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Sechzehntes Kapitel

Finden und Meiden

Sir Wilfrid Ewell hatte sich über die Tragweite der Hanna abgerungenen Zusage etwas getäuscht. Sie hielt Wort; sie verließ das Haus nicht mehr, wenn er seinen Besuch ankündigte, aber sie ließ sich durch denselben auch in keiner häuslichen Thätigkeit stören, und allein traf er sie nie. Ein Händeschütteln, ein ruhiges Lächeln in Gegenwart der ganzen Familie war alles, was er erlangen konnte von ihr, die einst sein eigen gewesen war.

Er kam viel öfter als bisher, immer in der stillen Hoffnung, ihrer doch einmal habhaft zu werden, was jedoch nie der Fall war. Das versetzte ihn nach und nach in Verzweiflung. Er fürchtete, daß dies fortdauernde Vermeiden andre Gründe haben könnte, und wurde eifersüchtig auf Mr. Cobble. Er war ja außerordentlich berechtigt dazu.

Ohne Zweifel verschönte Mr. Cobbles Liebe das ganze Häuschen. Auf dem Eßtisch – am Fenster – auf dem Bücherbrett, überall Früchte, Blumen, Zeitschriften und Bücher, die Mr. Cobble gesandt hatte. Der arme Mann war seit Jahren in Hanna verliebt und fing an zu denken, daß es nun an der Zeit wäre, sie zu erringen. Er verfolgte sie mit Briefen, Geschenken und Serenaden: er huldigte der kleinen Nellie und benahm sich wie ein zärtlicher Sohn gegen Mrs. Warner. Alles vergebens; wie ein marmornes Götterbild thronte Hanna unter seinen Blumenspenden und gab ihm kein Zeichen, als gelegentlich eins der Ungeduld über seine Thorheit.

Jeder Mensch mit fünf Sinnen war sich darüber klar, aber Sir Wilfrids Vernunft begann in die Brüche zu gehen. Er war wütend über Cobbles Aufmerksamkeiten, und Rosie, die sich wenig träumen ließ, inwiefern ihr Bruder Grund zur Eifersucht haben konnte, amüsierte sich darüber, neckte ihn und steigerte seinen Aerger immer mehr.

Eines Abends erschien Sir Wilfrid in Chelsea mit einem Korb Rosen. Er hatte auf Hannas strenges Verbot hin nie mehr gewagt, ihr ein Geschenk zu geben, und überhäufte deshalb Rosie mit solchen, die auch den andern zu gute kamen. Die Rosen – Treibhausrosen, denn es war erst April – hatten fabelhaftes Geld gekostet und waren in der That so schön, daß er ein Lächeln von Hanna zu gewinnen hoffte – sie liebte ja die Rosen.

Er traf die beiden Freundinnen eifrig in die Lektüre eines Briefes versenkt – Hanna lächelnd, Rosie kichernd – der Inhalt war offenbar ein sehr merkwürdiger; auf dem Tisch stand ein Korb mit Rosen, die den seinigen auffallend ähnlich sahen.

»Ach, da kommt Wilfrid,« rief Rosie fröhlich. »Und, ums Himmels willen, du bringst uns doch nicht auch Rosen? Mein Gott, Hanna, was für große Damen wir sind – mit Rosen überschüttet werden im April!«

»Und von wem, wenn ich bitten darf, sind diese?« fragte Sir Wilfrid, ohne seine Verstimmung zu verbergen.

»Von wem anders als von dem armen, lieben Cobble! Hanna, du mußt ihn erhören, sonst verhungert er, denn ich bin sicher, daß er an dem Tage, an dem er solche Rosen kauft, nicht ißt. Du atmest sein Leben ein mit diesem Rosenduft,« setzte sie pathetisch hinzu.

»Wie kannst du so ein Kindskopf sein!« sagte Hanna ruhig.

Sir Wilfrid beobachtete sie, wie sie mit ihrer Näharbeit bei der Lampe saß. Sie errötete nicht bei des jungen Mädchens Neckerei, aber sie lachte auch nicht – das erschien seiner Eifersucht schon verdächtig.

»Am Ende thäte ich besser, meine bescheidene Gabe wieder zurückzunehmen,« sagte er, »da Mr. Cobble das Haus so wohl versorgt hat.«

»Da wird nichts daraus, du alter Geizhals, du,« rief Rosie. »Mr. Cobbles Rosen duften nur für Hanna, nicht für meine profane Nase. Wir lasen eben seinen Brief, Heiratsantrag Nummer siebzehn in diesem Jahre. Wo blieben wir doch stehen, Hanna?«

Aber Hanna nahm das Blatt und brachte es in Sicherheit.

