig werden, werde ich sie mit Vergnügen geben. Inzwischen verbleibe ich Ihr aufrichtiger

Charles A. Dana,
Chef-Redakteur der New York Tribune.«

Dieser Brief ist ebenso ehrenvoll für seinen Schreiber wie für den Adressaten, er und seine Veranlassung zeigen uns aber auch deutlich, wieso es kam, daß eine Reihe der wichtigsten Arbeiten von Marx, seine Beobachtungen über ein ganzes Jahrzehnt unserer Zeitgeschichte, englisch, in amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften erschienen und nun mühsam ausgegraben und dem deutschen Publikum verdeutscht werden müssen. Von allen deutschen Verlegern und Redakteuren, »demokratischen« so gut wie andern, geboykottet, von vielen obendrein aufs infamste verleumdet, hätte Marx ein elendes Ende in der Emigration gefunden, wenn es nach dem Sinne dieser Herren gegangen wäre. Wenn es ihm gelang, sich in der furchtbaren Krisis des Emigrantenthums nicht blos zu behaupten, nicht blos ein neues Wirkungsfeld zu finden, sondern auch ein Werk zu schaffen, das heute als eines der glänzendsten und tiefsten Produkte des deutschen Geistes anerkannt ist, so geschah es trotz der giftigen Feindschaft der Vertreter dieses deutschen Geistes, so geschah es nicht zum wenigsten Dank dem entgegenkommenden Verständniß des Angloamerikaners Ch. Dana.

Die Sozialdemokratie, jeder, der den Genius von Karl Marx anerkennt, hat alle Ursache, auch des Mannes anerkennend zu gedenken, der diesem Genius während seiner Aechtung ein Obdach bot.

Diese Aechtung war gerade am wirksamsten zu der Zeit, als Marx vorliegende Artikel schrieb. Dieses Moment ist bei ihrer Beurtheilung nicht außer Acht zu lassen. Blieb es auch ohne Einfluß auf den Standpunkt, den Marx einnahm, so dürfte es doch, namentlich in der zweiten Hälfte vorliegender Schrift, die Bitterkeit ihrer Sprache verschärft haben. Daß diese nicht die des kühlen Beobachters war, sondern die des Kämpfers, der den großen Kampf aus ganzer Seele und mit Einsetzung seiner ganzen Persönlichkeit mitgekämpft, war selbstverständlich.

Man muß es bewundern, daß alle Bitterkeit und Leidenschaft Marx' historischen Blick so wenig zu trüben vermochte, daß die Zeit eines halben Jahrhunderts seinen Artikeln von damals nicht nur keinen Abbruch gethan, sondern sie in fast allen wesentlichen Punkten bestätigt hat.

Nur über einen Punkt möchte ich mir eine Auseinandersetzung erlauben, da er leicht zu falschen Anschauungen Anlaß geben könnte; ich meine das Verhältniß von Marx zu den österreichischen Slaven (ausgenommen die Polen). Diese, namentlich die Tschechen und Kroaten, hatten einen ungemein großen Antheil an dem Siege der Gegenrevolution in Oesterreich, und so ist es denn kein Wunder, daß Marx sich mit der vollen Wucht seiner revolutionären Leidenschaft gegen sie wendet und sie als Verräther an der Revolution brandmarkt. Aber ließ sich nicht Marx von seinem gerechten Zorn zu sehr fortreißen und stellte er nicht eine Behauptung auf, die er nicht verantworten konnte, wenn er diesen slavischen Stämmen, vor Allem den Tschechen, geradezu die Möglichkeit einer nationalen Existenz abstritt? Haben ihn nicht die Thatsachen Lügen gestraft? Wird heute nicht die Existenzfähigkeit der tschechischen Nation selbst von ihren erbittertsten Gegnern nicht mehr bestritten?

Man muß gestehen, es ist anders gekommen, als Marx erwartet, aber daraus folgt noch keineswegs, daß der Standpunkt, den Marx 1851 einnahm, nicht wohlbegründet war. Das Urtheil von Marx war durch die damaligen Verhältnisse völlig gerechtfertigt, und es zeugt von einer genauen Kenntniß der österreichischen Zustände.

