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Drittes Kapitel

Enttäuschung

Mrs. Ewell, die Mutter des jetzigen Barons, lebte mit ihren fünf Töchtern in Surbiton, einer andern Vorstadt Londons, wohin sie sich nach dem Tode ihres Gatten zurückgezogen hatte. Die Aufgabe, sich und ihre Töchter standesgemäß zu kleiden und zu ernähren, war keine leichte und manch sehnsüchtigen Seufzer hatte sie nach dem kleinen Einkommen ihres Sohnes ausgeschickt, stets berechnend, wieviel besser sie alle leben könnten, wenn sie gemeinschaftlichen Haushalt führten. Aber Wilfrid hatte seine Gründe gehabt, für sich zu leben. Wäre Mrs. Ewell mit ihren Töchtern an irgend einen entlegenen, kleinen Ort gezogen, wo sie ihre Hühner selbst hätten aufziehen können, so würde ihr bescheidenes Einkommen zu einer ganz behaglichen Existenz ausgereicht haben. Aber das war undenkbar; was würden die Leute sagen! Die Frau des Bischofs von den Tarantroinseln lud sie einmal jährlich zu schlechtem Sherry und altgebackenen Kuchen ein und der Dean of Humbugdan gestattete ihnen, zum Besten seiner Schule zu sticken. Das waren natürlich Dinge, um deretwillen man einen Ort nicht verlassen konnte, in dem man zur »Gesellschaft« gehörte, und Mrs. Ewell hätte einen Schrei der Entrüstung ausgestoßen, wenn jemand verlangt hätte, daß ihre Töchter ein Zimmer rein machen oder eine Mahlzeit kochen sollten, was beides höchst mangelhaft durch ein armseliges Dienstmädchen geschah.

Als nun die Kunde von der unerwarteten Wendung in den Verhältnissen des Sohnes zu ihnen drang, schienen alle Sorgen verschwunden. Mrs. Ewell war überzeugt, daß Sir Wilfrid ihr und seinen Schwestern in Lambscote eine Heimat anbieten oder ihnen doch jedenfalls eine Rente aussetzen werde, die sie aller Not enthebe. Und die Mädchen! Welche Träume von Bällen und Theatern und langen Besuchen in Somersetshire und von reichen, vornehmen Verehrern, die ihnen zu Füßen liegen würden! Die älteste der Schwestern war fünfundzwanzig, die jüngste fünfzehn Jahre alt, aber keine von ihnen hatte je etwas von Vergnügungen mitgemacht. Weder vor noch nach des Vaters Tod waren die dazu erforderlichen Mittel vorhanden gewesen, und unzählige Opfer und Entbehrungen hatten sie sich auferlegen müssen, um auch nur den Sonntagshut neu garnieren oder das Staatskleid zum viertenmal umarbeiten lassen zu können.

So hatte die Verwandlung des einzigen Bruders in einen reichen Gutsbesitzer bei ihnen fast so viel frohe Hoffnungen erregt als bei dem Glücklichen selbst und stürmisch fiel die Begrüßung bei »Sir Wilfrids« erstem Besuch aus. Als die Schwestern ihn endlich freigaben und er sich zur Mutter wenden konnte, war die Aufregung derselben so groß, daß sie nur mit erstickter Stimme ein »Gott segne dich« flüstern konnte.

Er küßte sie und setzte sich zu ihr.

»Ja,« sagte er, dem Gedanken, der auf allen Gesichtern stand, Worte gebend, »das nennt man Glück haben! Der arme Bob, er war nur zwölf Stunden krank. Er that mir erst furchtbar leid, aber man kann doch wahrhaftig nicht untröstlich sein über ein Ereignis, das einem selbst zum Segen gereicht,«

»Wahrhaftig zum Segen,« sagte die Mutter innig, »und nach der Armut, die wir seit deines Vaters Tod erlitten, kann man es kaum fassen. Lambscote muß ein herrlicher Sitz sein, nicht Wilfrid? Und Sir Robert hat es noch verschönert?«

»Er hat das Haus teilweise restauriert, aber die Natur ist so schön, daß Menschenhand nicht viel daran verschönern kann. Leider wohnt die Witwe noch zwei Monate darin!«

»O, dann werden wir es so lange gar nicht sehen?« rief Rosie, Sir Wilfrids jüngste und Lieblingsschwester.