»Nein, Rosie, laß das! Du magst es ja lesen, aber sich öffentlich darüber lustig machen, wäre unrecht.«

»Ach, Wilfrid ist doch kein Fremder.«

»Miß Warner,« fiel Sir Wilfrid mit besondrer Betonung ein, »hat vielleicht im Sinn, den Antrag anzunehmen; in dem Fall freilich –«

»Miß Warner,« wiederholte Hanna ebenso nachdrücklich und ihn ruhig ansehend, »kennt keinen Grund, warum sie in dieser Sache nicht so handeln dürfte, wie es ihr gefällt, Sir Wilfrid.«

Einen Augenblick darauf stand sie auf und verließ ruhig das Zimmer. Sir Wilfrid summte eine Melodie vor sich hin, um zu zeigen, daß er sich ganz behaglich fühle, während Rosie ihr betrübt nachsah.

»Wenn du nur das nicht gesagt hattest, Wilfrid; nun ist aus dem harmlosen Scherz eine Verstimmung entstanden. Hanna hat nie etwas dagegen, wenn ich über Mr. Cobble lache; wir würden lachen, auch wenn sie ihn morgen heiraten wollte, aber du –«

»Glaubst du, daß sie ihn heiratet?« fragte ihr Bruder mit angenommener Gleichgültigkeit.

»Ich sehe nicht ein, weshalb nicht. Jedenfalls hat er die Eigenschaft, die dazu nötig ist – er hat sie sehr lieb.«

»Und sie ihn?«

»Ich glaube nicht; ich meine, daß sie in dem Sinne gar niemand lieb hat.«

»Ich möchte ihr einen Besseren wünschen, als diesen blödsinnigen Kerl,« sagte Sir Wilfrid, vor Wut knirschend.

»Aber, Wilfrid, was hast du nur? Und wie elend du aussiehst! Quält dich etwas?«

»Ob mich etwas quält!« sagte er, sein Gesicht in den Händen begrabend. »Dies ganze Leben ist eine Qual; getrennt von meinem Weibe, ohne einen Menschen, an den ich mich halten kann!«

»Du hast Hanna und mich,« sagte die Schwester sanft.

»Ich weiß nicht, ob mich das Hiersein nicht noch elender macht. Du siehst, wie sie mich behandelt. Und sie hat recht, ganz recht, bei dem Leben, das ich führe!«

»Was für ein Leben führst du denn, Wilfrid?«

»Eins, von dem ich dir nicht sprechen darf; dann weißt du, daß es kein gutes ist. Aber was soll ich machen? Ich bin wie ein Boot ohne Steuer. Wenn Dorsay nicht wäre, würd' ich wahnsinnig.«

Rosie wechselte die Farbe.

»Wenn wer nicht wäre?« fragte sie.

»Dorsay. Erinnerst du dich nicht, Jack Dorsay, ein alter Verehrer von Lena; brünett, hübsch? Er war in Lambscote, als du da warst.«

»O ja, ich erinnere mich deutlich.«

»Er ist mein guter Kamerad geworden. Ich war im Anfang eifersüchtig auf ihn, aber ich weiß jetzt, daß er klüger ist. Er hat Lena bald durchschaut und verkehrt gar nicht mehr in Onslow Gardens.«

»Um so besser,« versetzte das junge Mädchen gelassen.

»Versteht sich. Nach dem, wie sie mich behandelt hat, könnte er nicht wohl mit uns beiden befreundet sein.«

»Bist du ganz sicher, daß er dir ein wahrer Freund ist, lieber Bruder? Du pflegtest doch früher nicht zu spielen und zu wetten.«

»Wie könnte ich es ohne Zerstreuung aushalten? Das verstehst du nicht, Kind! Ich habe es in letzter Zeit freilich ein bißchen bunt getrieben; Dorsays Freunde spielen verflucht hoch – im Anfang hatte ich fabelhaftes Glück, jetzt hat sich's gewendet. Letzte Nacht verlor ich tausend Pfund!«

»Tausend Pfund!« rief Rosie erschrocken. »Das ist ja ein Vermögen!«

Sie, die nun seit zwei Jahren Tag für Tag angestrengt arbeitete, um ihre einfachen Bedürfnisse zu befriedigen, durfte wohl erschrecken, daß ein Mensch tausend Pfund in müßigem Spiel verlieren konnte.

