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Fünftes Kapitel

Zu Tod verwundet

Unterdessen lebte Hanna fröhlich und harmlos wie ein Vögelein in dem alten, rosenbewachsenen Häuschen in Chelsea dahin – kein banges Ahnen störte ihre sonnigen Träume. Sie vermißte ihren Gatten schmerzlich, über um so beseligender malte sie sich ihre glänzende, gemeinsame Zukunft aus. Das einzige, was sie betrübte, war die ihr auferlegte Pflicht des Schweigens; jetzt hätte sie so gern ihre Glückseligkeit der ganzen Welt anvertraut. Zuweilen konnte sie sich's nicht versagen, die Neugierde ihrer armen Mutter zu reizen.

»Findest du nicht auch, Mütterchen, daß das Haus alt und baufällig wird,« konnte sie lächelnd fragen, wenn sie miteinander Thee tranken, »und eigentlich ist es doch recht eng und unbequem. Ich möchte ein viel größeres Wohnzimmer haben als dieses hier, du nicht?«

»Größer, Hanna, größer?« rief Mrs. Warner und sah ganz erschreckt drein. »Aber was würde dein teurer Vater davon denken? Und wie kann ich es denn überhaupt größer machen? Ich bin kein Maurer und kein Zimmermann, wie du weißt. Obwohl, als ich noch ein Mädchen war, ehe dein Vater um mich warb – das Geißblatt blühte –«

»Ja, ja, Mamachen! Das weiß ich! Aber ich meinte, ob du nicht gern in einem viel größeren Hause leben möchtest als dieses ist – in einem schönen Hause – ganz auf dem Lande, und Wälder und Felder und Gärten ringsum? Wäre das nicht herrlich?«

»Ich begreife nicht, wie du so etwas vorschlagen magst – bedenkst du denn nicht, daß dein Vater uns dann nicht fände und vielleicht bis ans Ende seiner Tage durch das Land streifen müßte, um uns ausfindig zu machen? Es ist sehr unbedacht und thöricht von dir, Hanna, solche Pläne zu hegen; ich hätte das nicht von dir erwartet.«

»Aber wenn nun der Vater schon vor uns dort wäre, Mutter? Wenn er uns schriebe und uns sagte, daß er ein herrliches Haus habe für dich und mich und Wagen und Pferde, Diener und Gärten und einen Park – würdest du dich dann nicht freuen? Würdest du nicht gern hingehen und friedlich und fröhlich mit deinem Kinde dort leben?«

»Ja, wenn dein Vater dort wäre, dann freilich, Hanna,« rief das treue Herz.

»Liebe, süße, gute, arme Mutter,« sagte Hanna gerührt, indem sie neben ihren Stuhl kniete und sie zärtlich umschlang. »Du treue Seele! Meine arme, arme Mutter.«

»Ich weiß wirklich nicht, wie du darauf kommst, mich arm zu nennen, Hanna,« erwiderte Mrs. Warner, sich aus ihren Armen befreiend und ihre Haube zurecht rückend. »Die meisten Frauen werden mich glücklich preisen und mich beneiden und das mit Recht. Miß Prosser hat erst gestern abend gesagt, daß sie mir vollständig recht gebe und deinen Vater für den schönsten Mann der Welt halte. Nun, das kann nicht jede Frau von ihrem Gatten sagen.«

»Gewiß nicht, Mama,« gab die Tochter lächelnd zu.

»Du wirst es dereinst nicht sagen können, wenn du Mr. Cobble oder den Bäcker Fitch heiratest.«

»Das habe ich auch gar nicht im Sinn,« lachte Hanna fröhlich.

»Ich weiß nicht, mein Kind,« versetzte Mrs. Warner etwas gedrückt, »aber Miß Prosser sagt, daß nun, da Mr. Ewell fort ist, sie nicht wüßte, wen du sonst heiraten könntest. Ich glaube nicht, daß dein Vater damit einverstanden wäre. Ich erinnere mich, als wir verlobt waren – es war Sommer und das Geißblatt –« »Das ist Will – Mr. Ewell!« rief Hanna plötzlich mit tiefem Erröten, sprang auf und eilte zur Thür. Es war Sonnabend und sie hatte fast mit Sicherheit darauf gerechnet, daß er den Sonntag bei ihr zubringen werde. Er hatte dies während der letzten Wochen, seit er in der Stadt wohnte, regelmäßig gethan, letzten Sonnabend jedoch war er ausgeblieben und hatte ihr in seinen Briefen keine bestimmte Zusage für diesen Sonntag erteilt.

