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Siebentes Kapitel

Verlassen

Wenn Sir Wilfrid nach seiner Unterredung mit Hanna zwei Tage in gedrückter Stimmung gewesen war, so hielt eine solche nach der verhängnisvollen Bootfahrt etwas länger an. Er hatte das Ziel seiner Sehnsucht erreicht, er hatte den Preis errungen, nach dem er gejagt, und dennoch fühlte er sich nicht glücklich, sondern im Gegenteil sehr elend, verstört und aufgeregt, namentlich seit er bei seinem ersten Besuch nach jenem Abend von Lady Otto als Schwiegersohn und von Lena als künftiger Gatte empfangen worden war. Man hatte bei dieser Gelegenheit sogar schon den Hochzeitstag besprochen und annähernd bestimmt, und Miß St. Blase hatte ihm mit niedergeschlagenen Augen angedeutet, daß sie auf der Hochzeitsreise am liebsten Spanien besuchen würde.

Somit war alles abgethan und abgemacht, und Sir Wilfrid wiederholte sich immer aufs neue, daß ihm zu teil geworden sei, wonach sein Herz begehrt hatte, und wunderte sich selbst, daß ihn dieser Besitz nicht mehr beglückte. Natürlich war es der Gedanke an Hanna Warner, der seine Ruhe störte, und er war nahe daran, dem armen Geschöpf zu fluchen, weil sie in sein Leben getreten war und ihn zu einer Unvorsichtigkeit veranlaßt hatte, an der er wahrscheinlich bis an sein Ende zu tragen haben würde. Er rechnete mit Zuversicht auf ihr ruhiges, verständiges Wesen, allein die böse Stunde, in der er ihr alles sagen mußte, schob er von Tag zu Tag auf. Er war zu feig, ihren Vorwürfen zu begegnen und auf ihre Fragen zu antworten. Von Zeit zu Zeit schrieb er ihr, nur ein paar Zeilen, um sie über sein Ergehen auf dem Laufenden zu erhalten, aber seine Briefe waren so kalt und fremd geworden, daß sich ihr Herz schmerzlich zusammenzog. Einmal hatte sie geschrieben und – o, und wie demütig – angefragt, ob sie ihn nicht in seiner Wohnung aufsuchen dürfe; sie sehne sich sehr, sagte sie, sein Auge zu sehen und seine Stimme zu hören. Aber die Antwort war ein so entschiedenes Nein gewesen, daß sie ihre Frage nicht zu wiederholen wagte.

Indessen war ihm seine eigne Familie nicht wenig zur Last. Mrs. Ewell legte natürlich über seine Verlobung mit Miß St. Blase das höchste Entzücken an den Tag, aber die gute Dame empfand zu gleicher Zeit allzu deutlich, daß diese vortreffliche Partie all ihren Hoffnungen den Todesstoß gab, und sie beschloß infolgedessen, wenigstens möglichst viel herauszuschlagen, solange es noch möglich war. Demgemäß bestürmten die fünf Misses Ewell ihren Bruder mit Bitten, sie ins Schauspiel oder in die Oper oder zu andern Vergnügungen zu führen, und da jede solche Einladung auch die Beschaffung der zu diesem Anlaß nötigen Toilette in sich schloß, ward er der Sache nach einiger Zeit müde.

Eine Schwester zu erfreuen, wäre ja ein Leichtes gewesen, aber ihrer fünfe zu kleiden und in die Welt zu führen, war etwas andres. Erst schützte er seine gesellschaftlichen Pflichten, dann seine Verlobung und die daraus erwachsenden Verbindlichkeiten vor, und nach und nach erkannten die älteren Misses Ewell wie es stand und trugen ihre Hoffnungen zu Grabe. Mit Rosie war die Sache anders, Wilfrid hätte selbst ein Zusammensein mit seiner Braut aufgegeben, um dem Schwesterchen eine Freude zu machen, und wenn die älteren ein Geschenk erhielten, bekam sie deren ein Dutzend, Er hatte seiner Mutter auseinandergesetzt, daß er Rosie als unter seiner Vormundschaft stehend betrachte, und daß er sie, sobald er verheiratet sei, zu sich nach Lambscote nehmen und vollständig für sie sorgen werde. Mrs. Ewell vergoß zwar Thränen über diese Ungerechtigkeit gegen ihre andern Kinder, nahm aber das Glück doch an, wie die Götter es eben zu senden beliebten.

Eines Abends hatte Sir Wilfrid Rosie auf ihr dringendes Bitten gegen den Willen der Mutter ins Theater geführt, wo die erste Aufführung eines neuen Stückes stattfand. Es war Sonnabend und die Vorstellung hatte fast noch einmal so lange gedauert als angekündigt gewesen, so daß Sir Wilfrid, nachdem der Vorhang gefallen war, entdeckte, daß sie den letzten Zug nach Surbiton versäumt hatten.

»Das ist ungeschickt, Rosie, nun muß ich dich irgendwo unterbringen für die Nacht.«

»O herrlich! reizend!« rief das Mädchen, in die Hände klatschend.