»Nun, mein lieber Junge, es gibt eben viele Dinge, die sich nicht so rasch abwickeln lassen. Du bedarfst selbstverständlich meiner Hilfe, um dein Haus in Ordnung zu bringen, und wenn ich hier kündigen muß, so dauert es auch einige Zeit,« bemerkte Mrs. Ewell lauernd.

»Weshalb hier kündigen?« fragte der Sohn unbefangen. »Lambscote ist zu gut im stande gehalten, um eines zwölfmonatlichen Scheuerfestes zu bedürfen.«

»Bekommst du auch die Pferde und Wagen?« forschte Fanny.

»Jawohl; jegliches Eigentum, das aus den Einkünften des Gutes angeschafft wurde, geht mit demselben an mich über. Soviel ich weiß sind zehn bis zwölf Pferde im Stall.«

»O Wilfrid, darf ich reiten lernen?« rief Rosie.

»Gewiß, Kind. Mama muß dich im Herbst zu mir kommen lassen; dann will ich eine gewaltige Reiterin aus dir machen.« »Erst im Herbst?« versetzte Fanny trübselig.

Es ward allen mehr und mehr klar, daß Lambscote nicht zum Freisitz für die Familie bestimmt war, und Mrs. Ewells bemächtigte sich bei dieser Entdeckung eine gewisse Gereiztheit.

»Quäle deinen Bruder nicht, Fanny,« sagte sie scharf. »Das Gut ist sein eigen und er kann darüber verfügen, wie er will. So ganz leicht, wie du zu denken scheinst, wirst du es übrigens doch nicht finden, Wilfrid, den Haushalt ohne weibliche Leitung zu führen.«

»Wer sagt denn, daß ich das im Sinn habe?« gab er lächelnd zurück. »Lambscote soll in Bälde eine Herrin haben, sei ohne Sorge, Mama.«

Bei diesen Worten war es Mrs. Ewell, als ob sich ein gähnender Abgrund vor ihr aufthäte, von dessen Existenz sie bisher nichts geahnt hatte, und die ruhige Sicherheit, mit der er ihr diese Aussicht eröffnete, benahm ihr vollends den Atem.

»Aber doch jetzt noch nicht!« stieß sie mühsam hervor. »Du bist ja erst zweiundzwanzig Jahre alt – vor dreißig kannst du doch nicht ans Heiraten denken!«

»Meinst du Mama?«

»Mutter, ich bin überzeugt, daß Wilfrid schon verliebt ist,« rief Edith plötzlich. »Er sieht so furchtbar geheimnisvoll aus – o – und jetzt wird er rot – ganz dunkelrot, hab ich recht, Will, ist es wahr?«

»Wahr – was? daß ich verliebt bin? Nein – ganz und gar nicht. Bist du nun beruhigt?«

»Natürlich, nun wo du reich bist, werden sie sich wie die Harpyien auf dich stürzen und dich, oder vielmehr dein Geld, zu besitzen trachten,« sagte die Mutter bitter, ohne sich ihrer eignen Aehnlichkeit mit diesen mythologischen Vögeln bewußt zu werden. »Aber, Wilfrid, was du auch thust«– sei vorsichtig! Trachte danach, die Stellung und den Glanz deines Hauses zu erhöhen. Ach, und ich hoffe, daß keine Frau deine armen Schwestern ganz aus deinem Herzen verdrängen wird – deines Vaters Kinder, die nie – nie« – hier ward Mrs. Ewells Gemütsbewegung so stark, daß sie in Schluchzen ausbrach.