Wenn trotzdem seine Prophezeiung vom Untergang der tschechischen Nationalität nicht eingetroffen ist, so liegt der Fehler anderswo, als in mangelhafter Kenntniß der Thatsachen. Er liegt in dem einzigen großen Irrthum, den Marx mit Engels seit der Entdeckung der materialistischen Grundlagen der geschichtlichen Entwicklung begangen, und auf den uns Engels selbst in seiner Vorrede zu den »Klassenkämpfen in Frankreich 1848 bis 1850« aufmerksam gemacht (S. 6).

Wir haben oben gesehen, daß Marx durch das Studium der ökonomischen Verhältnisse zur Erkenntniß kam, daß die Revolution einstweilen abgeschlossen sei. Aber er erwartete die neue Revolution ebensobald, wie die neue Krise, binnen wenigen Jahren. Behielt er mit dieser Erwartung Recht, so war, das erscheint uns unzweifelhaft, das Schicksal der tschechischen Nationalität besiegelt. Ohne jegliche gewaltsame Germanisation mußte einfach die Macht des entfesselten Verkehrs, die Macht der modernen Kultur, welche die Deutschen brachten, die rückständigen tschechischen Kleinbürger, Bauern und Proletarier, denen ihre verkümmerte Nationalität gar nichts zu bieten hatte, zu Deutschen machen.

Aber wie wir wissen, blieb die erwartete Erhebung aus. Die liberale Bourgeoisie hatte als revolutionäre Klasse abgedankt; die unter ihr stehenden Klassen aber waren zu erschöpft und entmuthigt, um sich so bald wieder erheben zu können.

Dazu kam, daß die Besieger der Revolution durch die Logik der Thatsachen getrieben wurden, selbst revolutionär aufzutreten und das Werk der Revolution von 1848 fortzusetzen. Um von Frankreich die Revolution fernzuhalten, war der dritte Napoleon genöthigt, das alte Rußland umzuwerfen und dessen Beherrscher zu zwingen, die Leibeigenschaft aufzuheben; er war genöthigt, Italien zu einigen und den österreichischen Absolutismus ins Wanken zu bringen. Bismarck vollendete den Umsturz des österreichischen Absolutismus, entthronte einige deutsche Herrscher, brachte Frankreich die Republik und Deutschland das allgemeine Stimmrecht und, bis zu einem gewissen Grade, die Einheit.

Durch die Revolutionen von oben wurde der Revolution von unten vorgebeugt. Als aber diese revolutionäre Aera vorbei war, die von 1853-71 dauerte, da waren, wie Engels in der erwähnten Vorrede bereits bemerkt, auch die Bedingungen für eine andere revolutionäre Taktik gegeben, als sie bis 1848 möglich und geboten gewesen. Aber auch die Existenzbedingungen für die Slaven Oesterreichs waren inzwischen ganz andere geworden.

In die Augen springend ist Folgendes. 1851, als Marx die vorliegende Arbeit schrieb, gehörten Böhmen, Mähren und Schlesien noch zum deutschen Bunde, nicht aber die anderen von Slaven bewohnten Provinzen Oesterreichs – von den damals noch wenig bedeutenden Slovenen einiger südlichen Provinzen abgesehen. Es standen 3, höchstens 4 Millionen Tschechen ungefähr 40 Millionen Deutschen gegenüber, ein Mißverhältniß, das allein genügte, die Zukunft des Tschechenthums als eine hoffnungslose erscheinen zu lassen. Aber 1866 wurde Oesterreich aus dem deutschen Bunde gedrängt. Dies bewirkte auf der einen Seite die Vereinigung der Tschechen mit dem größten Theil der anderen Slaven Oesterreichs, auf der anderen die Loslösung der Deutschösterreicher von Deutschland. Nun standen in Cisleithanien etwa 11 Millionen Slaven 7 Millionen Deutschen gegenüber. Das Blättchen hatte sich gewendet.