»So mach doch kein Aufheben davon,« sagte er ärgerlich, wie der Mensch zu sein pflegt, wenn er im Unrecht ist. »Was liegt mir am Gelde? Ohne Lena hat es mir keinen Wert; was ich brauche, das will nicht viel heißen.«

»Und Lambscote, Wilfrid? Soll das Gut zu Grunde gehen, weil ein herzloses Weib es dort langweilig findet?«

»Lambscote soll der Teufel holen,« rief er wütend. »Ich habe Parfitt bereits gesagt, daß er es vermieten soll. Meinst du, ich wolle in dem Loch versauern?«

»Hat dir Kapitän Dorsay auch dazu geraten?« fragte Rosie sanft, aber sehr ernst, denn sie hatte nun die Gefahr erkannt, in der er schwebte.

»Nein. Warum vermutest du das?« »Weil ich nicht glauben kann, daß ein Mann, der dich zum Trinken und Spielen und Wetten verleitet, ein ehrlicher Freund ist, und weil ich dich noch nie in diesem entsetzlichen Tone sprechen hörte, der mich ganz elend macht.«

»Nur keine Thränen, Schwesterlein. Mein Leben ist nun einmal verpfuscht; je bälder die Geschichte vorüber ist, desto besser.«

»O, ich weiß nicht, wie ich zu dir sprechen soll,« schluchzte Rosie. »O, wäre doch Hanna da – sie wüßte das rechte Wort.«

»Nur keine Predigt von Hanna!« rief er in peinlicher Erregung.

Aber Rosie wiederholte ihrer Freundin Wort für Wort, was Wilfrid gesagt hatte, und Hanna kämpfte lange mit ihrem Stolze und beschloß endlich doch, selbst mit ihm darüber zu sprechen.

Am folgenden Sonntag erschien er, als die ganze Familie im Garten war. Seine Schwester und Miß Prosser hatten schon die Hüte auf, um in die Kirche zu gehen, und Rosie forderte ihn lachend auf, sie zu begleiten. Er murmelte etwas zwischen den Zähnen und streckte sich behaglich ins Gras, wo die kleine Nellie, mit der er inzwischen große Freundschaft geschlossen hatte, sogleich herbeitrippelte und ihn mit Gänseblumen zu schmücken begann. Hanna saß ganz in der Nähe auf einer Bank. Mrs. Warner, die neben ihr saß, war ein wenig eingenickt.

Sir Wilfrid ging willig auf Nellies Wünsche ein und sagte nachdenklich: »Sie ist wirklich das reizendste kleine Ding, das ich je gesehen. Mir ist's ein großer Kummer gewesen, daß ich kein Kind habe.«

»Du hast keins?«

»So wenig interessiert dich mein Leben, daß du das nicht weißt?«

»Rosie hat es nie erwähnt,« sagte Hanna, die Blicke senkend.

»Nein, ich habe keins,« fuhr er seufzend fort, »und würde die Hälfte meines Besitzes dafür geben. Es wäre dann vieles anders – ein Kind ist ein heilig Band zwischen Mann und Frau.«

»Ja,« versetzte Hanna Warner, sich auf die Lippen beißend.

»Ich bin nun einmal nicht zum Glück geboren. Wenn Nellie mein wäre – so ein Kind könnte ich vergöttern, wenn es mir gehörte.«

Hanna fand wieder keine Antwort auf seine Bemerkung.

»Willst du sie mir verkaufen, Hanna?« fragte er lächelnd.

»Das würde wenig an der Sache ändern. Ich denke nicht, daß die jetzigen Beziehungen zu – zu – Lady Ewell immer dauern werden. Du solltest alles aufbieten, dieselben zu ändern. Ich will ja nicht bezweifeln, daß sie unrecht gethan, aber ihr Gatte sollte ihr zeigen, was das Rechte ist, und sie, wenn möglich, zwingen, es zu thun.«

»Wie würdest du mir raten zu handeln?« fragte er ernst.

»Eine Versöhnung anzubahnen mit Lady Ewell, sie nach Lambscote zurückzunehmen und sie so glücklich zu machen, als es in deiner Macht liegt.«

»Und das rätst du mir?« sagte er staunend.

»Ja – ich. Ich habe dich beobachtet mit eignen Augen und auch mancherlei gehört, und weiß, daß dein jetziges Leben dein Ruin ist. Es liegt so wenig in deiner Natur, als es verhängnisvoll für dieselbe ist, und deshalb bitte ich dich, zu Lady Ewell zurückzukehren. Solch ein Ungeheuer kann sie nicht sein, dich von sich zu stoßen; vielleicht macht eine ernste Verständigung alles gut, und du wirst gewiß glücklicher dabei sein.«

»Und – und dich soll ich aufgeben?« flüsterte er.

