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Fünfzehntes Kapitel

Betäubung

Die Umstände, die zu Lady Ewells Rückkehr unter die mütterliche Obhut geführt hatten, waren folgende gewesen.

Die beiden Damen waren gegen den ausgesprochenen Willen Sir Wilfrids bis nach Neujahr in Paris geblieben. Lady Otto besaß über ihre verheiratete Tochter keine Macht, und die Macht des Gatten ward von derselben nicht anerkannt. Sie hatte gehofft, Kapitän Dorsay werde am Neujahrstage nach Paris kommen; er hatte früher manchmal diesen Tag mit ihnen dort verlebt und ihr die phänomenalsten Blumensträuße und Bonbonnieren zu Füßen gelegt. Aber in diesem Jahre war er taub für alle Einladungen, und Lady Ewell war nun ebenso entschlossen, sofort nach England zurückzukehren, als sie bis dahin darauf bestanden hatte, zu bleiben.

Lady Otto war für einige Wochen zu ihrem Schwiegervater, dem Herzog, nach Castle Blase gebeten und wollte die Tochter mit sich nehmen, aber Lena weigerte sich hartnäckig. Sie wußte aus Sir Wilfrids Briefen, daß er sich täglich in Kapitän Dorsays Gesellschaft befand, und setzte voraus, daß dieser ihn auch nach Lambscote begleiten werde. Sie sandte ein sehr diktatorisches Schreiben an ihren Mann, worin sie ihm den Tag ihrer Heimkehr mitteilte und ihm befahl, alles zu ihrem Empfang vorzubereiten.

Sir Wilfrid befand sich bei Ankunft desselben nicht in sehr unterwürfiger Stimmung. Er hatte Lena zu wiederholten Malen herzlich und zärtlich gebeten, doch Weihnachten mit ihm zu verleben, und diese Bitte war mit Stillschweigen oder mit Vorwürfen über seine Selbstsucht beantwortet worden. Nun hatte er sich soeben in London häuslich eingerichtet und einen amüsanten Kreis von Freunden um sich gesammelt, und war daher durchaus abgeneigt, den Winken der Gebieterin zu gehorchen; er fand, daß es nun an ihr sei, zu erfahren, wie Vernachlässigung schmerzt. Ueberdies hatte er eine Einladung nach Yorkshire angenommen, und so beschloß er unter Zuspruch und Bestärkung von Dorsays Seite, ihr zu zeigen, wer der Herr sei. Er gab Befehl, in Lambscote alles für sie vorzubereiten; er selbst fuhr ganz ruhig mit seinen Freunden nach Yorkshire.

Als Lena, müde und schlechter Laune, ankam und einen blind ergebenen Gatten, und mehr noch einen sie bewundernden Freund anzutreffen hoffte, die beide zu ihren Füßen liegen würden, fand sie statt dessen ein leeres Haus und ein paar Zeilen, in denen Sir Wilfrid ihr mitteilte, daß er erst nach Verlauf von einigen Wochen zurückkehren werde.

Lady Ewells Wut war grenzenlos. Sir Wilfrids Rebellion hätte ja nicht so viel zu bedeuten gehabt, als Dorsays Verrat – beides zugleich war mehr, als sie ertragen konnte.

Es war zu spät, um am nämlichen Tage wieder abzureisen; sie schlief also eine Nacht in Lambscote, am nächsten Morgen aber fuhr sie mit ihrer Kammerjungfer direkt nach Castle Blase, um ihre Verzweiflung ihrer Mutter auszusprechen, bei der sie jedoch wenig Teilnahme fand.