Aber zur selben Zeit ging auch eine völlige Veränderung in der politischen und sozialen Bedeutung der einzelnen Klassen vor sich, eine Veränderung, die sich seit jener Periode der Revolution von oben in derselben Richtung fortgesetzt und vertieft hat.

1848 war die Bourgeoisie noch die nationalste aller Klassen, sowohl in dem Sinne, daß ihre Bedürfnisse den Gesammtbedürfnissen der Nation am nächsten kamen, als auch in dem Sinne, daß ihre Interessen die Kraft und Einheit der Nation am dringendsten erforderten. Der Adel war antinational, seine Interessen liefen den Gesammtinteressen der Nation schnurstracks zuwider, die große Mehrheit der unter der Bourgeoisie stehenden Klassen kannte vorwiegend nur Kirchthurmsinteressen und entbehrte jeder politischen Selbständigkeit. Nur die Kleinbürger und die meist von ihnen beeinflußten, noch wenig selbständigen Proletarier der Großstädte machten eine Ausnahme – wir haben hier Deutschland und namentlich Oesterreich, nicht etwa Frankreich im Auge. Neben der Bourgeoisie gelangten sie mitunter zur politischen Führung in den Kämpfen gegen den Feudalabsolutismus. Aber sie konnten sich mit der Bourgeoisie an politischem Wissen und an Einfluß auf die »Intelligenz« im Entferntesten nicht messen, ihre ökonomischen Interessen standen oft im Widerspruch mit den Tendenzen der ökonomischen Entwicklung, ihre Bestrebungen waren daher widerspruchsvoll und unklar, ihr ökonomischer Rückhalt und damit ihre Kraft zu selbständiger, ausdauernder Opposition gering. Da überdies in einer Reihe der wichtigsten Fragen die nächsten Interessen von Bourgeoisie und Kleinbürgerthum übereinstimmten, liebte es das oppositionelle Kleinbürgerthum, sich an die oppositionelle Bourgeoisie anzulehnen. Aus dieser Anlehnung zog die bürgerliche Demokratie ihre Kraft.

Man erwäge, wie haltlos unter diesen Umständen eine von allen Seiten bedrängte Nation sein mußte, die keine Bourgeoisie besaß, und die als Führer im Kampf um ihre Selbständigkeit blos einige Ideologen und einen Theil des Kleinbürgerthums einer national gespaltenen Stadt (Prag) aufweisen konnte. Neben ihrer geographischen Lage und ihrer geringen Volkszahl war es diese Klassentheilung, die der tschechischen Nation jede Aussicht auf Fortbestand raubte. Sie schien rettungslos verloren, sobald Deutschland (mit Deutschösterreich) ein moderner Staat wurde. So wurde die tschechische nationale Bewegung naturgemäß dahin gedrängt, die Reaktion zu unterstützen, so entstand der tiefe Gegensatz zwischen der tschechischen Nation und der deutschen Revolution, der jeden Revolutionär Deutschlands, wie international er auch gesinnt sein mochte, zum Gegner dieser Nation machen mußte.

Das galt aber nur so lange, als die Bourgeoisie eine revolutionäre Klasse war, deren Sonderinteressen den Gesammtinteressen der Gesellschaft am nächsten kamen, und die allein unter den oppositionellen Klassen ein größeres Maß politischer Reife besaß.