»Ja, natürlich, dir macht das Spaß, aber was soll ich mit dir anfangen? In ein Hotel, das mag ich nicht, und Lady Otto ist bis Montag verreist. Halt! ich bringe dich nach Chelsea, in meine alte Wohnung. Ich habe meine Zimmer noch beibehalten und die Warners machen dir schon ein Bett zurecht.«

»Und du bleibst auch dort, Wilfrid?«

»Gewiß! Ich wäre ohnedies morgen hinunter gefahren; ich bringe meinen Sonntag hie und da dort zu; es ist hübsch und kühl in Chelsea.«

Sie nahmen eine Droschke und während der Fahrt begann Sir Wilfrid etwas verlegen und ungeschickt: »Sei so gut, Rosie, und sprich bei Warners nicht über meine Verlobung.«

»Wissen sie es denn noch nicht? Du hast doch so lange bei ihnen gewohnt und sie haben so für dich gesorgt – es würde sie doch sehr interessieren.«

»Ach, siehst du, sie gehören nun einmal nicht in unsre Kreise, und ich kann Gratulationen und naseweise Fragen nicht ausstehen. Es genügt, wenn ich ihnen meine Verheiratung anzeige. Ich kann mich hoffentlich darauf verlassen, daß du mit derlei Leuten nicht schwatzest?«

An Wolsey Cottage angekommen, ließ er Rosie im Wagen und trat ins Haus. Diesmal öffnete das Dienstmädchen.

»Wo ist Ihre Herrschaft?«

»Mrs. Warner ist im Bett und Miß Hanna liegt im Wohnzimmer auf dem Sofa; sie hat Kopfschmerzen.«

Er trat ein und Hanna erhob sich mit einem Aufschrei.

»O, Will! Ich hatte alle Hoffnung aufgegeben! Warum kommst du so spät, Liebster?«

»St! Das Mädchen ist draußen. Höre Hanna, ich habe meine Schwester Rosie mitgebracht – kannst du sie für diese Nacht aufnehmen?«

»Natürlich, ich gebe ihr mein Bett. Wie freu' ich mich –« »Mach doch keine Geschichten! Bedenke, daß sie nichts ahnt, und benimm dich gegen sie wie gegen jede andre fremde, junge Dame!«

»Gewiß, Lieber! Bring sie doch nur herein – von mir soll sie nichts erfahren,« versetzte Hanna, hastig ein paar verräterische Thränen wegwischend.

Einen Augenblick darauf trat Wilfrid mit Rosie ein.

»Das ist Miß Warner, Rosie, und sie wird die Güte haben, dich für die Nacht gut unterzubringen.«

»Aber machen Sie sich nur keine Mühe – ich nehme mit allem vorlieb,« sagte Rosie mit herzgewinnender Freundlichkeit.

»Wenn Sie kein Zimmer frei haben,« wandte sich Sir Wilfrid an Hanna, »so kann ich meiner Schwester das meinige abtreten und hier auf dem Sofa schlafen, Miß Warner.«

Der Name kam möglichst ungeschickt von seinen Lippen und rief eine dunkle Glut auf Hannas Wangen.

»Das ist überflüssig,« antwortete sie ruhig, »Miß Prosser ist zufällig verreist, da kann ich ihr Zimmer benutzen und Ihrer Fräulein Schwester das meinige abtreten. Doch erst will ich ein Abendbrot besorgen.«

»Ist das die Hanna Warner, von der du so oft sprachst?« fragte Rosie, als sie allein waren. »Wie hübsch sie ist, Wilfrid, und wie fein und nett sie aussieht! Ich schäme mich ganz, daß sie uns bedienen soll!«

»Daran ist sie gewöhnt. Sie ist übrigens ein gebildetes Mädchen, obwohl sie in sehr beschränkten Verhältnissen leben – ihr Vater war Marineoffizier. Arme Hanna! sie ist wirklich ein nettes Mädchen und hat eine süße, weiche Stimme – ›ein köstlich Ding an Frauen‹.«

»Warum sagst du arme Hanna? Ist sie unglücklich?«

Die Frage verwirrte Sir Wilfrid einigermaßen.

»Nicht, daß ich wüßte – ganz glücklich ist ja niemand.«

»Ja, aber sie sah traurig aus: sie hat gewiß Kummer – Liebeskummer vielleicht?«

»O, du neugieriger, kleiner Gelbschnabel!«

Das Abendbrot erschien, aber ohne Hanna; das Mädchen bediente bei Tisch. Erst nach Beendigung der Mahlzeit trat Hanna mit einem Licht ein, um Rosie auf ihr Zimmer zu führen.

»Wenn Sie fertig sind, Miß Ewell –«

»Gewiß, ganz fertig,« rief Rosie aufspringend und ihrem Bruder einen Gutenachtkuß gebend, »und es thut mir so unendlich leid, daß wir Ihnen so spät noch so viel Mühe machen und Sie so lange aufbleiben müssen.«

»Denken Sie nicht daran,« sagte Hanna freundlich, »wenn ich es Ihnen nur behaglich machen kann. Sehen Sie, hier ist Sir Wilfrids Zimmer und dies daneben das Ihrige: da sind Sie also unter seinem Schutz.«

»Und hier schlafen Sie gewöhnlich?« sagte Rosie, sich in dem freundlichen Stübchen mit den schneeweißen Gardinen umsehend. »Weshalb räumen Sie es mir ein? Bitte, bitte, bleiben Sie doch ruhig in Ihrem Zimmer; ich kann ja auf jedem Sofa schlafen!«

»Davon ist gar nicht die Rede, Miß Ewell. Wollen Sie mir erlauben Ihnen beim Auskleiden zu helfen; es macht mir Freude.«

Während dieses vertraulichen Dienstes traten sich die Mädchen näher und schwatzten eifrig miteinander.