»Mich hast du vor drei Jahren aufgegeben,« sagte sie.

Sie blickte um sich, verlegen um ein weniger verfängliches Thema, und gewahrte, daß Nellie sich während ihres ernsten Gesprächs entfernt hatte.

»O, das Fräulein hat französischen Abschied genommen,« sagte sie aufstehend. »Da muß ich nachsehen, sonst reißt mir der kleine Grasaffe alle Blumen ab.«

Heiter lächelnd ging sie um die Beete herum und rief Nellie.

»Sie wird wohl ins Haus gegangen sein,« sagte sie dann zu Sir Wilfrid, der noch im Grase lag, und eilte hinein. Er sah ihr nach, sah wie sie im Hausflur mit dem Dienstmädchen sprach und dann hastig nach der Gartenthür lief. Er schloß daraus, daß etwas nicht in Ordnung sein müsse, und folgte ihr rasch. Auf den ersten Blick sah er Nellie in ihrem weißen Kleidchen, mitten in der Straße, mitten im Wagengedränge, und Hanna, die ihr nachstürzen wollte, gebieterisch am Arm zurückhaltend und ihr zurufend: »Bleib, ich hole das Kind!« flog er selbst der Kleinen nach und ergriff sie am Röckchen unmittelbar vor einem im Trab dahersausenden Wagen. Es gelang dem Kutscher, das Pferd zurückzureißen, aber erst nachdem dasselbe Sir Wilfrid zu Boden geworfen und ihm mit einem der vorderen Hufe einen Tritt in die Hüfte versetzt hatte.

Nellie war in Sicherheit. Er erhob sich mit einiger Anstrengung, winkte dem Kutscher, ihm zu folgen, und legte das Kind unversehrt in Hannas Arme. Sie verschwand mit demselben im Hause und Sir Wilfrid gab dem Manne ein Trinkgeld für seinen Beistand.

»Wahrhaftig, Herr,« sagte der Kutscher, als er sich bedankte, »hätte nicht gedacht, daß das Kind noch gerettet werden könnte. Hoffentlich hat der Gaul Ihnen nicht zu viel entzwei gebrochen: ein gehöriger Tritt war's schon.«

»Hat nichts zu sagen!« sagte Sir Wilfrid, mit vom Schmerz verzerrten Zügen. »Adieu, Kutscher.«

Er hinkte mühsam ins Haus zurück. Die Thür des Wohnzimmers stand offen und er hörte Hannas leidenschaftliches Schluchzen. Wie konnte Hanna, die immer so ruhig, so gefaßt war, nun, nachdem alle Gefahr vorüber, noch in solches Weinen ausbrechen, fragte er sich und eilte hinein, um sie zu beruhigen. Aber was er sah und hörte, ließ ihn an der Thürschwelle wie gebannt stehen bleiben.

Hanna Warner saß in einem Lehnstuhl und wiegte das Kind in ihren Armen, während ihre Thränen unaufhaltsam auf die blonden Locken strömten.

»O, mein Herzblatt! Mein Goldkind! Mein Liebling!« schluchzte sie. »Was wäre aus mir geworden ohne dich! Mein Herzenskind! Mein süßes Leben! Mein einziger Trost! Was hätte deine arme, arme Mutter gethan ohne dich!«

Aus jedem Ton und jedem Blick sprach die Mutter – ein Zweifel war unmöglich. Und auf der Schwelle stand Sir Wilfrid und sah, was er nicht einmal geahnt hatte, und die Gedanken, die sich daran knüpften, ließen ihn erbeben. Und doch – heute wollte er nicht forschen: Hanna war außer sich; der Schrecken hatte ihr das Gleichgewicht ihrer Seele völlig geraubt. Vor allem schloß er daher die Thür, um Zeugen ihrer Aufregung fern zu halten – dann trat er zu ihr und berührte ihre Schulter.

»Hanna,« sagte er weich, »besinne dich, wo du bist, und fasse dich, Karoline hört jedes Wort.«

Sie ergriff seine Hand und hielt sie krampfhaft fest.

»O, Wilfrid! Mein Gatte! Hat sie wirklich keinen Schaden gelitten?«

»Gewiß nicht: sieh sie doch nur an. Sie hat nicht einmal eine Schramme! Nur das blaue Band ist übel weggekommen,« antwortete er, seiner eignen Verletzungen nicht gedenkend. »Nun suche dich zu beruhigen – du erschreckst ja das Kind.« »Erschreck' ich dich, mein Herzenskind?« rief sie plötzlich, das Kind fester umfassend.

