Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Ein Schatz

Als Hanna Warner an jenem Schreckenstage wieder zu ihrer Mutter trat, hatte sie nur den einzigen Wunsch, dieser zu verbergen, daß ihr ein Unglück widerfahren war. Sie entschuldigte den Luxus einer Droschke mit der großen Hitze und nahm ihren Platz am Krankenbett wieder ein mit einer Selbstbeherrschung, die bei einem so jungen Wesen unglaublich war. Aber Hanna war in harter Schule aufgewachsen und hatte früh lernen müssen, ihre eigne Empfindung um andrer willen zu beherrschen, Sie war ein echtes Weib, mit der tiefen Leidensfähigkeit und der furchtlosen Tapferkeit eines solchen. Ihr Herz that ihr physisch wehe – sie bedurfte all ihrer Kraft, um ihre Seufzer zurückzuhalten, aber sie that es. Sie bereitete Mrs. Warners Thee, kleidete die arme Frau aus, brachte sie zu Bett und las ihr vor, bis sie einschlief. Keinen einzigen dieser kleinen Dienste, die so leicht sind, wenn wir uns froh und glücklich fühlen, und so schwer, wenn unsre Gedanken fern davon sind, versäumte sie. Endlich war alles fertig und sie schleppte sich mühsam die Treppe hinunter.

»Aber, Fräulein, Sie sehen elend aus? Was ist Ihnen passiert?« war Sarahs erstes Wort, als sie die Küche betrat.

»Ich bin nicht ganz wohl, Sarah. Es war so drückend heiß, das hat mich wahrscheinlich angegriffen. Ich würde gern zu Bett gehen. Wollen Sie heute Miß Prossers Abendbrot besorgen?«

»Natürlich, Fräulein. Schlafen Sie nur recht aus.«

»Danke,« sagte sie mit erzwungenem Lächeln und ging matt und langsam hinauf in ihr Stübchen, wo sie allein war mit ihrem großen Schmerz und ihren tausend Gedanken.

Wilfrid hatte sie nie geliebt – das wußte sie nun. Vielleicht hatte sie ihm flüchtig gefallen, vielleicht war es ihm bequem gewesen, auf diese Weise gut bedient zu werden, und ihre rückhaltlose Hingebung halte seiner Eitelkeit geschmeichelt. Sobald er aber erfahren hatte, daß das Gesetz ihn für frei erklärte, hatte er diese Freiheit benutzt, um ein Verbrechen zu begehen, denn nur als ein solches konnte Hanna diese zweite Ehe betrachten, und ihre Pulse flogen und ihr Herz entbrannte, wenn sie daran dachte. Allein sie war ebenso stolz als tapfer, und da Sir Wilfrid sie aus freien Stücken verlassen hatte, sollte er auch niemals erfahren, was sie litt. Sie war sich wohl bewußt, die Stärkere zu sein – warum sollte sie weniger fähig sein, ihr Leben aus eigner Kraft zu gestalten?

Noch immer hätte Hanna sich sagen können, daß ein Mann, der sich selbst so untreu werden konnte, ihrer Hingebung und Treue nie wert gewesen. Aber sie sagte es sich nicht – vielleicht war sie zu klug dazu. Wenn wir nur diejenigen lieben wollten, die unsrer Achtung wert sind, wie wenig Liebe könnte da bestehen!

Als sie sich endlich aus ihrem qualvollen Hinbrüten aufraffte, da wußte sie, daß sie ihn nicht aus ihrem Herzen reißen würde, sondern ihre Pflichten so still und treulich erfüllen werde, als ob auch die Sorge für ihn noch eine derselben wäre. Und sie erfüllte dies schweigende Gelöbnis. Als ob nichts geschehen wäre, wirtschaftete sie am folgenden Morgen in Haus und Garten; sie bereitete Mr. Cobbles Frühstück und Miß Prossers Mittagessen mit einer Aufmerksamkeit und Sorgfalt, als ob sie nie für einen andern gearbeitet und gedacht und gesorgt hätte, der nun von ihr gegangen war und ihres Lebens bestes Teil mit sich genommen hatte.