Aus einer oppositionellen Klasse ist die Bourgeoisie eine herrschende Klasse geworden; aus einer revolutionären eine konservative. Ihre Interessen entfernen sich immer mehr von denen der Gesellschaft; die ökonomische und politische Entwicklung drängt auf ihren Umsturz hin und ihr Niedergang hat bereits begonnen. Auf der einen Seite wächst das Proletariat an Zahl, Macht, Einsicht und Kraft und entreißt der Bourgeoisie eine Position nach der anderen. Auf der anderen Seite finden wir aber auch eine anwachsende Rebellion der Kleinbürger und Bauern gegen die Bourgeoisie. Wohl sind diese Klassen ökonomisch dem Untergange geweiht, aber das führt nicht nothwendigerweise überall zu einer raschen Abnahme ihrer Zahl. In manchen Gebieten werden sie von dem fortschreitenden Kapital verdrängt, in anderen häufen sie sich dafür um so mehr an. Dort vermindert sich nicht ihre Zahl, sie kann wachsen, und damit die Konkurrenz, die sie sich machen, und das Elend, das daraus folgt. Und überall, mag die Zahl der Betriebe der Kleinhandwerker, Kleinhändler, Kleinbauern abnehmen oder nicht, ändert sich der Charakter dieser Betriebe unter dem Einfluß der kapitalistischen Entwicklung. Die Selbständigkeit und Sicherheit, die sie ihren Besitzern boten, hört auf. Aus dem Handwerker wird ein Sweater, ein Flicker, ein Händler mit Fabrikwaare. Der Kleinhändler wird ein Parasit, der aus verkommenden Existenzen seine Nahrung zieht, der von seinen Schulden und denen Anderer lebt, davon, daß es viele Fabrikanten und Großhändler giebt, die, um nur ihre Lager zu räumen, auch dem unsichersten Kunden Kredit geben, und davon, daß es so viele kleine Leute giebt, die unfähig sind, baar zu bezahlen, und daher schlecht und theuer beim Kleinhändler auf Kredit kaufen. Und der Bauer, der von dem Körnerbau nicht mehr leben kann, wird der Sklave einer Zuckerfabrik oder Molkerei, er wird Hausindustrieller, oder sein Betrieb sinkt zur Versorgungsanstalt für die nicht voll arbeitsfähigen Mitglieder seiner Familie herab; die Kinder, Greise und Krüppel betreiben die Wirthschaft, die kräftigen jungen Leute ziehen in die Stadt, und von ihren Spargroschen lebt oft der »Bauer«.

Die Statistik mag mitunter nachweisen, daß die Zahl dieser Kleinbetriebe in Industrie, Handel und Landwirthschaft nicht zurückgeht, aber der Nachweis, daß Kleinbürgerthum und Bauernschaft nicht im Verkommen sind, daß die Unsicherheit, das Elend ihrer Existenz nicht beständig wächst, wird ihr nicht gelingen.

Und zu alledem kommt noch die starke Zunahme der »liberalen Berufe«, die bereits zu einem starken und rasch wachsenden »Proletariat der Intelligenz« geführt hat.

Alle diese Klassen, die 1848 noch sich an die Bourgeoisie anlehnten, zahlreiche Interessen mit ihr gemein hatten, den Aufstieg zu ihr noch relativ leicht fanden, sich selbst also als embryonische Bourgeois fühlten, sie werden in den letzten Jahrzehnten durch eine mehr und mehr sich vertiefende Kluft von ihr getrennt, mit Haß und Empörung gegen sie erfüllt und gedrängt, ihr feindlich gegenüberzutreten. Und ihre Verzweiflung treibt sie immer mehr, ihren letzten Rettungsanker in der Staatsgewalt zu sehen, in der Betheiligung an der staatlichen Politik eine dringende Nothwendigkeit zu erkennen.

Inzwischen ist aber auch die Schulbildung gewachsen und der Verkehr hat sich entwickelt. Jedes Landstädtchen, jedes Dorf steht in regelmäßigem Verkehr mit den Zentren der politischen und ökonomischen Bewegung; der Dorfhandwerker und der Bauer, 1848 noch politisch völlig unwissend und in Friedenszeiten auch gleichgiltig, liest jetzt seine Zeitung. Er hat das Wahlrecht bekommen, er kann mit seinen Genossen in Versammlungen und Vereinen zusammentreten, er hat politische Macht und das Bewußtsein erlangt, daß seine politischen Ansichten für den Staat und dessen Wirthschaftspolitik nicht ohne Einfluß sind.