»Nellie müde, Nellie slafen,« sagte die Kleine kläglich.

»Ja, Hanna,« sagte Sir Wilfrid, froh ob dieses Vorschlags, »sie soll auch schlafen. Nimm sie hinauf und legt euch beide hin – ihr habt es nötig.« Und er beugte sich herab und küßte sie auf die Stirn.

Es war der erste Kuß, den er ihr seit ihrer Trennung zu geben wagte, und er schien sie zu durchbeben und sie in die Wirklichkeit zurückzurufen. Sie schauderte und ihre Augenlider senkten sich tief herab.

»Ja, du hast recht; ich will sie hinauftragen,«

Sie stand auf und schritt schwankend der Thür zu.

»Laß mich das Kind tragen,« sagte Sir Wilfrid.

»Nein – nein!« rief sie, Nellie angstvoll an sich pressend, »ich bin stark genug. Ach – und – ich habe dir noch nicht gedankt, daß du sie gerettet hast in dem entsetzlichen Augenblick – o werd' ich das je vergessen?«

»Du bist mir keinen Dank schuldig, Hanna,« sagte er; dann schlang er den Arm um sie und stützte sie, bis sie ihr Zimmer erreicht hatte.

Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo er sich auf das Sofa warf und sich einer Ohnmacht nahe fühlte vor Schmerzen. Glücklicherweise war nicht das ganze Haus so teilnahmslos für seine Leiden, wie Hanna. Karoline war in Ekstase über seine Heldenthat, und dieselbe ward nicht verkleinert, als sie der von der Kirche heimkehrenden Rosie und Miß Prosser darüber berichtete. Die erstere war natürlich sehr besorgt wegen ihres Bruders Quetschungen, die wirklich nicht unbedeutend waren, und beschwor ihn, doch ungesäumt heimzufahren und sich zu pflegen.

Er zögerte; es war ihm, als könnte er Chelsea nicht verlassen, ehe er sich mit Hanna verständigt hätte. Dann dachte er an sie, und daß sie der Schonung bedürfe, und beschloß, ihr bis morgen Ruhe zu gönnen. Aber ehe er das Haus verließ, schrieb er ein paar herzliche Zeilen an Hanna und sagte ihr, daß er morgen etwas Wichtiges mit ihr besprechen müsse.

Sein Brief war ihr völlig unverständlich – es war ein seltsamer Ton darin; er hatte doch bis jetzt nie gewagt, etwas mit solcher Bestimmtheit von ihr zu verlangen. Sie hatte keine Ahnung, daß Sir Wilfrid sie belauscht, als sie sich allein geglaubt hatte, und war sich überhaupt dessen nicht bewußt, was sie in jenen furchtbaren Augenblicken gethan und gesprochen hatte. Um so unerwarteter trafen sie seine Fragen.

Er hatte nicht angegeben, wann er kommen würde, und Hanna setzte voraus, daß es zur gewohnten Nachmittagsstunde geschehen werde; statt dessen kam er früh morgens und fand sie noch im Morgenkleide mit lose herabhängenden Haaren. Sie lehnte müde in einem Stuhl, denn sie hatte in der Nacht wieder rasende Kopfschmerzen gehabt; das Kind spielte zu ihren Füßen, Mrs. Warner staubte ihre Reliquien ab. Hanna war erstaunt, ihn so früh zu sehen und klagte sich der Undankbarkeit an, daß sie gestern so wenig Notiz von seinem Leiden genommen: er hinkte noch, stellte die Sache aber als ganz unwesentlich dar.

Neben ihr sitzend, sah er sie forschend an; er hatte wissen mögen, ob sie ahnte, worüber er sprechen wollte. Wenn dem so war, verriet sie es jedenfalls durch nichts. Sie war sehr blaß und man sah, daß sie viel gelitten hatte; das dünne Kattunkleid verriet ihm auch zum erstenmal, wie mager sie geworden.

»Leidest du sehr?« fragte er, ihr nervöses Zucken gewahrend.

»O, nur meine gewöhnlichen Kopfschmerzen; wenn ich gewußt hätte, daß du jetzt kommst, würde ich mich angekleidet haben.«

»Ich war zu ungeduldig, um bis nachmittags zu warten. Ueberdies wußte ich, daß Miß Prosser und Rosie um diese Zeit nicht zu Hause sind. Bitte, Hanna, schick deine Mutter und das Kind weg!«

»Das Kind?«

»Jawohl, Miß Nellie fängt an, unheimlich klug zu werden, und ich möchte ihr keine Geheimnisse preisgeben.«

Hanna klingelte dem Dienstmädchen und hieß sie, das alte und das junge Kind mit sich in die Küche nehmen. Dann waren sie allein – zum erstenmal wirklich allein, seit er sie verlassen hatte.

