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Neunzehntes Kapitel

Frieden

Mehr als ein Jahr war verflossen seit jenen Ereignissen.

Die schöne Lady Ewell ruhte in der Gruft ihrer Ahnen; Lady Otto St. Blase hatte ihr Zelt in Paris aufgeschlagen; von Kapitän Dorsay hatte man seit Lenas Tod nichts gehört.

Wieder einmal breitete der Juni Duft und Blüten übers Land und Lambscote prangte in sommerlicher Schönheit. Die Bäume standen in jungem, frischem Grün; die Bienen summten in den Linden und Kastanien vor der Terrasse und die Blumen leuchteten wie Edelsteine aus dem lichtgrünen Rasen. Und mitten in der Herrlichkeit saß Rosie Ewell, einen breitrandigen Schutzhut auf dem Kopfe, eine Stickerei in der Hand und den Ausdruck höchster Zufriedenheit auf ihrem Gesicht. Sie war nun ein Jahr in Lambscote bei ihrem Bruder. Nach der schweren Krankheit, in die er nach dem plötzlichen Tode seiner Frau verfallen war, hatte sie ihn hierher gebracht, als einen Schatten seines alten Selbst, und hatte ihn gepflegt, bis er wieder gesund und kräftig geworden war. Und nun schien wenig mehr zu ihrem Glück zu fehlen; sie jubelte über den Sonnenschein und die Blumen, sie liebte das alte Herrenhaus und seine parkartige Umgebung leidenschaftlich, und sie hielt ihren Bruder, wie sie es immer gethan, für den besten und liebenswertesten Menschen auf der Welt. Und doch lag gerade an diesem Morgen ein leichter Schatten auf ihrer Stirn, als ob ein Windhauch über den Spiegel ihrer Seele hingegangen wäre.

Aber dieser Blick verschwand, sobald Sir Wilfrid über die Wiese her auf sie zu schritt. Er sah auffallend wohl, jung und heiter aus; sein Gesicht war wieder blühend, seine Augen wieder leuchtend geworden.

»Mein lieber Wilfrid, wie prächtig du aussiehst!« rief Rosie fröhlich, »Fast unglaublich, wenn ich an das hohläugige Gespenst denke, mit dem ich letztes Jahr um diese Zeit nach Lambscote fuhr! Damals konnte man alle deine Knochen zählen und jetzt fängst du an, ordentlich fett zu werden!«

Ein Zug des Schmerzes glitt über des Baronets Züge.

»Mahne mich nicht daran, Rosie. Ich habe mehr gelitten, als du dir vorstellen kannst – mehr als ich für menschenmöglich gehalten hätte. Gott allein weiß, wie ich durchgekommen bin,« sagte er mit einem Blick nach oben.

All seine Leidenschaft für Lena war wieder aufgelebt bei ihrem Tode. Doch nun war es eine andre Art von Empfindung, die er für sie hegte, eine solche, die keine lebende Frau mehr hätte verletzen können. Rosie duldete es nie, daß ihr Bruder sich in die Vergangenheit versenkte.

»Ich glaube, das Fieber hat dir mehr genutzt als geschadet,« sagte sie heiter. »Als du dir jene furchtbare Erkältung zuzogst auf der Fahrt nach Dover – du warst ja vorher schon krank – da war ich in Verzweiflung und gab alles verloren, und jetzt, glaube ich, bist du kräftiger und gesünder als zuvor. Wie dankbar müssen wir sein!«

»Ich muß dankbar sein, meinem treuen Schwesterlein, das mich gesund gepflegt hat; nun soll sie auch ihre Belohnung haben. Kannst du mir's nicht am Gesicht ablesen, daß ich frohe Botschaft bringe?«

»Du kamst mir ungewöhnlich gut aufgelegt vor.«

»Habe auch Grund. Heute früh habe ich mit meinem Intendanten die Bücher durchgegangen und gefunden, daß ich wieder schuldenfrei bin. Die Einschränkungen, die du mir in den letzten zwölf Monaten so selbstlos durchführen halfst, decken das Deficit, das mein Spielen verursacht hatte. Ach Rosie! Im ganzen Leben rühre ich keine Karte mehr an!«