»Aber, Lena,« sagte Lady Otto, »es ist wirklich absurd, wie ein Wirbelwind davonzustürmen! Warum hast du mir nicht geschrieben? Ich hätte meinen Besuch hier abgebrochen, um dir Gesellschaft zu leisten.«

»Sehr gütig, Mama, aber ich verabscheue dieses trostlose Lambscote. Wenn Sir Wilfrid darauf besteht, dort zu leben, so werde ich mir eine eigne Wohnung in London nehmen.«

»Lena, sprich so etwas nicht aus,« sagte ihre Mutter entsetzt. »Daran ist gar nie zu denken! Die ganze Welt würde darüber reden.«

»Gut, dann komme ich zu dir und bleibe bei dir. Kein Mensch kann etwas Unrechtes daran finden, wenn ich bei meiner Mutter bin!«

»Das bezweifle ich sehr. Jedenfalls wird man das Schlimmste glauben!«

»So laß sie schwatzen. Aus Rücksicht auf den Klatsch lass ich mir mein Leben nicht zu Grunde richten!«

»Zu Grunde richten! Man könnte meinen, dein Mann sei dir davongelaufen.«

»Ich werde ihm davonlaufen: das kommt auf eins heraus!«

»Du willst getrennt leben von Sir Wilfrid?«

»Ja.«

»Lena, das gebe ich nicht zu. Bei mir findest du so keine Aufnahme.«

»Dann muß ich für mich leben, und wenn darüber geschwatzt wird, trägst du die Schuld.«

»Lena, was ist der eigentliche Grund dieser Widerspenstigkeit?«

»Was ist der Grund?« wiederholte sie leidenschaftlich. »Der Grund ist, daß ich ihn hasse, ihn und sein Haus und alles, was zu ihm gehört. Du hast mich gezwungen, diesen Mann zu nehmen, Mutter. Du weißt, wie er mir zuwider war, und als ich damals sein Herz mit Füßen trat, riefst du dein ›Bravo‹. Und doch, als er das erbärmliche Geld bekommen hatte, da beredetest du mich, ihn in meine Netze zu ziehen und ›ja‹ zu flüstern, wo ich tausendmal ›nein‹ hätte ausschreien mögen. Du wußtest's, daß ich einen andern liebte und daß ich mich an ihn nur verkaufte, und das hießest du gut.«

»Du bist namenlos undankbar und ungerecht, Lena. Wenn du mit ›dem andern‹ den Taugenichts Dorsay meinst, so weißt du so gut wie ich, daß er dich nie geheiratet hätte. Seine Aufmerksamkeiten waren sehr bedenklich für deinen Ruf, und ich halte es für äußerst unklug, den Verkehr jetzt noch fortzusetzen.«

»O, er ist längst nicht mehr mein, sondern Sir Wilfrid Ewells Freund,« versetzte Lena bitter.

»Um so besser: und wenn dein Mann so gefällig ist, sehe ich nicht ein, weshalb du den Skandal machen solltest, dich von ihm zu trennen.«

»Den Skandal will ich vermeiden. Ich bin dein einziges Kind und kein Mensch kann etwas daran auszusetzen haben, wenn ich mich nicht von dir losreißen mag. Ueberdies soll es dein Schaden nicht sein, Mama. Ich werde meinen Wagen und meine Bedienung haben, so daß du die deinige abschaffen kannst, für das übrige wird Sir Wilfrid dir eine ansehnliche Summe zahlen.«

Lady Otto, die durch und durch weltlich gesinnt und ziemlich geizig war, fing an, die Sache aus einem andern Gesichtspunkt zu betrachten, und da Lena sich doch nicht umstimmen ließ, berechnete sie ruhig den Gewinn, der ihr durch diese Verhältnisse erwachsen würde.

Indessen spielte Lena ihre Karten meisterhaft aus. Sie erschreckte ihren Gatten nicht durch den plötzlichen Vorschlag, ein getrenntes Leben zu führen, es wurde ihm nach und nach beigebracht. Zuerst war sie natürlich sehr verletzt über seinen Mangel an Aufmerksamkeit, bat ihn aber, doch ja in Yorkshire zu bleiben, da sie in Castle Blase hochwillkommen sei. Dann kam ihre Gesundheit. Sie hatte wiederholte Anfälle von Herzklopfen gehabt und die Aerzte hatten sich dahin ausgesprochen, daß ihr Zustand der sorgfältigsten Pflege bedürfe, unter welchen Umständen sie natürlich nicht daran denken konnte, ihre geliebte Mutter zu verlassen. Da sie in Lambscote der Gefahr ausgesetzt war, allein an einem solchen Anfall zu sterben, hatte der Arzt ihr die Rückkehr dorthin aufs strengste untersagt.