»Ich weiß wirklich nicht, wie du darauf kommst, mir zuzutrauen, daß ich meine Schwestern vergessen könnte,« versetzte Wilfrid verdrießlich. »Bis jetzt war ich wahrhaftig nicht in der Lage, etwas für sie zu thun. Mit meinen hundertundfünfzig Pfund hatte ich Mühe, mich allein durchzuschlagen. Aber daß ich den Mädchen zuliebe nicht heiraten soll, kannst du nicht verlangen. Sie sollen in Lambscote willkommen sein, so oft sie wollen; ich finde, gerade für sie ist es nötig, daß ich eine Frau habe – sie können unter ihrem Schutz in Gesellschaft gehen und selbst Partieen machen. Vorläufig aber, Kinder, was wollt ihr haben? Kleider, Hüte oder derlei Zeug. Sagt, was ihr braucht, und ihr sollt morgen einen Check kriegen!«

»O Wilfrid, wie reizend von dir! Mama, was sollen wir uns wünschen? Wir können alles brauchen! Ballkleider? Ja, ja, Ballkleider!« schwirrte es fünfstimmig durcheinander.

»Ballkleider, meine Lieben? Wann werdet ihr je auf einen Ball kommen?« seufzte die Mutter.

»O, in Lambscote wird es Bälle genug geben,« meinte Rosie, sich auf ihres Bruders Kniee setzend. »Nicht wahr, du gibst Bälle?«

»Vielleicht, Rosie, aber es wäre am Ende weiser, die Ballkleider nicht im voraus zu kaufen. Jedenfalls will ich euch das Geld morgen schicken, dann kauft, was ihr wollt.«

»O danke, danke!« rief der Chor und zog sich dann zu ernster Beratung dieser Lebensfrage in eine Ecke zurück.

»Und die junge Dame, welche Lady Ewell werden soll, ist wohl schon gefunden?« fragte die Mutter leise.

»Habe ich etwas derart gesagt? Du bedenkst nicht, wie wenig Gelegenheit ich seither zu einer solchen Wahl hatte.«

»Das wird sich rasch ändern, wenn du einmal in die Gesellschaft eingeführt bist. Aber vergiß meinen Rat nicht. Dein Vermögen und dein Rang berechtigen dich, deine Blicke zu einem hochgeborenen und reichen Mädchen zu erheben. Ich würde in deinem Fall fast noch größeren Wert auf eine aristokratische Verbindung als auf Geld legen. Eine solche würde auch für die Zukunft deiner Kinder wichtig sein; man wird es nicht so leicht in Vergessenheit geraten lassen, daß du ein armer Schreiber in Somersethouse gewesen bist; sorge, daß die Welt in der Vergangenheit deiner Frau nicht den leisesten Flecken entdecken kann.«

»Ich will mein möglichstes thun,« versetzte er kleinlaut.

Das waren nahezu die nämlichen Worte, jedenfalls die nämlichen Ideen, die Mr. Parfitt ihm ausgesprochen hatte, und wenn Sir Wilfrid auch noch nicht daran dachte, seinen Fehlgriff zu widerrufen, so fing er doch an, seine Heirat ernstlich als einen solchen zu betrachten.

»Kennst du Lena St. Blase?« fragte die Mutter plötzlich.

»Ja, das heißt ganz oberflächlich. Ich lernte sie vor zwei Jahren in Lambscote kennen, wo sie mit ihrer Mutter war.«

»Nun, das wäre eine Frau, wie ich sie für dich wünschte. Schön, vornehm, mit etwas eignem Vermögen; sie ist die Enkelin eines Herzogs und ihre Mutter stammt aus einer alten, tadellosen Familie.«

»Was geht das mich an?«

»Nun, du sagtest doch, du seiest zu Westerleys zu Tisch gebeten, und soviel ich weiß, sind die St. Blase dort zu Besuch. Wenn dies der Fall sein sollte, so wäre es eine herrliche Gelegenheit –«

»Von der ich keinen Gebrauch machen werde. Ich kann Miß St. Blase nicht leiden, Mutter; sie ließ mich ungemein hart abfahren damals in Lambscote und ich fand sie sehr abstoßend.«

»Damals – du warst ja noch ein Knabe, und jetzt wird sie dich nicht abfahren lassen!«