»Was kannst du mir nur zu sagen haben?« begann sie.

»Nur dies. Als ich Nellie zuerst sah, fragte ich, wessen Kind sie sei, und du sagtest, du wissest es nicht. War das die Wahrheit?«

Trotzdem sie sich wie in einer Falle gefangen fühlte, wehrte sie sich ritterlich und machte noch einen Versuch, sich zu befreien.

»Ich sagte dir, daß sie in den Garten gelegt worden sei, und daß wir sie in dem Lilienbeet gefunden hätten – wir – das heißt, Mama fand sie und hatte keine Ahnung, wem sie gehörte – das ist wahr.«

»Was deine Mutter weiß oder nicht weiß, will ich nicht hören. Ich will von dir hören, ob du weißt, wer Nellies Eltern sind. Was ich an dir vor allem bewundert habe, war deine Wahrhaftigkeit, deine Seele schien mir wie ein krystallheller See, unfähig der Lüge. Sag mir die Wahrheit – ich beschwöre dich. Ist sie dein Kind?«

»Ja,« sprach sie leise, »wenn du es denn erfahren mußt. – Aber es weiß niemand darum, höchstens vermutet Miß Prosser es.«

»Hanna – willst du mir damit sagen, daß sie unser Kind ist?«

»Die Frage hättest du mir ersparen können, Will.«

»Vergib mir – ich wußte es wohl. Aber weshalb hast du mir das nicht früher gesagt? Es hätte ja unser beider Leben anders gestaltet, denn für so schlecht wirst du mich doch nicht halten, daß ich dich diese Last hatte allein tragen lassen? Mein armes Weib!«

»Ich wußte es selbst nicht, Will, bis nach – nachdem es zu spät war. Es blieb mir nichts übrig, als es zu verheimlichen; ich ging nach Wales zu einer alten Tante von meinem Vater, die mir wie eine Mutter war. Sonst hätte ich's nicht überlebt – ich war sehr krank; aber der Gedanke an meine Mutter und an mein Kind hielt mich aufrecht. Nenn es nicht eine Last – es ist mir zum Segen geworden – es war der Engel, den Gott mir sandte, mein Herz vor dem Brechen zu bewahren.«

»Süße, kleine Nellie,« sagte er sinnend, »mein Kind! Das war doch ein Instinkt, der in meinem Herzen sprach, denn nie war mir ein Kind so lieb – und nun erst – da sie mein eigen!«

Ein plötzlicher Schrecken schien sich der Mutter zu bemächtigen; sie stand auf und starrte ihn an, wie ein Tier, das sich zur Wehr setzt.

»Willst du mir sie nehmen?« rief sie wild.

»Nein, nein,« versicherte er sie, »du brauchst keine Angst zu haben. Wie kannst du so niedrig von mir denken? Hat dir die eine schlechte Handlung den Glauben an mich so völlig genommen? Uebrigens, selbst wenn ich es wollte, rechtlich könnte ich es nicht.«

»Du kannst sie mir nicht nehmen, nicht gesetzlich?«

»Nein, Rechtlich habe ich keinen Anspruch, weder auf dich noch auf sie. Ich kurzsichtiger Thor habe das Band ja eigenhändig zerschnitten.«

»Gott sei Dank!« kam es aus Hannas tiefstem Herzen.

»Die beiden Worte enthalten den bittersten Vorwurf, den du mir je machen konntest.«

»Es war nicht so gemeint, Will, aber dies Kind ist meine ganze Welt – kann dich's wundern, daß ich es festhalten will?«

»Nein, doch wirst du mir mein Anrecht als Vater nicht länger vorenthalten, Hanna.«

»Was meinst du damit? Du willst doch nicht, daß ich es vor der Welt bekenne? Hab' ich nicht genug ertragen, soll ich auch noch Schande und Entehrung in den Augen der Welt auf mich nehmen?«

»Der Himmel bewahre dich! Im Gegenteil – ich wäre ja der erste, deinen Namen zu schützen. Aber ich kann es nicht zulassen, daß du so fortlebst und dich aufreibst mit Arbeit und Sorge – das Kind wird älter und die Kosten nehmen zu; ich habe ein Recht für seine Erziehung zu sorgen.«

»Das ist unmöglich, Will. Die bloße Thatsache, daß du etwas für das Kind thust, müßte Verdacht erwecken. Es soll ein Findelkind bleiben für alle – ich weise für jetzt und immer jede Hilfe von deiner Seite zurück.«