»Wie mich das glücklich macht, Herzensbruder.«

»Wenn ich dran denke, daß ich dies stolze Erbe, den guten alten Namen aufs Spiel setzte! Es war nicht mehr weit davon, alles zu verlieren. Aber ich habe mich zusammengenommen und alles soll wieder ins Geleise kommen.«

»O, das alte Lambscote ist schon wieder auf den Beinen.«

»Jawohl und laufen soll es auch. Ich werde sofort Wagenpferde anschaffen und ein paar Jagdpferde für mich. Und du sollst die junge braune Stute haben, die uns neulich in Millerton so gut gefiel.«

»Nein, nein, Wilfrid; das ist überflüssig.«

»Du sollst sie aber haben, sag' ich dir! Den ganzen Winter hast du mein Einsiedlerleben geteilt und nicht einmal ein Reitpferd gehabt, keins, als den scheußlichen alten Pony –«

»Wilfrid, gegen den darfst du gar nichts sagen! Der gute alte Kerl mit seinem rauhen Rock und seinem harten Maul hat mich manche Stunde durch dick und dünn getragen!«

»Einerlei, die Stute bekommst du doch! Glaubst du, ich wisse nicht, welche Verdienste du dir um meinen Haushalt erworben und wie deine kluge Sparsamkeit meine wahnsinnige Verschwendung wieder gut gemacht! Wirst du mir die Freude etwa nicht machen, den Luxus, den wir uns jetzt wohl wieder erlauben dürfen, mit mir zu teilen?«

»Du bist viel zu gut gegen mich,« flüsterte Rosie.

»Und doch eine Thräne! Weshalb?«

»Nichts Wichtiges; ich bin ein wenig ärgerlich.«

»Und wer trägt die Schuld?«

»Hanna.«

»Was hat denn Hanna Böses gethan?«

»Sie hat es mir wieder abgeschlagen, uns hier zu besuchen. Natürlich hat sie Gründe, aber ich kann nicht verstehen, warum sie nicht alles beiseite setzt, mir zuliebe – ich fürchte, ihre Liebe muß sich abgekühlt haben.«

»Das sieht Hanna Warner nicht ähnlich.«

»Gewiß nicht und deshalb quält mich's. Weshalb kommt sie nicht?«

»Sie muß ihre guten Gründe haben.«

»Sie schreibt, sie könne ihre Mutter und Nellie nicht allein lassen, aber ich habe ja die beiden auch eingeladen.«

»Sei nicht traurig; einmal wird sie doch kommen, verlaß dich drauf. Wir wollen sie schon kommen machen.«

»Mir war's, als ob mein Leben verarmen würde, wenn eine Entfremdung zwischen Hanna und mir einträte,« rief Rosie bewegt aus.

»Vielleicht heiratet sie,« sagte Sir Wilfrid.

» Heiraten? Wen? Den greulichen Cobble?«

»Du pflegtest einst seine Anträge zu befürworten,«

»Sie soll ihn nicht heiraten; er ist nicht halb gut genug für sie, O, Wilfrid – warum hast du das gesagt? der Gedanke macht mich ganz unglücklich.«

»Schreib ihr und frage' sie einfach,« versetzte Sir Wilfrid lächelnd. »Aber was hältst du von Mutters Plan, nach Millerton zu ziehen?«

Rosie schnitt eine Grimasse.

»Nun, da Millerton immerhin sieben Meilen entfernt ist und Mama nur einen Ponywagen halten kann, wird man's aushalten können. Aber ums Himmels willen laß sie nicht näher kommen!«

»Ich glaube, wir können uns der Sache nicht widersetzen. Sie hat ja an uns beiden nicht sehr mütterlich gehandelt, aber schließlich ist sie doch unsre Mutter. Und jetzt, wo Edith und Laura verheiratet sind und sie meine kleine Unterstützung annimmt, wird sie in Millerton ganz anständig leben können.«

»Ja; und Fanny und Mary können den Pfarrer heiraten.«

»Beide zugleich, Rosie?«

»Nein, eine nach der andern! Er ist so greulich, daß niemand es lange aushalten wird.«

»Sehr nettes Arrangement! Weißt du, Rosie, ich könnte doch nie recht von Herzen froh sein, wenn nicht alle die Meinigen Anteil hätten an meinem Eigentum!«

Rosie sah ihren Bruder forschend an, als ob sie ihn fragen wollte, wer ihn gelehrt habe, das Leben so ganz anders anzusehen, als es einst seine Art war. Sie machte jedoch keine Bemerkung darüber.