Ja, Hanna war während dieser ersten Wochen ihres Witwenstandes geschäftiger und rastloser als je. Sie gab sich die größte Mühe, die freigewordenen Zimmer im ersten Stock wieder zu vermieten, und es gelang ihr endlich, ein Ehepaar zu finden, das dieselben bezog. Der Herbst kam, und wie viel Umgraben und Düngen der Garten in diesem Jahre brauchte, war ganz wunderbar. Morgen, Mittag und Abend war das Mädchen auf den Füßen, treppauf und -ab, in Küche und Speisekammer, ohne sich einen Augenblick der Ruhe und des Nachdenkens zu gönnen.

Mrs. Warner bemerkte von alledem nichts, Miß Prosser um so mehr. Sie war ein altes Fräulein von etwa vierzig Jahren, klug und scharfsichtig, mit einem ganz besondern Spürsinn für Liebesgeschichten, an welchen sie großen Anteil nahm und denen sie gern Vorschub leistete. Sie beobachtete Hanna aufmerksam und faßte sich dann eines Tages ein Herz und fragte sie, ob sie irgend einen geheimen Kummer habe, was Hanna hastig verneinte. Bis an die Haarwurzeln errötend und in jedem Zuge verratend, wie schwer ihr die Lüge wurde, behauptete sie energisch, daß sie an Körper und Geist vollkommen gesund sei und keinerlei Beistandes oder Teilnahme bedürftig.

Miß Prosser schwieg, ohne sich überzeugt zu fühlen, und bald hatte sie noch bestimmteren Anlaß zur Sorge. Hanna magerte zusehends ab: ihre Wangen wurden hohl und auf die merkwürdige Heiterkeit der letzten Wochen folgte eine tiefe Niedergeschlagenheit, obwohl die neuen Mieter sich dauernd ansässig machten, die Finanzen infolgedessen gut standen und Mrs. Warner gesünder war als sonst.

Das alte Fräulein war etwas neugierig und mischte sich gern in andrer Leute Angelegenheiten, auch ließ sie zuweilen ihrer Zunge zu freien Lauf, trotz alledem war ihr Herz im Grunde gut und ihr Mitgefühl für Hanna echt und wahr. Sie glaubte, die Ursache all dieses Kummers zu kennen, denn daß derselbe mit Sir Wilfrid Ewells plötzlichem Verschwinden zusammenhing, stand bei ihr fest. Sie sprach eines Tages abermals ernstlich mit Hanna und stellte ihr vor, daß sie ihre Gesundheit untergrabe und sich unfähig mache, ihrer Mutter Stütze zu sein, und bat sie, ihr Herz durch Vertrauen zu erleichtern, vielleicht könnten sie dann gemeinsam ein Mittel ausfindig machen zur Beseitigung des Uebels. Sie hatte das rechte Wort gefunden, des armen Kindes Herz zu erschließen – der Gedanke, daß sie nicht mehr für ihre Mutter sorgen könnte und diese allein und hilflos im Leben zurücklassen müßte, besiegte all ihre Skrupel, und mit heißen, thränenlosen Augen und unter vielen Seufzern gestand sie, daß sie nicht glücklich sei und daß ihr Befinden ihr ernstliche Sorge mache.

»Ich fühle, daß ich nicht mehr gesund bin und daß eine Luftveränderung mir dringend not thäte. Aber wie kann ich das Haus und meine Mutter verlassen? Glauben Sie mir, der Gedanke beschäftigt und quält mich Tag und Nacht und macht mich noch elender!«

»Sie möchten eine Zeitlang fort?« fragte Miß Prosser überlegend.

»Ja, ich muß fort. Mir ist's, als ob das die einzige Möglichkeit wäre, wieder frisch und gesund zu werden – fort, fort von London.«

»Wohin würden Sie denn gehen, Hanna?«

»Das habe ich mir noch kaum überlegt, doch hat meine Mutter Verwandte in Wales, die mich sicher aufnehmen würden, aber wie kann ich sie allein lassen; das ist die ungeheure Schwierigkeit!«

Miß Prosser dachte eine Weile nach. »Nun, Hanna,« sagte sie, »ich glaube, wir könnten das einrichten. Lady Brooke geht aufs Land und nachher wird sie ihre Kinder in eine Schule schicken, so daß ich mich um eine neue Stellung umsehen muß. Wenn Sie mir die Sorge für Ihre Mutter und für den Haushalt anvertrauen wollen, so würde ich nur für die eine Hälfte des Tages Lektionen annehmen.«

»O, wie gut von Ihnen,« rief Hanna voll Dankbarkeit.