»Nun spricht dein Stolz, Hanna, und nicht dein Herz,« erwiderte Sir Wilfrid, »und wenn du dir's ruhig überlegst, so wirst du einsehen, wie ganz unrecht gegen das Kind dein Entschluß ist. Soll Nellie heranwachsen, notdürftig erzogen, notdürftig gekleidet, während ich bereit bin, ihr lebenslänglich eine jährliche Summe auszusetzen? Glaubst du, daß sie dir das danken wird in späteren Tagen? Wenn sie einmal vor dich hintritt und dich nach Vater und Mutter fragt, willst du sie dann mit der Fabel abspeisen, die du andern erzählst? Und wenn sie eine stolze, energische Natur ist – wie du, Hanna – und des Rätsels Lösung selbst zu finden sich vornimmt, wird sie dir dann dankbar sein, wenn sie hört, was sie verloren hat? Nein, Hanna, du mußt die Sache in anderm Lichte sehen. Nellie ist mein einziges Kind, und wird es voraussichtlich bleiben; entziehe sie mir nicht mehr als nötig. Laß mir den armseligen Trost, für dich und sie äußerlich zu sorgen.«

Hanna hatte sich erhoben. Sie war entschlossen, ihm die Wahrheit, die ganze Wahrheit zu sagen, aber ihr Herz pochte so sehr, daß sie zu ersticken glaubte. Sie preßte die eine Hand fest darauf, mit der andern stützte sie sich auf die Stuhllehne.

»Nein!« wiederholte sie fest, »nein! Ich habe das alles bedacht und ich antworte dir – nein! Weder ich noch das Kind werden Geld aus deiner Hand annehmen, denn du würdest uns als Geschenk bieten, was unser ist nach Fug und Recht!«

Er war betroffen und wollte sprechen.

»Höre mich an, Will, und antworte mir dann. Nach zwei Jahren des Schweigens und vollständigen Getrenntseins suchtest du mich auf und batest, mein Haus als Freund betreten zu dürfen. Ich gewährte es dir – nicht, weil es mir wünschenswert war, sondern weil ich es zur Wahrung meines Geheimnisses für unerläßlich hielt – mein Widerstreben hätte Verdacht erregt. Als ich mich so leicht dazu bewegen ließ, dachtest du vielleicht, ich hätte aufgehört, Verzweiflung, Eifersucht, Groll zu empfinden; ich hätte vielleicht einsehen gelernt, daß das Recht auf deiner Seite war, weil du das Gesetz für dich hast, und hätte anerkannt, daß eine armselige Form dich eines heiligen Eides entbinden konnte. Dem ist nicht so! Ich habe nichts vergessen und ich habe nicht vergeben! Als du die That begingest, die allem göttlichen und menschlichen Recht zuwider läuft, da sagte ich dir, daß ich mich als dein Weib betrachte, daß keine andre es in meinen Augen je sein werde und daß ich mich als an dich gebunden betrachte, bis der Tod das Band löst. Ich denke noch so! Was das Gesetz auch sagen mag – mein Name ist Hanna Ewell, mein Haus ist Schloß Lambscote und das Vermögen, von dem du mir einen Teil anbietest, gehört mir wie dir. Deshalb will ich nichts und mein Kind soll auch nichts davon haben! Du hast mich freiwillig verlassen, ohne daß ich mit Wort oder That je meine Pflicht als deine Gattin verletzt hätte. Es hat mir das Herz gebrochen! Ich schäme mich nicht, es auszusprechen! ich habe meine Liebe zu dir nie verleugnet. Aber du siehst ja – ich habe weiter gelebt – ohne Hoffnung und mit wenig Freude, aber doch gelebt, und das eine, was mich an das Leben knüpft, ist unser Kind – deine rechtmäßige Tochter, Will! Ehe sie diesen Namen nicht führen darf, soll sie keinen haben. Und nun kommst du – du, der mir alles geraubt hat – Leben, Hoffnung, Glück – nun kommst du und bietest an, mir eine Summe auszusetzen – als ein Pflaster auf meine Wunden, einen Balsam auf meinen verletzten Stolz, eine Belohnung dafür, daß ich dir ein Kind zur Welt gebracht! Ich weise es von mir! Ich habe die Zeiten höchster Verzweiflung ohne deinen Beistand durchgemacht; ich will ohne ihn leben, bis mich der Tod gnädig befreit. Du würdest in den Augen der Welt gern die Stellung Sir Wilfrid Ewells auf Lambscote einnehmen und der beneidete Gatte der schönen Lady Ewell sein, und daneben dies alte Haus als Zuflucht haben, wenn du der großen Welt überdrüssig bist; möchtest dich sonnen in dem Lächeln deines unschuldigen Kindes und vielleicht auch noch von mir freudig begrüßt werden, was dir die angenehme Gewißheit geben würde, daß du dir nichts vorzuwerfen hast. Aber das kann nicht sein. Dein Platz ist an der Seite der Frau, die du deine Gattin nennst, und von diesem Tage an, bitte ich dich, nicht mehr hierher zu kommen. Du hast die Wahrheit entdeckt – das lasse dir genügen. Sie wird dich nicht glücklich machen, aber sie soll auch deine Selbstanklagen nicht verschärfen. Denke an uns und sage dir, daß wir zufrieden sind, wenn auch nichts sonst. Aber begnüge dich, an uns zu denken, empfangen kann ich dich in Wolsey Cottage nicht wieder.«