»Wissen Sie denn schon, daß ich in Lambscote wohnen werde?« plauderte Rosie – »für immer! Ich bin halb verrückt vor Glück.«

»Ich bin überzeugt, daß Sie sich dort sehr glücklich fühlen werden.«

»Wenn ich bei Wilfrid bin, bin ich immer glückselig, und wenn er verheiratet ist –« aber da hielt sie plötzlich errötend inne.

»Ja, wenn er verheiratet ist?« fiel Hanna rasch ein.

»Nun ja, ich denke mir eben, daß er einmal heiraten wird,« sagte Rosie, eifrig bemüht, sich gut aus der Affaire zu ziehen. »Mama sagt, er sei es seiner Stellung schuldig – ich werde aber trotzdem bei ihm bleiben!«

»Und – hat Sir Wilfrid Ihnen gesagt, wen er – er heiraten wird?« fragte Hanna zögernd. Sie wußte selbst nicht, weshalb sie mit so namenloser Angst die Antwort erwartete.

» Das müssen Sie mich nicht fragen,« erwiderte Rosie mit leuchtenden Augen und sehr geheimnisvoller Miene, »ich habe Wilfrid mein Wort gegeben, es Ihnen nicht zu sagen. Aber mein Bruder wird es Ihnen gewiß bald selbst mitteilen, denn er schätzt Sie und Ihre Mutter sehr und erzählt uns immer, wie gütig und aufmerksam Sie gegen ihn waren. Wie reizend wäre es, wenn er Sie bäte, als Haushälterin nach Lambscote zu kommen, wenn er einmal verheiratet ist. Würden Sie das nicht gern werden, Miß Warner?«

»Ich glaube kaum, liebe – Miß Ewell wollt' ich sagen,« erwiderte Hanna errötend. »Ich glaube nicht, daß ich jemals als Haushälterin nach Lambscote gehen werde.«

»Weshalb denn nicht? Meinen Sie, Sie seien zu jung? Oder macht es Ihnen keine Freude, für Wilfrid zu sorgen?« »O, die allergrößte,« sagte Hanna, noch tiefer errötend. »Aber, wenn Sie nichts mehr brauchen, so wünsche ich Ihnen nun gute Nacht,« damit entfernte sie sich rasch.

»Wie hast du geschlafen?« fragte Sir Wilfrid seine Schwester, als sie sich am andern Morgen beim Frühstück trafen.

»O herrlich! Alles war so reizend!« rief Rosie enthusiastisch, »und weißt du, Miß Warner war so freundlich. Sie half mir selbst beim Auskleiden und diesen Morgen war ich schon mit ihr im Garten.«

»Sie gefällt dir also?«

»Ach, und wie! Wilfrid, weißt du noch, was ich gestern sagte?«

»Was denn?« fragte er.

»Daß sie Liebeskummer habe! Nun, ich glaube, ich hab's herausgebracht! Bitte, lach nicht, eh ich fertig bin! Sie liebt – dich!«

Er lachte nicht; er wurde ernstlich böse.

»Was für ein absurdes Geschwätz, Rosie, Schäme dich –«

»O, Wilfrid, so sei doch nicht so grob und höre mich erst an. Sie hat es mir ja nicht gesagt –«

»Nun das will ich hoffen! Da denk' ich denn doch zu gut von ihr.«

»Ich habe es aber erraten – ganz sicher – aus ihrer Verlegenheit und ihrem Erröten. Ich fragte sie, ob sie nicht unsre Haushälterin in Lambscote werden möchte, und sie wurde feuer – feuerrot und sagte, als Haushälterin werde sie nie nach Lambscote gehen. Es ist auch gar nicht zu verwundern! Zwei Jahre unter einem Dach und du so hübsch und so gut.«

»Du kannst so etwas ja wohl denken und sagen, Rosie, allein den Unterschied zwischen ihrer und meiner Stellung scheinst du zu vergessen. Miß Warner würde sich nie anmaßen –« er brachte den feigen Satz nicht zu Ende.

»O, nun redest du Unsinn, Wilfrid! ›Sieht doch die Katz' den Kaiser an‹ und Hanna Warner ist noch lange keine Katze, weit weniger Katze als –« sie verschluckte den Rest, aber ihr Bruder wußte sehr genau, daß sie einen Vergleich zwischen ihr und Lena St. Blase hatte anstellen wollen.

Die Folge dieses Gespräches war, daß Sir Wilfrid es für ratsam hielt, seine Mutter nicht länger in Unruhe zu lassen und Rosie sofort heimzubefördern. Aber wie groß war sein Entsetzen, als er sie beim Abschied die Arme um Hanna Warners Hals schlingen und dieselbe herzlich küssen sah.