»Gut, aber meine Liebe, umsonst kann ich es leider nicht thun. Sie wissen, daß ich ganz auf meinen Erwerb angewiesen bin, Sie müssen mir also die Miete für diese Zeit erlassen.«

»Das versteht sich, Miß Prosser: Miete und Kost.«

»Nein, mein Kind; die Miete wird den Ausfall genügend decken und es wird mir gut bekommen, wenn ich weniger Unterricht gebe, ich bin ebenfalls überarbeitet. Dann ist ja Ihr Zimmer auch frei und kann vielleicht vermietet werden.«

»Ja, aber wenn das alles geschehen könnte – es erscheint mir plötzlich so ausführbar, wie soll ich es Mama erklären?«

»Hanna, wenn es für Ihre Gesundheit nötig ist, so müssen Sie gehen,« versetzte die Freundin energisch. »Besser, Mrs. Warner mißversteht Sie ein wenig, als sie muß Ihre Hilfe und Liebe verlieren. Ueberdies – sie ist ein Kind und macht sich keine Gedanken,«

»Arme Mutter!« seufzte Hanna.

»Das beste wäre, meiner Ansicht nach, ihr gar nichts zu sagen. Treffen Sie all Ihre Vorbereitungen im stillen und reisen Sie einfach ab: ich werde es ihr dann beibringen.«

»Dazu könnte ich mich nicht entschließen, liebe Miß Prosser, aber wir wollen ihr sagen, daß ich nur für acht Tage verreise.«

Und so reiste denn Hanna wirklich vor Weihnachten zu ihren Verwandten ab und ließ das Haus und alle seine Bewohner in Miß Prossers Obhut.

Es wurde Mai, ehe sie zurückkam. Miß Prosser sagte, daß sie ihr nie zugetraut hatte, es so lange ohne ihre Mutter und ihren Garten aushalten zu können. Aber die Briefe meldeten wenig Gutes von ihrem Befinden, das sich nur äußerst langsam zu bessern schien. Aus jeder Zeile sprach die zärtlichste Besorgnis um ihre Mutter, die Hannas fünfmonatliche Abwesenheit ebensowenig ernstlich beunruhigte, wie die vieljährige des Lieutenants. Miß Prosser sorgte vortrefflich für sie, und selbstsüchtig, wie Kinder sind, vermißte die alte Dame daher nichts.

Als Hanna endlich zurückkehrte, war sie so mager und hatte einen so scheuen, geistesabwesenden Blick, daß man sie kaum wiedererkannte – sie schien um zehn Jahre gealtert. Ihre Aufregung, als sie die Mutter wieder in ihre Arme schloß, war so übermächtig, daß sie in einen Weinkrampf ausbrach. Die alte Dame teilte diese Gemütsbewegung jedoch gar nicht, sondern war in großer Angst, daß die köstliche Tanjorabrosche bei diesen stürmischen Umarmungen notleiden könnte, und glättete eifrig ihre Haubenbänder.

»Es sind meine schönsten Bänder, Hanna,« sagte sie ernst und vorwurfsvoll, »Miß Prosser hat sie mir geschenkt, weil ich so artig war in der Kirche, und nun hast du sie mir ganz zerknüllt.«

Mit einem tiefen Seufzer wandte das arme Mädchen sich ab. »Sie ist nicht anders geworden,« sagte sie leise.

»Ja, mein liebes Kind, das war aber doch auch keineswegs zu erwarten und Sie sollten froh sein, daß sie so wenig leidet. Allein Sie, meine Liebe, Sie sind furchtbar verändert,« sagte Miß Prosser.