Dieser Beschluß überraschte Sir Wilfrid völlig – das war das, was er am wenigsten als Folge seiner Entdeckung vorausgesehen hatte.

»Aber, Hanna,« stotterte er, »was wird Rosie und –«

»Laß sie denken, was sie wollen. Weil ich einen Irrtum begangen, ist noch kein Grund da, daß ich ihn nicht wieder gut machen sollte. Deine Schwester kann dich besuchen – die andern – das ist meine Sache,«

»So weisest du mich von dir, jetzt, wo eine so namenlose Freude mir zu teil werden sollte,« sagte er traurig. »Ich kann dir nicht sagen, wie mir zu Mute ist – jedes deiner Worte war ein Pfeil, der mein Herz durchdrang. Ich weiß ja, daß ich erbärmlich gehandelt habe, daß ich ein Lügner, ein Feigling, ein Schurke bin; du kannst keine Bezeichnung finden, die mir zu streng erschiene. Eine Entschuldigung ist es nicht, daß ich in jener Zeit wahnsinnig war, trunken von Schmeichelei und Koketterie, die mich umgab, bis ich Recht und Unrecht nicht mehr unterscheiden konnte! Du weißt, was folgte. Selbst durch die sogenannten Flitterwochen verfolgten mich deine Augen und deine Stimme, wie Geister, die sich nicht bannen lassen, und Fluch ruhte auf dieser unseligen Ehe. Meine Frau hat mich nie geliebt, sie gab mir einen Stein, wenn ich um Brot bat. Wir werden nie wieder miteinanderleben, mit jedem Tage erweitert sich die Kluft. O, Hanna! Du bist meine echte, rechtmäßige Frau! Du bist das einzige Weib, das ich je geliebt habe! Komm zu mir zurück! Vergib mir mein Verbrechen an dir – lebenslange Treue soll es tilgen! Nur komm zurück zu mir, laß mich ein Herz mein eigen nennen, das mich liebt, ein Herz, an dem ich ruhen kann, ohne Furcht vor Lüge und Schande!«

»Zu dir kommen?« wiederholte sie, »zu dir kommen? – wie?«

»Als mein Weib, Geliebte!«

»Du sagtest ja, unsre Ehe sei nichtig, und ich sei nicht deine Gattin, Will! In welcher Eigenschaft würdest du mich nach Lambscote bringen?«

Sein Haupt sank auf die Brust vor ihrem forschenden Blicke.

»O, ich Unglückseliger!« stöhnte er. »Verflucht von Gott und verworfen von den Menschen! Warum mache ich diesem Dasein nicht ein Ende?«

»Will!« sagte sie sanft, »man hat ein Unrecht noch nie gut gemacht, indem man ein größeres hinzufügte. Dies Leben ist ja nicht unser einziges – es birgt ja nur einen kleinen Teil unsrer Sorgen und Freuden. Mache es dir leicht dadurch, daß du die Pflichten erfüllst, die du dir selbst geschaffen. Und wenn wir uns auch nicht wiedersehen, so gedenke dessen, daß ich die Worte, die ich eben sprach, zurücknehme und daß ich dir von Herzen vergebe. Ich werde für dich beten bis zu meinem letzten Atemzug!«

»Darf ich unser Kind nicht küssen?« fragte er mit gebrochener Stimme.

Sie ging hinaus und kehrte, Nellie auf dem Arm, zurück.

Sir Wilfrid sah beide an – die sein eigen waren und doch unwiederbringlich verloren – seine Augen waren von Thränen verdunkelt und seine Lippen bebten. Dann küßte er Mutter und Kind feierlich, wie zu einem ewigen Lebewohl, und verließ das alte, rosenumrankte Haus.


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