»Tausend, tausend Dank für Ihre Mühe und Güte,« rief sie, »ich werde Sie sehr, sehr bald besuchen!«

»Was in aller Welt fiel dir ein,« fragte ihr Bruder verdrießlich, als sie im Wagen saßen, »dich von Miß Warner in der Weise zu verabschieden? Du solltest doch wahrhaftig eure beiderseitige Stellung bedenken,«

»Ich erlaube mir, sie für eine Dame zu halten, und ich küsse sie, weil ich sie lieb habe,« versetzte das Schwesterchen rebellisch, »und dich finde ich recht wunderlich – sie haben so viel für dich gethan.«

»Dafür habe ich sie regelrecht bezahlt.«

Sobald Sir Wilfrid Rosie unter die mütterlichen Flügel abgeliefert hatte, fuhr er nach Chelsea zurück. Er war sehr ärgerlich über das Vorgefallene. »Der Geschichte muß ein Ende gemacht werden,« sagte er sich.

Hanna wußte sofort aus der Art, wie er die Klingel zog, und der Ungeduld, die er über das langsame Oeffnen der Thüre zeigte, daß er in schlechter Laune sei. Aber auch ihr Gefühl war verletzt durch manches, was sie aus Rosies Aeußerungen erraten hatte, und sie war entschlossen, ihm nicht entgegen zu kommen, sondern ihn um eine Unterredung bitten zu lassen. Erst am Abend kam es zu einer solchen.

»Hanna, ich habe diesen Morgen sehr viel Verdruß gehabt und möchte mit dir darüber sprechen,« begann er.

»Worüber hast du dich erzürnt?« fragte sie, sich setzend.

»Ueber das, was meine Schwester mir wiederholt hat. Du hast ihr unser Geheimnis so gut wie mitgeteilt.«

»Das habe ich wahrhaftig nicht gethan, Will.«

»In Worten nicht, aber du ließest sie's erraten. Sie sagte mir, daß sie dir im Scherz vorgeschlagen habe. Haushälterin in Lambscote zu werden, und daß du erklärt habest, als Haushälterin werdest du nie hingehen.«

»Das ist vollständig wahr. Das werde ich auch nie!«

»Wozu brauchst du das einer Fremden zu sagen?«

»Weil ich fühle, daß du nicht ehrlich handelst, Will, daß diese Verheimlichung unsrer Ehe den Deinen und der Welt gegenüber deines edlen Herzens unwürdig ist. Es ist ungerecht und grausam! Du amüsierst dich in Gesellschaft, und ich sitze zu Hause und brüte Tag für Tag über mein Los und sehne die Zeit herbei, wo deine Umgebung mich als Lady Ewell kennen lernt. So können wir nicht weiter leben. Ich habe ein Recht, an deiner Seite zu stehen, und ich fordere es. Wenn du noch länger zögerst, so werde ich selbst deiner Mutter mitteilen, daß ich deine Frau bin.«

»Mein liebes Kind, du redest baren Unsinn – kein Mensch würde dir das glauben!«

»Ich habe meinen Trauschein und meinen Ring.«

»Meine liebe Hanna, man würde dich für schwachsinnig halten. Habe ich dir nicht gesagt, daß das alles nicht rechtskräftig ist?«

»Dann mußt du es dazu machen, Will,« rief sie leidenschaftlich. »Ich kann und will nicht länger so fortleben. Wenn du zu mir kommst, geschieht's, als ob es eine Sünde wäre, und ich weiß doch, daß ich deine rechtmäßige Gattin bin –, laß uns noch einmal getraut werden bald – gleich – dann will ich ja ohne ein Wort der Klage hier in der Stille weiter leben und keinem Menschen ein Wort davon sagen!«

Sie war aufgestanden und kniete nun neben ihm nieder und lehnte ihr dunkles Köpfchen an sein Knie. Aber der Zauber, der ihn beherrschte, war allzu mächtig, er zog rasch das Bein zurück und das arme Kind fühlte, daß sie ihn geärgert hatte, statt ihn zu besänftigen.

»Wir sind nicht verheiratet, das habe ich dir nun doch deutlich gesagt; sprich nicht immer, als ob es in meiner Macht läge, das zu ändern.«

»Man könnte es ändern – durch eine neue gesetzmäßige Trauung.«

»Und das paßt mir eben nicht – wenigstens jetzt nicht.«

»Will, wirst du es je thun?« fragte sie ihn.