»Ich bin sehr krank gewesen und sehr heruntergestimmt. Aber, Gott sei Dank, jetzt fühle ich mich wieder kräftiger und nie mehr werde ich mich meiner Pflicht entziehen,«

»Als ob Sie das je gethan hätten, Hanna! Soweit ich konnte, habe ich die meinige auch gethan und alles ging vortrefflich. Mr. Cobble ist noch im Hause und mein früheres Zimmer hat sein Freund Johnson, beide Herren und die Maxwells waren immer sehr zufrieden. Sarah mußte ich wegschicken, wie ich Ihnen ja schrieb, aber das neue Mädchen ist weit tüchtiger. Nur der Garten ist nicht so schön gehalten wie sonst.« Miß Prosser sagte das etwas zögernd; es war längst ihre große Sorge gewesen, was Hanna über die Verwilderung ihrer geliebten Pfleglinge sagen werde, welche das alte Fräulein nicht vor Mrs. Warners Zerstörungstrieb hatte schützen können. Nun schien es nur wenig Eindruck zu machen.

»Ach, das thut ja nichts, Liebe! Aber sagen Sie mir nur, haben Sie denn nicht allzu große Opfer gebracht?«

»Gar nicht; ich glaube, daß ich im Gegenteil im Vorteil bin. Für den Nachmittag habe ich eine Anstellung an einer Schule gefunden, wo ich gut bezahlt werde und mich weit weniger anstrenge als bei Privatunterricht, und morgens konnte ich mich dem Haushalt widmen. Ich war wirklich recht zufrieden und glücklich!«

»Wie froh bin ich und wie unsäglich danke ich Ihnen! Keinem andern Menschen hätte ich meine arme Mutter anvertrauen können.«

»Bis gestern habe ich in Ihrem Zimmer geschlafen, aber nun ist es ganz bereit.«

»Ja, wo schlafen denn Sie dann, wenn Mr. Johnson in Ihrem alten Quartier ist?«

»Gewiß ist er dort, und ich möchte ihm um die Welt nicht aufkündigen! Er ist so nett und bezahlt mehr als Mr. Cobble. Wenn Sie nichts dagegen haben, so würde ich recht gern bei Ihrer Mutter schlafen – sie ist nun sehr an mich gewöhnt und es ist viel besser, ich schlafe bei ihr, als Sie – Sie brauchen Ihre Nachtruhe.«

Hanna ging gern auf diesen Vorschlag ein, und so lebte Miß Prosser nun fast als Familienglied mit ihnen fort, eine Einrichtung, welche Hanna sehr vorteilhaft fand. Mrs. Warner war unter viel besserer Aufsicht, als wenn sie dieselbe dem Dienstmädchen anvertraut hätte, und dieses hatte weit mehr Zeit zur Arbeit, Hanna selbst mehr Muße für ihren Garten und ihre Besorgungen in der Stadt. Sie nahm alle ihre Pflichten sofort wieder auf und verrichtete sie gewissenhaft, aber auf ihren Wangen kehrte die Farbe nicht wieder und in ihrem Herzen war kein Friede, trotz aller Treue.

Der Mai kam und ging, und die Junirosen hauchten wieder ihren süßen Duft über Chelsea. Nun war es ein Jahr, daß sie mit Sir Wilfrid im Garten auf und ab gegangen war, und daß er ihr von seinem Reichtum und seinem Glück erzählt hatte, die zu teilen ihr so unzweifelhaft und selbstverständlich geschienen hatte. Nie kam sein Name mehr über ihre Lippen, und wenn sie ihn noch einer Thräne wert hielt, so fiel diese still und ungesehen auf ihre geliebten Blumen. Sie nahm die Mutter oft mit sich in den Garten und wollte sie sogar einigermaßen zur Arbeit anhalten, indem sie ihr Anweisung gab zu jäten und die Erde zu lockern, wobei diese jedoch wenig Ausdauer zeigte und immer wieder fragte: »Weshalb soll ich denn die kleinen grünen Gräschen ausraufen, Hanna? Sie sind ja so hübsch!«

»Aber, Mütterchen, du weißt gar nicht, was du einmal finden könntest, wenn du nur jeden Tag ordentlich die Erde umgräbst. Ich habe oft gelesen, daß man in solchen alten Gärten Schätze findet,«

»Schätze, was für Schätze, Hanna?«

»Gold und ganze Kisten voll Geld und Geschmeide.«

»Meine Brosche ist ein Geschmeide,« versicherte Mrs. Warner und griff nach dem unschätzbaren Kleinod.