Sir Wilfrid geriet in die größte Angst. Er wollte urplötzlich zu seiner Gottheit eilen und ihre Vergebung erflehen. Er bat, sie pflegen, ihr seine Ergebenheit durch Aufmerksamkeit und Sorgfalt beweisen zu dürfen, Tag und Nacht wollte er über sie wachen und ihr alles in allem sein.

Lena nahm diese schwärmerischen Briefe sehr kühl auf. Sein Kommen ward abgelehnt; bald war Castle Blase bis unters Dach mit Gästen überfüllt, bald hatte ihr der Arzt jegliches Sprechen untersagt. Nach einiger Zeit kam er darauf, daß sie ihn belogen hatte und nie krank gewesen war, dann hörte sein Anteil ganz auf und er machte ihr die Unwahrheit bitter zum Vorwurf.

Nun war er so weit, als sie ihn hatte bringen wollen. Nachdem seine Briefe ihr klar gezeigt hätten, daß ihm gar nichts an ihr liege, erklärte sie, habe sie beschlossen, die Saison bei ihrer Mutter in Onslow Gardens zuzubringen.

Sir Wilfrid war zu stolz, sie daran zu verhindern, und von Dorsay mehr und mehr über sie aufgeklärt, hörte er endlich auf, die Trennung als Unglück zu empfinden. Er kehrte nach London zurück und stürzte sich in einen Taumel von Zerstreuungen, wie er sie früher nicht gekannt. So unbeaufsichtigt er auch als Jüngling gewesen war, hatten ihn doch einerseits seine Armut, anderseits seine Liebe zu Hanna vor vielen Gefahren beschützt. Nun wollte er vergessen, und er folgte seinem Freunde, dem Kapitän, willig zu Trinkgelagen, in Spielhöllen und hinter die Coulissen des Opernhauses.

Lady Otto war überzeugt, daß Lenas beharrliches Verlangen, in London zu leben, nur in der Hoffnung wurzelte, dem Kapitän täglich zu begegnen, und das wollte sie verhindern. So weltlich und grundsatzlos sie war, wollte sie doch ihr einziges Kind und ihren Namen vor Schande bewahren. Ihre Furcht war unbegründet. Jack Dorsay hatte andre Pläne, und auch ohne diese wäre er um keinen Preis zu Lady Ewell zurückgekehrt. Lena war sich darüber noch nicht klar. Jeden Tag sah ihre Mutter, wie ihre Wangen sich fieberhaft röteten, wenn sie in den Park einfuhren, und wie ihre Blicke suchend hin und her schweiften.

Zweimal sah sie ihn, aber jedesmal war Sir Wilfrid dabei, und beide Herren begnügten sich mit einem Gruß. Lady Otto vermutete, daß sie ihm schrieb, aber es gelang ihr nicht, Lenas Korrespondenz zu überwachen. Sie erriet es nur aus der Aufregung, in der diese den Briefträger erwartete, und aus dem Ausdruck schmerzlicher Enttäuschung, mit dem sie die empfangenen Briefe überflog. Mutter und Tochter waren sich gegenseitig zur Last. Die eine war die Gefangene, die andre der Kerkermeister, und Lady Ewell begann zu fühlen, daß sie in Lambscote weit mehr Freiheit gehabt hatte.

Endlich ward sie wirklich leidend; vergebliches Hoffen und Sehnen und das Bewußtsein, unlösbare Wirrsal in ein Leben gebracht zu haben, das so leicht und eben hätte verlaufen können, machten sie elend. Lady Otto hörte sie nachts in ihrem Zimmer auf und ab gehen – rastlos, zornig, als ob sie dem Geschick fluche. Morgens erschien sie jedoch mit matten schläfrigen Augen und versicherte auf alle Fragen, daß sie vortrefflich geschlafen habe.

Lady Otto konnte sich diesen Zustand nicht erklären. Allein das Rätsel wurde ihr nur zu bald gelöst, als eines Tages, nachdem Lena um zwölf Uhr noch nicht zum Frühstück gekommen war, ihre Jungfer schreckensbleich hereinstürzte und sie bat, ihr in Lady Ewells Zimmer zu folgen.

Da lag Lena, halb zum Bett heraushängend, mit geöffnetem Mund und gläsernen Augen – ein entsetzlicher Anblick. Tot war sie nicht, denn sie atmete laut und röchelnd.