»Nun, ich könnte nicht sagen, daß dein heutiges Benehmen den Gedanken sehr verlockend macht.«

»Ich lasse mich nicht länger hinhalten,« rief sie, heftig aufspringend. »Um meiner Mutter – um meiner selbst willen beschwör ich dich und fordere, daß du deine Pflicht thust.«

»Bitte, laß deine Mutter aus dem Spiel! Die Sache berührt außer dir und mir keinen Menschen; sei so gut und sei vernünftig. Wir haben einen Vertrag geschlossen, den wir für gültig hielten, der es aber nicht ist. Zwei Jahre haben wir an seine Richtigkeit geglaubt und dadurch ist nichts anders, nicht besser und nicht schlimmer geworden. Wir haben aber eine glückliche Zeit durchlebt und werden hoffentlich bis ans Ende unsrer Tage treue Freunde sein. Wozu denn all der Jammer?«

»Was willst du mit alldem sagen?« fragte sie verzweifelnd. »Sag mir's klar und deutlich, was du vorhast.«

»Wenn du mir versprechen willst, keinen Lärm aufzuschlagen und das Haus nicht zu alarmieren. Klar und deutlich denn: Meine Familie hat mir so offen ausgesprochen, was sie von meiner Heirat erwartet, daß ich nicht den Mut habe, ihr die unsrige zu verkündigen.«

»Und was erwarten sie von dir?«

»Daß ich eine in erster Linie vornehme und auch reiche Frau wähle, denn die siebentausend Pfund genügen nicht, um ein Haus wie Lambscote zu erhalten, und meine Leute meinen, daß meine Frau nicht nur eine Stellung in der Gesellschaft einnehmen, sondern auch zur Aufrechthaltung derselben etwas beitragen sollte.«

»Das ist ja ganz unmöglich! Du weißt ja, wie arm ich bin.«

»Gewiß, und das ist auch einer der Gründe, die unsre Heirat so wenig ratsam erscheinen lassen. Höre mich ruhig an, Hanna, und entscheide selbst, was besser ist – dich heiraten und durch meine Thorheit meine Stellung in der Gesellschaft einbüßen, vielleicht mit dem meinigen auch dein Leben elend machen, oder freundschaftlich übereinkommen, das Bisherige als ungeschehen zu betrachten.«

»Du willst dich von mir lossagen?« fragte sie, nach Atem ringend.

»Im Gegenteil; ich hoffe, unsre Beziehungen werden die allerherzlichsten bleiben. Kein Mensch weiß um unsre Verbindung als Parfitt, und der hat deinen Namen längst vergessen; wir sind also vollständig frei. Nach einiger Zeit wirst du dich verheiraten und in bescheidenen Verhältnissen weit glücklicher sein, als du es mit mir würdest. Wenn du mir's nur glauben wolltest, daß ich wahrhaftig ebensosehr auf deine Zukunft bedacht bin, als auf die meinige. In Lambscote würdest du dich nie an deinem Platze fühlen. Du hast mir oft gesagt, daß du dich von deiner Mutter nicht trennen könntest, und sie zu mir nehmen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit, wir würden ja das Gespött der ganzen Grafschaft. Wenn du das alles einsiehst, so trennen wir uns heute abend als aufrichtige Freunde und gute Kameraden und lassen die Liebesgeschichten vergessen sein. Schlägst du ein?«

Sie hatte seine Rede so ruhig angehört, daß Sir Wilfrid geglaubt hatte, sie überlege sich jedes Wort recht ernstlich, und er war höchst betroffen, als sie mit vor Erregung bebender Stimme erwiderte: »Niemals, Will! Niemals gebe ich meine Einwilligung zu einer solchen Schlechtigkeit! Du magst treulos und unbarmherzig und falsch gegen mich sein – Gott verzeihe es dir! – aber ich werde nie die Hand bieten zu einem Verbrechen. Wir sind Mann und Weib vor Gott, und ich werde nie einräumen, daß du das Recht hast, einer andern deinen Namen zu geben, oder daß ich einem andern gehören könnte. Ich bin gewiß, daß die Deinigen ebenso denken; ich bin gewiß, daß, wenn ich zu ihnen gehe und ihnen sage, daß wir zwei Jahre als Mann und Weib miteinander gelebt haben, sie dir, ebenso wie ich, erklären werden, daß wir aneinander gebunden sind und daß du nie der Gatte einer andern sein kannst!«

»Das würden sie nicht sagen! Sie würden im Gegenteil die Sache ganz anders auffassen und meine Mutter, die sehr streng auf Tugend und Anstand hält, würde dir erklären, daß sie nicht mit dir verkehren könne. Und wem würdest du schaden, wenn du die Sache an die große Glocke hängst? Einzig dir selbst. Du würdest deinen Ruf zu Grunde richten und niemand etwas nutzen!«

»O, ist denn keine Gerechtigkeit mehr auf der Welt?« rief das arme Wesen, ihr Gesicht mit den Händen bedeckend. »O, Will! So grausam kannst du ja nicht sein! Ist denn deine Liebe ganz dahin?«

»Aber keineswegs! Das ist ja eben der Grundirrtum, von dem du ausgehst! Ich habe dich so lieb wie nur je, aber ich muß aus Klugheitsrücksichten so handeln. Es hieße, mich unmöglich machen, wenn ich dich als meine Gemahlin einführen wollte, und deshalb kann es nicht geschehen.«

»Du liebst eine andre!« rief sie mit echt weiblichem Ahnungsvermögen.

Sir Wilfrid dachte, es sei schließlich das beste, sie das Aeußerste auf einmal erfahren zu lassen.