»Natürlich, Mama. Sieh nur jeden Tag genau nach, so wirst du sicherlich etwas finden.«

Und jeden Morgen trieb Hanna sie zu neuem Eifer an durch die Frage, ob sie nicht im Gebüsch etwas gefunden habe; nur in Miß Prossers Gegenwart war nie davon die Rede.

Endlich eines Morgens, nachdem die kleine Frau auf ihrer Tochter Geheiß gehorsam hinausgegangen war, erschien sie mit geheimnisvoller Miene, den Finger auf den Mund legend, wieder im Wohnzimmer. Hanna erhob sich, zitternd und leichenblaß.

»Hanna,« flüsterte die Mutter ihr zu, »er ist da.«

»Wer, Mütterchen?« fragte diese, sich gewaltsam bezwingend.

»Der Schatz, mein Kind; ein ganzer Korb voll, im Gebüsch. Und er macht einen furchtbaren Lärm. Komm nur und sieh.«

»Aber, Mama, was redest du nur?« sagte Hanna mit bebenden Lippen. Und dann rief sie das Mädchen: »Karoline, Mrs. Warner will, daß ich in den Garten komme, sie möchte mir etwas zeigen, aber ich habe jetzt keine Zeit. Gehen Sie mit ihr und sagen Sie mir dann, was es ist; wahrscheinlich bildet sie sich nur ein, etwas gesehen zu haben.«

Die beiden gingen; Hanna trat ans Fenster und starrte hinaus; schon nach wenig Augenblicken kehrte Karoline zurück.

»Ach, Fräulein! Sie werden es gar nicht glauben können! Kommen Sie nur schnell und sehen Sie selbst! Diesmal hat sich die Frau nichts eingebildet, gar nicht, Fräulein. Es ist so wahr, wie das Evangelium, und sie ist seelenvergnügt, daß gerade sie es gefunden hat,« berichtete das Mädchen in großer Aufregung.

»Ja, was ist es denn, Karoline?« fragte Hanna.

»Ein Kindchen, Fräulein, ein bildschönes Kindchen im langen Tragkleid.«

»Ein Kind, Karoline, sind Sie verrückt?«

»Nein, Fräulein, ganz und gar nicht. Es ist ein Kind, so gewiß als ich eine Nase habe, und es ist in so einen großen Wildbretkorb verpackt. Ach, du lieber Himmel, da kommt ja die Frau!«

Mit außerordentlich wichtiger und geheimnisvoller Miene erschien Mrs. Warner auf der Schwelle, ein großes Bündel im Arm.

»Hanna, er ist erschienen! Habe ich dir's nicht gesagt – nein, sei so gut und komm mir nicht in die Nähe – es gehört mir! Ich habe es ausgegraben und es macht einen schrecklichen Lärm!« Letzteres war vollständig richtig.

»O, Mutter, gib es mir! Ich glaube, du hältst es verkehrt!«

»Du wirst die Güte haben, es nicht zu berühren, Hanna. Es ist mein Schatz, nach dem ich lange genug graben mußte, und er gehört mir. Ich hatte mir eigentlich nicht gedacht, daß er so schreien würde, aber trotzdem, ich habe ihn gefunden und er gehört mir.«

»Nun, das muß ich sagen, was geht denn hier vor?« rief Miß Prosser, die aus der Küche heraufkam, wo sie ein Backwerk zubereitete.

»Ach, liebe Miß Prosser, die wunderbarste Geschichte, die Ihnen je vorgekommen ist,« antwortete Hanna mit seltsam klingender Stimme, »Mama hat ein kleines Kind gefunden in dem Lilienbeet und –«

»Ja, wer kann denn die Frechheit gehabt haben, das in unsern Garten zu legen?« fuhr Miß Prosser entrüstet auf.