»Was hat sie genommen?« fragte Lady Otto, Lenas Kopf zurechtrückend und sie aufrichtend.

»O, mein Gott, gnädige Frau!« jammerte das Mädchen. »Es wird doch kein Gift sein? Sie besteht darauf, immer Schlaftropfen zu nehmen –«

»Rasch zum Arzt!« gebot die arme Mutter. »Schicken Sie den Diener sofort zu Dr. Marshall.«

Nach kurzer Zeit war der Arzt zur Stelle.

»Chloralhydrat! zu starke Dosis,« sagte er kurz, nachdem er die Augen angesehen hatte.

»O, Doktor! Stirbt sie?«

»Dieses Mal nicht, aber Lady Ewell muß vorsichtig sein, sie könnte sich einen gefährlichen Streich spielen. Ich habe sie vor allen Opiaten gewarnt. Das Herzklopfen, an dem sie leidet, rührt von Schwäche des Blutes und des Herzmuskels her und derartige Dinge könnten ihr verhängnisvoll werden. Lassen Sie sie jetzt ausschlafen – es wird immerhin noch einige Stunden dauern. Aber dann nehmen Sie die junge Dame ernsthaft ins Gebet.«

Lena erschien zu Tisch, anscheinend ganz wohl, und Lady Otto wartete den folgenden Morgen ab, um mit ihr darüber zu sprechen. Sie stieß aber zu ihrer Bestürzung auf eigensinnigen Widerspruch. Dr. Marshall sei ein Narr, sagte sie, und wisse nicht, was er rede. Chloral sei das beste, was der Mensch haben könne; es versetze sie in einen Zustand vollkommener Glückseligkeit und kein Arzt werde sie bereden, es nicht mehr zu nehmen.

»Aber Lena, wenn Dr. Marshall doch sagt, es sei speciell für dich sehr gefährlich und ein Tropfen zu viel könnte zum Schlimmsten führen.«

»Zum Schlimmsten?« lachte sie heiser. »Möchte wohl wissen, wer durch meinen Tod schlimm daran wäre, ich einmal sicher nicht. Und jene Welt, Mama? Mehr kann man in der Hölle nicht leiden, als ich täglich leide. Das einzige, das dich wundern sollte, ist, daß ich es noch nicht gethan habe.«

Von da an begann ein förmlicher Krieg zwischen Mutter und Tochter, und es war lange Zeit zweifelhaft, wer obsiegen würde. Der Mutter Zweck war, Lena zu verhindern, das gefährliche Mittel zu nehmen, und sie verfolgte ihn mit jeder Kriegslist und mit offener Gewalt. Und Lena – die ihr Treiben vollständig durchschaute – machte es zu ihrer Lebensaufgabe, dennoch dazu zu gelangen. Umsonst konspirierte Lady Otto mit Doktor und Apotheker – bestach das Mädchen, ihr irgend eine harmlose Flüssigkeit statt des Chlorals zu geben – beobachtete ihre Tochter mit Luchsaugen und wandte alle Mittel an, um die Wirkung der Medizin, die sie sich heimlich verschaffte, zu neutralisieren. Auf irgend eine Weise wußte Lena stets alle Vorsichtsmaßregeln zunichte zu machen und zu ihrem Ziel zu gelangen. Die Gewohnheit hatte das Bedürfnis so übermächtig werden lassen, daß sie das Gift nicht mehr entbehren konnte, so wenig als der Trinker seinem Laster entsagen kann, und wenn ihn das Feuer verzehrte. Aber sie verbarg ihre Schwachheit. Sie versicherte, daß sie vollständig von der Schädlichkeit der Sache überzeugt sei und es aufgegeben habe, und da sie vorsichtig war und sich nicht mehr überraschen ließ wie damals, mußte man ihr Glauben schenken.

So verstrich die Zeit. Während Sir Wilfrid unter der weißen Flagge der Freundschaft viele Stunden in Wolsey Cottage verlebte, stand Lady Ewell an ihrem Fenster und spähte ängstlich hinaus nach einer Gestalt, die sich an der Thür ihres Hauses niemals einstellte.


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