»Du hast recht,« antwortete er mit erkünsteltem Gleichmut. »Ich habe gewählt und bin bereits verlobt.«

»Du sollst sie nimmermehr besitzen!« rief die arme Hanna, vor Leidenschaft bebend. »Am Altar noch werde ich zwischen euch treten. Wer in der Kirche ist, soll es erfahren, wie du an mir gehandelt hast und daß du mein Gatte bist und keiner andern gehören kannst.«

»Ich glaube kaum, daß du das ausführen wirst, wenn du dir's recht überlegst; du wirst dich schwerlich dem Gelächter der Leute preisgeben,« erwiderte Sir Wilfrid. »Eine Wahnsinnige, die sich durch die Hochzeitsgesellschaft drängt und ihre Rechte auf den Bräutigam geltend macht, das ist in Komödien öfter dagewesen, hat aber nie zu den dankbaren Rollen gehört. Wenn du es recht bedenkst und zu deinem eignen Besten handelst, so erfährt keine Menschenseele je davon.«

»Mein Herz! o mein Herz!« entrang es sich Hannas Lippen und sie preßte die Hand mit einem Schmerzensausdruck auf dasselbe. Thränen hatte sie nicht, und dieser stumme, entsetzliche Schmerz rührte den Mann endlich. Er trat zu ihr und schlang den Arm um sie.

»Es braucht ja nichts anders zu werden zwischen uns,« flüsterte er, »unsre Liebe kann sich ja gleich bleiben. Wenn du dich gern als mir gehörig betrachtest, so thue es. Ich werde nie anders an dich denken.«

Aber sie schüttelte seinen Arm ab wie eine giftige Schlange.

»Dir gehörig?« wiederholte sie verächtlich. »Deine Maitresse meinst du? Weshalb die Dinge nicht beim rechten Namen nennen? Wie du treulos warst gegen mich, so willst du falsch sein gegen sie. Nein! Nein! Wenn du scheidest, so geschieht es für immer und es gibt kein Wiedersehen! Weder deine Freundin, noch deine Maitresse kann ich sein. Deine Gattin zu sein, bin ich bereit und werde mich bis zum letzten Atemzug dafür halten. O, mein Herz, mein Herz!«

»Nun, natürlich, wenn du auf deinem Eigensinn beharren und mich so unliebenswürdig behandeln willst, werde ich am besten thun, dir lebewohl zu sagen.«

»Lebe wohl, lebe wohl! für immer!« klang es zwischen Hannas schmerzlich zusammengepreßten Lippen hervor.

»Was? Ohne Kuß? Sollen wir als Fremde scheiden?«

Sie wandte sich um und warf ihm einen Blick zu, nur einen einzigen, aber all dieser Jahre Freud' und Leid lag darin, und damit verließ sie ihn. Er hörte sie in ihr Zimmer gehen und die Thür hinter sich verschließen. Nach verschiedenen Versuchen, die Aermste zu bewegen, herauszukommen und freundlicheren Abschied zu nehmen, eilte Sir Wilfrid mit einer zwischen den Zähnen hervorgestoßenen Verwünschung die Treppe hinunter und wandte dem Häuschen in Chelsea den Rücken.

Hanna war erleichtert, als sie die Gartenthür hinter ihm ins Schloß fallen hörte; sie wollte ihn nicht mehr sprechen. Sie warf sich nicht schluchzend aufs Bett, sie weinte nicht und raste nicht im Zimmer auf und ab. Sie gestattete sich keinen jener leidenschaftlichen Ausbrüche, die andern Frauen Erleichterung schaffen und schließlich zur andern Natur werden. Sie saß am offenen Fenster, das auf den Garten hinausging, und hielt ihre glühende Stirn in die Hände gepreßt und versuchte zu denken.

Was sollte sie thun? Was konnte sie thun? Wenn sie später an diese Zeit zurückdachte, war ihr bitterstes Weh der Gedanke, wie schwach Wilfrids Liebe gewesen sein mußte, um sie einer solchen Erniedrigung preisgeben zu können. In jener Stunde selbst waren Groll und Empörung und Verlangen nach Rache die vorherrschenden Gefühle in ihr – brennendes Verlangen nach einem Mittel, ihn zu zwingen, daß er sein verpfändetes Wort einlöse und sie als sein Weib anerkenne.

Seine Mutter besaß nicht die Macht dazu und in welche Stellung würde sie selbst ihr gegenüber geraten? Hatte Sir Wilfrid ihr nicht gesagt, wie dieselbe sie abfertigen würde? Sie war seine Gattin – nur zum Schein: sie war eine Frau, die ihre Ehre verloren hatte – nicht in Wirklichkeit, aber vor der Welt – das Opfer eines Betrugs! Ein Geschöpf, das man bemitleidet oder bespöttelt, dessen Recht niemand anerkennt.