Alles das bewirkt, trotz des ökonomischen Verkommens des Kleinbürgerthums und Bauernthums, ja gerade in Folge desselben, ein gewaltiges Anschwellen seiner oppositionellen Bewegung im ganzen Lande, aber gleichzeitig auch den Niedergang jener politischen Richtung, die auf dem Zusammengehen des Kleinbürgerthums mit der radikaleren Bourgeoisie beruhte, der bürgerlichen Demokratie. Das führte in den deutschen Ländern zum Aufkommen einer neuen Art Demokratie, die der Bourgeoisie feindlich gegenüber steht und ökonomisch reaktionär auftritt. Der Ultramontanismus, bis dahin der getreueste Verfechter des Feudalabsolutismus, erhält nun zum Theil einen neuen Inhalt, er wird demokratisch, oppositionell, ja er erhebt mitunter sogar den Anspruch, sozialistisch zu sein.

Dem wachsenden Ansturm dieser reaktionären Demokratie, der zusammenfällt mit dem wachsenden Ansturm der revolutionären Sozialdemokratie und vielfach in diesem äußerlich sein Muster findet, ist der Bourgeoisliberalismus nicht gewachsen. Kaum hatten die Revolutionen von 1866 und 1870, welche die dem Jahre 1848 folgende Aera der Revolutionen von oben abschlossen, ihm die Hindernisse aus dem Wege geräumt, die seiner Herrschaft in Deutschland und Oesterreich im Wege standen, da begann auch schon sein Verfall. Nirgends hat der Bourgeoisliberalismus sich so rasch abgenützt, wie in Deutschland und Oesterreich.

Es ist leicht zu verstehen, wie dieselbe Entwicklung, die in den deutschen Ländern den Ultramontanismus und Antisemitismus, kurz, die reaktionäre Demokratie, groß zog und den bürgerlichen Liberalismus zurückdrängte, in jenen Gegenden wirken mußte, in denen Deutsche und Slaven gemischt wohnen und erstere die Bourgeoisie, letztere die unter ihr stehenden Klassen bilden. Das Deutschthum hört auf, die führende und entscheidende Macht zu sein und der Prozeß der fortschreitenden Germanisirung kommt zum Stillstand. Die Klassen, die in den deutschen Ländern sich dem Banne der liberalen Bourgeoisie entwinden, um der reaktionären Demokratie zuzuströmen, werden in den gemischtsprachigen Gegenden zu Trägern der nationalen Bewegung. Diese erfaßt die Landstädte, die Bauern und immer weitere Schichten der »Intelligenz«. Das numerische Wachsthum der »Intelligenz« sowie die Zunahme der Bildung, des Verkehrs und des politischen Interesses in den unteren Klassen schafft der Zeitungsliteratur, dann aber auch der Belletristik eine breitere Grundlage. Diese modernen Erscheinungen haben eine ganze Anzahl kleinerer Nationen literaturfähig gemacht, sie haben eine vlämische und norwegische Literatur ebenso geschaffen, wie eine tschechische. Dieselbe moderne Entwicklung, die in ökonomischer und wissenschaftlicher Beziehung die nationalen Schranken immer mehr niederreißt und den kleineren Nationen den Gebrauch der Weltsprachen aufdrängt, erzeugt neue nationale Literaturen.

Alles das begünstigt die Lebensfähigkeit und Widerstandskraft der tschechischen Nationalität gegenüber der deutschen. Weit entfernt, von dieser noch zurückgedrängt zu werden, beginnt sie vielmehr bereits, ihr neuen Boden abzugewinnen. Namentlich geschieht dies durch das Mittel der inneren Wanderungen. Wie überall in modernen Staaten erzeugt auch in den slavischen Ländern die Bauernschaft einen starken Bevölkerungsüberschuß, den das flache Land nicht ernähren kann, der in die Städte und Industriegegenden zieht, das heißt in unserem Fall, in ehedem ganz oder halbdeutsche Gegenden. Kommt der slavische Proletarier oder Kleinbürger in eine ganz deutsche Stadt, so wird er bald germanisirt. In Wien ist vielleicht mehr als die Hälfte der Bevölkerung slavischen Ursprungs, und doch ist Wien eine deutsche Stadt. Kommt er aber in gemischtsprachige Städte, so verstärkt er dort das slavische Element, und die Stadt wird in dem Maße slavisirt, in dem sie wächst und ihre Industrie sich entwickelt. Marx konnte in vorliegender Schrift Prag noch eine halbdeutsche Stadt nennen. Heute ist sie fast ganz tschechisch; ebenso Pilsen. Und Brünn ist kaum noch deutsch zu nennen. Aber auch in reindeutschen Industriegegenden, in denen die slavischen Arbeiter in Kolonien, isolirt von ihrer Umgebung leben, widerstehen sie der Germanisirung und tragen zur Slavisirung der Gegend bei; so in den Industriedörfern Nordböhmens und Niederösterreichs und in den Bergwerksdistrikten. Etwas Aehnliches zeigt sich in Deutschland in Westfalen, dessen polnische Bergarbeiter ihre Nationalität bewahren, trotzdem sie in einer völlig deutschen Gegend leben.