»Und das liebe alte Lambscote soll wieder werden wie vor Zeiten,« fuhr Sir Wilfrid fröhlich fort, »und sein Haupt hoch tragen in der Grafschaft, wie es ihm gebührt.«

»Ach! um wieder ganz zu werden wie vor Zeiten, ist noch etwas nötig,« sagte Rosie im Orakelton.

»Wirklich! Und was denn etwa?«

»Eine Herrin, Wilfrid – du mußt wieder heiraten,«

»Ja, allerdings, vielleicht eines schönen Tages,« sagte er nachlässig.

Aber die hingeworfene Bemerkung schien einen Gedanken angeregt zu haben, der sich nicht mehr zurückdrängen ließ. Er trieb sich ein paar Minuten zwecklos umher, schwatzte zerstreut von seiner Mutter, dem neuen Reitpferd und den guten Tagen, die jetzt für Lambscote anbrechen sollten. Dann, als ob er plötzlich das Geheimnis nicht länger bewahren könnte, warf er sich an seiner Schwester Seite ins Gras.

»Was das Heiraten betrifft, Rosie,« sagte er heftig und legte näher rückend sein Haupt auf ihren Schoß, »so möchte ich dir etwas sagen.«

»Ganz recht, Liebster,« antwortete sie mit einem Kuß, die Hand zärtlich auf seine dunkeln Locken legend.

»Ich möchte dir eine Geschichte erzählen – willst du sie hören?«

»Das weißt du wohl.«

»Sie betrifft eine Episode in meinem früheren Leben – eine sehr düstere Episode, Rosie, und wenn du nicht in diesem Jahre mein guter Kamerad und Gewissensrat geworden wärst, würde ich mich schämen, sie dir zu erzählen. Du hast immer höher von mir gedacht, als ich es verdiente. Du gingst von dir selbst aus und hieltest mich für einen ehrenhaften, großdenkenden Menschen, der keiner niedrigen, unwürdigen Handlung fähig wäre. Wenn du meine Geschichte gehört hast, so wirst du wissen, daß ich nicht mehr und nicht weniger als ein Verbrecher bin.«

»Das glaube ich nicht,« erklärte Rosie mit Sicherheit.

»Du wirst es glauben müssen,« sagte Sir Wilfrid traurig und erzählte ihr nun in kurzen Zügen ohne jede Beschönigung die Geschichte seiner ersten Ehe und seiner Wortbrüchigkeit und Feigheit; nur den Namen des unglücklichen Mädchens nannte er nicht.

Mitleid und Entsetzen kämpften in Rosies Seele während seines Bekenntnisses, doch immer wieder siegte das erstere.

»Armer Bruder,« sagte sie endlich mit nassen Augen, »du hast viel gelitten.«

»Ja, Rosie, ich habe gelitten, aber nicht genug. Wie mich in meiner zweiten Heirat die Nemesis ereilte, weißt du – nun bin ich wieder frei – nun sage du mir, Schwesterherz, was ich thun soll?«

»Hast du jenes arme Wesen, deine Frau, Wilfrid, wieder gesehen?« fragte Rosie sehr ernst.

»Ja, ich habe sie gesehen – mit einem Kinde von mir auf den Armen, geduldig, edel, klaglos ihr Schicksal tragend; eine selbstlose Freundin, eine gute Tochter, eine aufopfernde Mutter und eine treue Gattin dem Elenden, der sie verlassen! So habe ich sie wieder gefunden, Rosie!« »Wilfrid, ich weiß es, von wem du sprichst,« rief sie plötzlich, »es ist meine Hanna, meine süße, arme, herzliebe Schwester – so groß und edel lebt ja keine Frau außer ihr! Und du sprichst von Standesunterschied, als ob sie nicht tausendmal vornehmer wäre als wir alle! Verliere keinen Tag, keine Stunde, auf deinen Knieen bitte sie, dein Weib zu werden sonst will ich dich nie mehr Bruder nennen.«

 

Am Tage darauf reiste er ab. und ehe viele Wochen verflossen waren, führte er seine zweite Frau als Herrin in Lambscote ein.