Und selbst wenn Zureden und Vorwürfe der Seinigen ihn vermöchten, sie anzuerkennen, wie würde ihre Zukunft sich gestalten? Er hatte gedroht, sie von ihrer armen Mutter zu trennen, die ganz von ihrer Fürsorge abhängig war. Würde sie auch nur Ruhe finden können, fern von dem armen Wesen, das zu beschützen ihre Pflicht war? Dann tauchte die andre Seite der Sache vor ihr auf. Niemand als sie und er wußte um ihr Unglück: wenn durch ein Bekanntmachen seiner Schuld nichts zu erreichen war, so konnte sie sich durch Schweigen wenigstens vor öffentlicher Schande bewahren; um ihrer Mutter, um des guten Namens ihres Vaters willen, mußte sie es thun. Wenn Wilfrid das Verbrechen, eine neue Ehe einzugehen, auch wirklich beging, so ward sie dadurch nicht tiefer erniedrigt. Sie war sein Weib, und solange er lebte, konnte sie keinem andern angehören. Und am Ende hatte er doch nur den Versuch gemacht, wieweit er mit ihr gehen konnte. Sie glaubte nicht, daß er schon verlobt sein konnte, die Zeit war ja zu kurz – er hatte es nur gesagt, um ihr klar zu zeigen, welch ein Abgrund zwischen ihnen liege. Wenn sie aber geduldig und klaglos weiter lebte und still ihren Pflichten nachging, so würde ihn das vielleicht erweichen. Sie wußte ja, daß sie wenig zur Herrin von Lambscote taugte – sicherlich nicht, aber ebenso sicher war, daß er nicht so auf einmal aller Liebe und Treue vergessen konnte, die sie aneinander band. Und während Hanna überlegte und dachte, traten wie eine Vision all ihre verstohlenen Begegnungen und Küsse, alle heimlichen Zettelchen und alle die seligen Wanderungen im Mondschein durch den stillen Garten vor ihre Seele – konnte er das alles vergessen? Es lag ein wunderbarer Trost in dieser Frage – die Natur selbst schien ihr zuzurufen, daß es unmöglich sei. Wenn die erste Trunkenheit der neuen Pracht und Macht verrauscht war, mußte er es dann nicht bereuen? Hatte er es nicht schon bereut, ehe er fortgegangen war? Nein! nein! Es war entsetzlich genug, daß er es auszusprechen vermocht hatte, es auszuführen war er nimmermehr im stande.

Mehr als eine Stunde hatte sie so in tiefem Nachdenken gesessen, als lebhaftes Stimmengewirr von unten sie aufschreckte. Selten haben wir die schwersten Prüfungen unsres Lebens allein zu tragen – andre an und für sich untergeordnete Sorgen gesellen sich dazu und halten uns wenigstens ab, unablässig an das zu denken, was unser Herz brechen würde. Als Hanna die Treppe hinuntereilte, fand sie ihre Mutter in größter Aufregung. Dieselbe hatte unter Aufsicht des Dienstmädchens die Kirche besucht und dort, als es ihr warm wurde, plötzlich Hut und Häubchen abgenommen. Sarah hatte sie darüber zur Rede gestellt, was die gute kleine Dame in ihrer eignen Würde und der des stündlich erwarteten Lieutenants tief verletzte. Es gelang Hanna bald, sie zu beruhigen, aber Mrs. Warner hatte sich eine ernstliche Erkältung zugezogen, deren Folge ein Anfall von Kopfgicht war. Wochenlang mußte sie das Bett hüten und Hanna konnte keinen Augenblick von dem Krankenzimmer abkommen, schon deshalb nicht, weil sie nur, solange die Tochter da war, die Flanellbinde um den Kopf duldete, deren Unkleidsamkeit sie wegen der Heimkehr ihres Gatten sehr beängstigte. Und Hanna war unermüdlich in Sorge und Pflege, so unermüdlich, daß der Arzt, welcher Mrs. Warner behandelte, ihr riet, sich etwas mehr Luft und Bewegung zu gönnen.

»Ihre Mutter ist außer Gefahr; das Leiden ist nur schmerzhaft und langwierig, aber Sie dürfen Ihre Gesundheit nicht riskieren, Miß Warner. Sie sehen alles eher als wohl aus – Ihr Aussehen behagt mir in der That gar nicht. Wollen Sie mir ein paar Fragen gestatten?«

Hanna befand sich in peinlichster Verlegenheit und sah ihn so erschrocken und ängstlich an wie ein gescheuchtes Wild. Sie wußte, daß sie nicht wohl war; die Wochen, die sie an ihrer Mutter Bett gefesselt gewesen, ohne irgend eine Kunde von Sir Wilfrid, waren ihr nur zu fühlbar, aber sie wollte keine ärztliche Behandlung. Für ihr Leiden hatte die Apotheke keine Mittel.