Die tschechische Nation ist aber nicht blos die Mutter eines zahlreichen und energischen Proletariats, sie kommt jetzt auch in die glückliche Lage, eine eigene Bourgeoisie aufweisen zu können; und auch ein Theil des Adels hat sich dieser Nation trotz seines deutschen Ursprungs angeschlossen, Dank der gemeinsamen Feindschaft, die beide gegen die liberale deutsche Bourgeoisie hegten.

Die tschechische Nation besitzt also heute alle Ingredienzien eines modernen Kulturvolks. Das besagt aber, daß die Wiederkehr einer Haltung, wie sie die Tschechen 1848 und 1849 einnahmen, und wie sie Marx für die Zukunft befürchtete, unmöglich, daß alles, was er damals darüber sagte, heute gegenstandslos, nur noch eine Sache historischer Erinnerung ist. 1848 war die nationale Bewegung der Böhmen ein Klassenkampf, von einer Klasse, dem Kleinbürgerthum, geführt. Das ermöglichte es, daß die gesammte Nation zeitweilig als Feindin der Revolution auftreten konnte, und daß die nationale Bewegung eine einheitliche war. Heute ist die tschechische Nation von denselben tiefen Klassengegensätzen zerrissen, wie jede andere moderne Nation, und dies macht es unmöglich, daß sie je wieder einheitlich einer revolutionären Bewegung entgegenträte und sie verriethe.

Gleichzeitig hat aber auch der nationale Kampf in Böhmen viel von seiner Bedeutung eingebüßt. 1848 war er ein Klassenkampf, ein Kampf zwischen Reaktion und Revolution, ein Kampf auf Leben und Tod, dessen Größe man an der Größe des Ingrimms messen kann, mit dem er Marx erfüllte. Heute herrschen unter den Tschechen dieselben Klassenunterschiede, wie unter den Deutschen, die Gleichheit der Klasseninteressen beginnt die nationalen Gegensätze zu überbrücken, der Gegensatz der Klassen innerhalb jeder Nation beginnt die starre nationale Geschlossenheit aufzulösen. Die nationalen Kämpfe in Oesterreich hören auf, entscheidende Bedeutung für die Geschicke der Völker zu haben; sie werden Katzbalgereien einzelner Kliquen, hinter denen theils verständnißloses Nachäffen der Tradition, theils bloße Eifersüchtelei oder gar nur das Bedürfniß steckt, schmutzige Machenschaften mit der nationalen Phrase zu decken. Eine nationale Bewegung, deren wichtigstes Kampfobjekt die Ein- oder Zweisprachigkeit von Straßentafeln oder der Sitz eines Gymnasiums ist, braucht eine wirklich revolutionäre Partei nicht zu beunruhigen.

In demselben Maße aber, in dem die Bedeutung der nationalen Kämpfe in Oesterreich abnimmt, wächst die Bedeutung des Proletariats unter den Slaven dieses Landes. Und welche reaktionären Ueberraschungen Bauern und Kleinbürger noch in petto haben mögen, diese Proletarier haben bewiesen, daß sie zum Bewußtsein ihrer Aufgaben erwacht sind, und sie allein bieten bereits, abgesehen von allem Anderen, die hinreichende Garantie, daß die österreichischen Slaven als Nationalität nie wieder die Rolle spielen werden, die sie 1848 gespielt.

Stuttgart, Mai 1896.
K. Kautsky.


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