»Landstreicher, vermutlich,« stammelte Hanna, »irgend eine arme Mutter, die kein Heim hatte für ihr Kind – und keinen Vater.«

»Papperlapapp – nur keine Sentimentalität! Das hat irgend ein leichtsinniges Ding gethan, dem es zu mühsam war, es in den Fluß zu werfen. Wo ist denn der kleine Balg? Lassen Sie mich doch einmal sehen, was Sie da haben, Mrs. Warner!«

»Liebe Miß Prosser, das gehört ganz allein mir. Ich habe es gefunden; Hanna sagte mir, daß ich etwas finden werde, wenn ich fleißig grabe. Und ich bin überzeugt, daß mein Mann sich sehr freuen und es vollkommen billigen wird–«

»Gewiß, ohne Zweifel, aber Sie können es mir doch zeigen.«

Erst nachdem Miß Prosser feierlich gelobt hatte, das Kind nicht anzurühren, nahm Mrs. Warner den Flanell weg und das rosige Gesichtchen eines kräftigen, etwa drei Monate alten Kindes, das sich mittlerweile in Schlaf geschrieen hatte, kam zum Vorschein. Mit feuchtschimmernden Augen betrachtete Hanna das kleine Wesen, und selbst Miß Prasser konnte ihm ihre Bewunderung nicht versagen.

»Ein hübsches, kleines Ding, wo es auch herstammt, und so wunderbar reinlich. War denn gar kein Zettel oder Brief dabei?«

»Gar nichts!« versicherte Karoline, »ich habe den Korb ganz umgeleert, es war nichts darin als Heu.«

»Und in dem Lilienbeet fand ich es an dem Wege, wo der junge Ewell immer auf und ab ging, wenn er seine Cigarre rauchte. Es gehört mir ganz allein,« wiederholte Mrs. Warner.

»Was wir wohl mit dem kleinen Geschöpf beginnen werden?« fragte Hanna, mit einem schüchternen Blick auf Miß Prosser.

»Beginnen? Nun, darüber kann doch wahrhaftig kein Zweifel sein; es muß ins Findelhaus. Sie werden es doch nicht als Familienglied erziehen wollen?« erwiderte die Lehrerin lachend. »Karoline, gehen Sie sogleich auf die Polizeistation und sagen Sie dem Beamten, daß er jemand schickt, um das Kind zu holen.«

Mrs. Warner, deren Vogeläugchen ängstlich vom einen zum andern wanderten, erfaßte die Worte »das Kind holen« und fing an zu wimmern.

»Hanna, Hanna! laß es nicht fortnehmen! Du weißt, daß ich es gefunden habe, und du läßt mir's – nicht wahr? Du hast mir immer gesagt, du wollest mir wieder ein Hündchen schenken, seit Dasch tot ist, und du hast nie Wort gehalten, und nun laß mich statt dessen das Kind behalten, und Sie, Sie dürfen es mir nicht nehmen!« wandte sie sich zu Miß Prosser.

»Ich sehe auch keinen Grund zu solcher Eile,« sagte Hanna, ihre Hand begütigend auf der Mutter Schulter legend, »Wir wollen es der Mama jedenfalls noch ein paar Stunden lassen, meinen Sie nicht auch?«

»Nein, das meine ich gar nicht. Je länger Sie es ihr lassen, desto schwieriger wird das Wegnehmen, sie hat schon jetzt eine Liebe für das Ding, als wäre es die heilige Brosche selbst.«

»Arme Mutter! Ihr Leben ist so arm an Freuden.«

»Jedenfalls lassen Sie sie nicht allein mit dem Kinde, sie könnte darauf sitzen, oder es ins Feuer werfen,« warnte Miß Prosser noch, ehe sie in die Küche zurückkehrte, und Hanna erbleichte bei dem Gedanken an eine derartige Möglichkeit.

Sobald sie mit Mrs. Warner und dem kleinen Findling allein war, verwandelte sich ihr ganzes Wesen und Mutter und Tochter spielten wie Kinder mit der Puppe, als sie das kleine Geschöpfchen auskleideten, badeten und fütterten.