»Nicht gerade schmeichelhaft für meine Person! Ich war damals schon alt genug, sie zu – bewundern, und jedes anständigen Menschen ehrfurchtsvoll dargebrachte Bewunderung verdient Achtung.«

Er hielt es nicht für nötig, seiner Mutter anzuvertrauen, daß er Lena St. Blase mehr als bewundert hatte. Das schöne Mädchen hatte in seinem Herzen eine jener wilden, tollen Leidenschaften entzündet, wie fast jeder junge Mann sie einmal im Leben für ein Mädchen, das älter ist, als er selbst, empfindet. Sie hatte sein Selbstgefühl dann so schmerzlich verletzt, daß er nur zu froh war, sich nach Wolsey Cottage flüchten und sich von Hanna Warner verwöhnen und bedienen lassen zu können. Ja, diese Episode war der eigentliche Anlaß zu seiner Heirat gewesen. Wenn wir in dieses Lebens Kämpfen am grausamsten verwundet sind, ist das Verlangen nach Heilung und Vergessen am glühendsten.

»Ich traf Lena letzten Monat in einem Wohlthätigkeitsbazar. Sie sah bezaubernd aus und erkundigte sich aufs freundlichste nach dir,« fuhr die Mutter fort.

»Und du sagst, sie sei bei Westerleys?«

»Lady Otto sagte mir, sie werden um diese Zeit dort sein. Ich hoffe, daß du sie treffen wirst; ich wünsche es sehr.«

»Mir ist es vollständig gleichgültig,« versicherte er und verabschiedete sich dann, weil er seine neue Wohnung besehen mußte.

Mrs. Ewell entließ ihn mit einem tiefen Seufzer. Die weniger peinlich enttäuschten Mädchen dankten ihm fröhlich für die in Aussicht gestellten Toiletten und Rosie geleitete ihn zur Hausthür. Von allen Schwestern glich sie ihm am meisten und, obwohl sie die jüngste war, schenkte er ihr am meisten Vertrauen und das Gefühl für sie war vielleicht seine wahrste und wärmste Empfindung.

»Mama hat gewiß etwas gesagt, was dich verstimmt hat,« flüsterte sie zärtlich, seine Hand festhaltend. »Mach dir nichts daraus! Sie ist erbost, weil du das Geld bekommst und nicht sie.«

»Dafür bin ich nicht verantwortlich und es ist sehr egoistisch.«

»Einerlei, Bruderherz,« schmeichelte Rosie, »du weißt, ich habe dich sehr lieb und will nichts, als dich vollkommen glücklich wissen.«

»Das werde ich niemals sein ohne dich, Rosie, was auch geschieht. Sag, willst du für immer zu mir kommen nach Lambscote?«

»O Wilfrid! Das wäre ja himmlisch! Ich darf gar nicht daran denken! Aber was wird deine Frau dazu sagen?«

»Meine Frau? Was soll das heißen?«

»Nun, Mama sagt, du werdest eines schönen Tages heiraten, und dann könnte deine Frau mich wieder heimschicken in dies greuliche Haus.«

»Das wird sie nicht!« lachte Wilfrid erheitert. »Meine Frau wird thun, was ich will, oder gar nichts.«

»O, du Tyrann! Dann darf ich wirklich davon träumen?«

»Mehr als das, Kind, mache dich bereit. Ich werde der Mutter darüber schreiben, sobald ich mehr im klaren bin, Rosie,« fügte er sehr ernst hinzu, »ich weiß nicht, ob mein eignes Leben sich erfreulich gestalten wird, das deinige aber soll es. Ich möchte mir einmal, wenn du eine recht glückliche Frau bist, sagen können, daß du das alles mir verdankst. Ich habe dich sehr lieb, Herzchen, vielleicht lieber als irgend etwas auf der Welt.«

Er drückte einen Kuß auf ihre reine Stirn und ging rasch weg: verwundert blickte das Kind ihm nach – wie konnte er nur jetzt an seinem Glücke zweifeln?


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