Dort leben sie – so glücklich als nur irgend eine Familie auf Englands weitem, grünem Grund. Es hat nie eine anmutigere und würdevollere Lady Ewell gegeben, als Hanna Warner, und die Nachbarschaft hat sie aufgenommen nach ihrem eignen Wert, ohne alles zudringliche Fragen. Sogar Mrs. Ewell hat ausgesprochen, daß ihr Sohn keine bessre Wahl hätte treffen können, obgleich die Mitteilungen, die er ihr zuerst über ihre neue Schwiegertochter gemacht hatte, sie in die größte Leidenschaft versetzten. Aber sie liebt die Fleischtöpfe Aegyptens und würde es für sehr schlechte Politik halten, der regierenden Königin nicht zu huldigen.

Mrs. Warner ist mit ihrer Tochter nach Lambscote übergesiedelt und zu Hannas Freude und allgemeiner Befriedigung hat Sir Wilfrid Miß Prosser mit einem reichlichen Gehalt als ihre Gesellschafterin angestellt. Die alte Dame ist ganz glücklich, treibt sich mit Miß Prosser auf allen Wegen und Stegen umher und ist ein so harmloses, wenig störendes Glied des Haushaltes, als es in ihrem Zustand nur immer möglich ist.

Wolsey Cottage hat einer Anlage von Renaissancewohnhäusern weichen müssen. Erst war es Hanna schmerzlich, es abgebrochen zu sehen; nun ist sie froh darüber. Sie hat zu viel gelitten unter seinem Dach, um es je wiedersehen zu wollen.

Sir Wilfrid ist ein richtiger Landedelmann geworden, der viel mehr Interesse für Viehzucht und Drainage hat, als für die Genüsse der Londoner Saison, worin er von Frau und Schwester bestärkt wird. Er liebt Hanna – nicht mit jener trunkenen, unvernünftigen Leidenschaft, die ihn an Lena fesselte – sie ist die Frau nicht, eine solche zu erregen – aber er ist stolz auf sie, stolz auf ihr verständiges Urteil und ihre unentwegbare Geradheit, und er stellt sie hoch über alle Frauen, die er je gesehen. Nichts wird unternommen ohne ihren Rat und jeder Erfolg wird ihr zugeschrieben. Er sieht zu ihr auf, wie sie nie zu ihm aufgesehen, obwohl sie ihn herzlich lieb hat und seine Würde und Autorität stets aufrecht hält. Es heißt, daß eine Frau Mann und Kinder nie in gleichem Maße liebe, daß unfehlbar das eine oder das andre Gefühl das vorherrschende sei. Hanna macht keine Ausnahme von dieser Regel; ihres Herzens wärmstes Empfinden gehört ihren Kindern. Vielleicht daß, wenn ein Mann so gehandelt hat wie Sir Wilfrid, eine Frau ihn im selben Maße wie vorher nicht wieder lieben kann. Sie mag die Liebe nicht aus ihrem Herzen reißen können trotz seiner Treulosigkeit und Falschheit; sie mag in ihrem weiblichen Mitempfinden seine Schwäche selbst bemitleiden und vor den Augen der Welt verbergen – aber achten kann sie ihn nicht mehr.

Doch Lady Ewell hat ihre Kinder – schöne, gesunde, kräftige Sprößlinge des alten Geschlechts – und sie erfüllen ihr Dasein mit immer wachsender Freude. Volle Zufriedenheit leuchtet aus ihren Zügen und Dankbarkeit bewegt ihre Brust, wenn sie die junge Brut sich unter den Kastanienbäumen tummeln und übereinander purzeln sieht.

Aber unter diesen Kindern ist eins, mit dem Lady Ewells Seele verwoben zu sein scheint wie durch ein magisches Band, Man sieht sie selten ohne einander, sie und das schlanke, flachsblonde Mädchen, die an ihrer Mutter Arm hängt und mit ihren ernsten, grauen Augen in ihrer Mutter Antlitz zu forschen scheint, welches Opfer sie bringen könnte zum Dank für ihre Liebe und Aufopferung. Das ist Nellie – das kleine, obdachlose Findelkind, das ›jemand‹ über die Gartenmauer gelegt hat – die Blüte, die man in dem Lilienbeet gefunden – der Engel, den Gott in seiner Barmherzigkeit vom Himmel gesandt hat, zur Kräftigung und Aufrechthaltung von Hanna Warners Herzen.

Ende.


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