»Nun, wann soll das Kind fortgebracht werden?« fragte Miß Prosser nach Tisch. »Sie sollten es hinschicken, ehe es Nacht wird, denn sonst kann kein Mensch im Hause ein Auge zuthun, und möglicherweise macht es Ihnen auch Schwierigkeiten, wenn Sie es so lange nicht auf der Polizei anmelden; sie könnten sich weigern, es aufzunehmen.«

»Und wäre denn das so sehr schlimm?« sagte Hanna, die aufgestanden und zu Miß Prossers Stuhl herangetreten war, nachdem sie das schlafende Kind vorsichtig auf einen Shawl gelegt hatte. »Könnten wir denn das bißchen Milch für das kleine Ding nicht auftreiben?«

»Mein liebes Kind, sind Sie toll? Als ob sich's um die Milch handelte – Brot und Fleisch wird sie essen und Kleider und Schuhe und Schulgeld wird sie brauchen! Der Gedanke, sich solch eine Last aufzubürden!«

»Vielleicht wäre es gar keine Last – vielleicht wäre es mein einziger Trost, wenn ich meine arme Mutter einmal nicht mehr habe – vielleicht würde es ihr die Tochter ersetzen, wenn ich vor ihr fort müßte. Halten Sie mich nur nicht für allzu thöricht, aber ich – ich mochte der armen Mama die kleine Freude gönnen.«

»O, das ist ja ganz einerlei, wofür ich Sie halte; Sie sind Ihr eigner Herr, nur fragen Sie mich nicht um Rat, wenn Sie doch schon entschlossen sind! Es handelt sich um Ihr Haus und um Ihr Geld.«

»O, bitte, seien Sie mir nicht böse, und es soll Sie ja gar nie stören; ich werde es in mein Zimmer nehmen,« sagte Hanna demütig.

»Und ich schlafe bei Ihrer Mutter, damit Sie Ruhe haben!«

»Ich weiß es ja, aber Sie wissen nicht, wie glücklich ich wäre –«

»Kein Wort weiter, Hanna, Sie haben sich's nun in den Kopf gesetzt, also machen Sie den Versuch. In ein paar Tagen werden Sie sehr froh sein, wenn man es auf die Polizeistation bringt.«

Miß Prosser wurde noch an diesem Abend andrer Meinung, Eine Stunde nachdem Hanna das Kind zu Bett gebracht hatte, trat sie in deren Zimmer, um sie wegen einer häuslichen Angelegenheit zu befragen – ein Licht brannte auf dem Tischchen, auf dem die Milch und der kleine Kochapparat standen, und auf dem Kissen lag Hanna, das Kind fest umschlungen haltend, mit einem wunderbaren Ausdruck von Liebe und Frieden auf ihrem Gesicht. – Den Atem anhaltend, blieb Miß Prosser stehen – in diesem Augenblick wußte sie die ganze, volle Wahrheit und konnte nicht begreifen, daß sie bisher so blind gewesen war. Ohne ihre Gedanken erraten zu lassen, trat sie ruhig näher und sagte: »Nun, Hanna, es sieht wahrhaftig nicht danach aus, als ob das kleine Mädchen ins Findelhaus kommen sollte! Wenn Sie es wirklich behalten, so müssen Sie mich Sorge und Mühe dafür mit Ihnen teilen lassen. Nein, nein, keinen Widerspruch; das süße Gesichtchen hat mich auch schon ganz bezaubert und ich könnte sie ebensowenig weggeben, wie Sie. Ich will ihre Patin sein, dann muß sie aber auch ›Helene‹ heißen, nach mir –«

»O, Sie treue, treue Freundin,« rief Hanna glückselig und küßte sie innig. »Nach keinem Menschen würde ich sie lieber nennen!«

»Abgemacht also, und wenn sie ›Helene‹ heißt, nehme ich natürlich besondern Anteil an ihr, und was die Schule betrifft, so lassen Sie das meine Sache sein, Hanna! Wir sind alle miteinander recht unvernünftig, aber davon soll jetzt nicht mehr die Rede sein. Sie gehört uns dreien und wir wollen einander das Recht, sie zu verpflegen, streitig machen.«

»O, Dank, Dank, Sie treue Seele! Sie haben mich so glücklich gemacht!« rief Hanna und ihr Kopf sank wieder auf das Kissen und sie drückte das Kindchen innig an ihre Brust.


 << zurück weiter >>