»Sie täuschen sich, Mr. Willet,« versicherte sie, »ich bin an viel Bewegung gewöhnt und die eingeschlossene Luft im Krankenzimmer macht mir Kopfweh. Das ist alles. Heute nachmittag, wenn Mama schläft, will ich einen langen Spaziergang machen, dann werde ich wieder frisch und munter sein.«

»Ich zweifle, ob das wirklich Ihr ganzes Leiden ist, mein Fräulein. Aber zwingen kann ich Sie zu nichts. Machen Sie diese Spaziergänge regelmäßig, sonst bekomme ich zwei Patienten.«

Der Rat war ihr hochwillkommen, denn er kam ihrem glühenden Verlangen nach Nachricht von ihrem Gatten zu Hilfe. In den langen, einförmigen Wochen der Krankheit hatte sie Zeit zum Nachdenken gehabt und hatte sich gesagt, daß sie noch einmal an sein Ehrgefühl appellieren müsse. Vielleicht hatte ihr Schweigen ihn auf den Glauben gebracht, sie habe sich demütig in ihr Schicksal ergeben – darüber mußte er aufgeklärt werden. Eine Angst lag auf ihrem Herzen, die sie früher nie gekannt hatte, und es war nicht mehr als billig, daß er ihre Sorgen teilte und ihr beistand. Nachdem sie folgenden Tages ihre Mutter im Lehnstuhl sorglich eingehüllt und die entstellende Kopfbinde sicher befestigt hatte, verließ sie leise das Haus und schlug den Weg nach dem Westend ein. Mit zu Boden gesenkten Augen schritt sie eilends dahin, unbekümmert um das geschäftige Jagen und Treiben um sie her; unvorsichtig drängte sie sich an den Straßenkreuzungen zwischen den Wagen hindurch, sie wollte ja nur rasch, rasch seine Wohnung erreichen und hören, was er ihr jetzt antworten würde. Auf diesen einen Wurf hatte sie all ihre Hoffnungen gesetzt, wenn dies fehlschlug, war alles verloren. Sie hatte Charing Croß erreicht und ihr Herz begann noch heftiger zu schlagen, als sie plötzlich ihren Namen rufen hörte und aufblickend Rosie Ewell gewahrte, die unter der Thür von Waterloohouse, dem großen Kleidergeschäft, stand.

»Miß Warner,« rief sie, »sind Sie's wirklich? Wie geht es Ihnen und wie geht es Ihrer Mutter? Ich habe Mama gebeten, mich heute nachmittag nach Chelsea zu bringen, um Sie zu besuchen, aber sie hat so viel zu thun mit unsern Herbstsachen.«

»Ist Ihre Frau Mutter auch hier?« fragte Hanna schüchtern.

»Ja, sie ist drinnen im Laden und kauft Herbstkleider! Wilfrid ist so gut und equipiert uns alle. Aber wie blaß Sie sind?«

»Meine Mutter ist sehr krank gewesen, Miß Ewell.«

»Und Sie selbst sehen auch krank aus,« fuhr Rosie teilnehmend fort. »Ich sagte ja zu Wilfrid, daß es irgend einen Grund haben müsse, daß Sie gestern nicht da waren. Es war ein entzückender Anblick.«

»Ist Sir Wilfrid in seiner bisherigen Wohnung, Miß Ewell?«

»Ach nein, keine Rede! Jetzt ist er wahrscheinlich in Paris.«

»In Paris – nicht in London?« stammelte Hanna.

»Natürlich nicht! Eine Hochzeitsreise macht doch jedermann. Ach wären Sie doch gestern in der Kirche gewesen, Miß Warner! Ich begreife nicht, das Sir Wilfrid Sie nicht ausdrücklich eingeladen hat. Miß St. Blase sah entzückend aus – sie ist ja immer hübsch, aber in ihrer Hochzeitstoilette war sie wie eine Königin. Meine Schwestern und ich waren Brautfräulein – alle in Meergrün mit Maiblumen, das sind Wilfrids Lieblingsblumen. Und er schenkte uns himmlische Armbänder, emailliert, mit ›Lena‹ darauf, hier, sehen Sie,« schloß sie, Hanna ihr zierliches Handgelenk zeigend.

»Sie sagen – daß – Sir Wilfrids – Hochzeit – gestern war?« brachte diese langsam und mit Anstrengung heraus.

»Ja, mit Miß St. Blase. Ich dachte, Sie wüßten es schon, in der Zeitung wird es wohl morgen stehen. Doch da ruft Mama! Wollen Sie nicht hereinkommen? Ich möchte Sie so gern vorstellen!«

»Nein – nein,« stotterte Hanna. »Ich habe keine Zeit, guten Tag,« und sie wandte sich zu gehen.

»Leben Sie wohl!« rief Rosie. »Ich werde Sie bald besuchen, wenn Mama es erlaubt, und Ihnen alles ausführlich erzählen. Leben Sie wohl!« und mit freundlichem Kopfnicken verschwand sie in dem Laden.

Ein paar Schritte schwankte Hanna noch weiter, dann griff sie mit den Händen in die Luft – ein Schrei – und bewußtlos lag sie auf dem Pflaster. Sofort bildete sich ein Kreis von Neugierigen um sie her; ein Schutzmann schob dieselben zur Seite und trug das hilflose Mädchen in die nächste Apotheke, wo sie nach kurzer Zeit die Augen wieder aufschlug und befremdet um sich blickte.

»Es hat nichts zu bedeuten! Lassen Sie mich fort!« waren ihre ersten Worte.

»Sie müssen einen Wagen nehmen, Fräulein. So können Sie nicht gehen,« sagte der Schutzmann. »Ihre Adresse?«

Was während dieser Fahrt in ihr vorging, weiß nur sie und der Himmel. Aber als sie wieder an ihrer Mutter Bett trat, war sie äußerlich die alte, unverändert pflichttreue Hanna Warner.


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