»O, Will!« rief sie ganz atemlos und vor Freude erglühend, »ich hatte solche Angst, du würdest nicht kommen, und das hätte mich so unglücklich gemacht. Mir ist's, als wäre ich jahrelang von dir getrennt gewesen.«

»Nun, wie du siehst, bin ich ja da.«

»Wie steht es mit deinen Angelegenheiten, Will? Wird nun alles – alles bald im reinen sein?« flüsterte sie.

»Darüber muß ich eben mit dir sprechen, Kind; zu dem Zwecke bin ich da und ich habe sogar eine dringende Einladung deshalb abgelehnt.«

Er ging sogleich in den Garten, wohin ihm Hanna nach ein paar Minuten folgte.

»O, Will! einen Kuß!« rief sie, als sie sich allein und vom Gebüsch verborgen wußten, »wie lange hab' ich dich nicht gesehen und deine Stimme nicht gehört!«

Er nahm seine Cigarre aus dem Munde und küßte sie nicht gerade kalt, aber auch nicht innig. Er war ihrer noch nicht überdrüssig, dafür war ihr Zusammenleben zu beschränkt und unterbrochen gewesen. Als seine Geliebte hätte er sie wahrscheinlich noch leidenschaftlich zu lieben geglaubt, als sein Weib fing er an, in ihr den Hemmschuh für seine gesellschaftlichen Erfolge zu erblicken, und der Gedanke bedrückte ihn, wenn er auch seine Gefühle selbst noch nicht abkühlte. Er küßte sie, aber mit einem Seufzer.

»Was ist geschehen?« fragte sie. »Bist du krank?«

»Keineswegs – seh' ich danach aus?«

»Nein, aber du hast geseufzt und ich mag dich nicht seufzen hören, wenn du bei mir bist! Machen dir deine Geldgeschäfte Sorgen?«

»Sicherlich nicht. Da fällt mir ein, ich habe dir einen Check von zwanzig Pfund mitgebracht; kaufe dir ein paar Kleider.«

»O, Liebster, wie gut von dir! Aber zwanzig Pfund, das ist ja ein Vermögen! Was soll ich denn mit all dem Gelde thun?«

»Unsinn! Ich habe mehr, als ich verbrauchen kann.«

»Mehr als du verbrauchen kannst!« wiederholte sie glückselig, »Klingt denn das alles nicht wie ein Märchen, und du kannst seufzen?«

»Ich habe in letzter Zeit Unannehmlichkeiten gehabt – sehr –«

»Was war es? Kannst du es mir nicht sagen? Kann ich dir keinerlei Rat oder Trost geben? Ach, Will, mir ist's, als ob dies Verheimlichen unsrer Heirat alles schlimmer machte. Wann wird es endlich nicht mehr nötig sein? Sieh, es ist hohe Zeit, daß die Leute erfahren, daß ich deine Frau bin. Es versetzt mich in eine falsche Stellung. Ach, wenn doch von Anfang an alles in Ordnung und Richtigkeit gewesen wäre!«

»Gewiß, aber darüber zu klagen, ist jetzt zu spät, Hanna; du hast recht, du bist in einer schiefen Stellung. Deshalb lag mir so viel daran, heute abend noch mit dir darüber zu sprechen.«

»Wie froh bin ich!« sagte sie arglos, »wie hab' ich diese Stunde ersehnt, Liebster, und gehofft, daß du mich keinen Tag länger als nötig in dieser Unsicherheit lassen würdest!«

»Natürlich nicht. Du erinnerst dich, daß ich das Geheimnis unsrer Heirat Mr. Parfitt anvertraut habe?«

»Deinem Anwalt? Ja!«

»Nun gut; er hat die Sache hin und her mit mir besprochen und mir bewiesen, daß unsre Trauung inkorrekt – ungesetzlich war.«

Hanna stand plötzlich still und starrte ihn an.

»Ungesetzlich? Will! Unsinn! Wir wurden ja in der Kirche getraut!«

»Gewiß, meine Liebe, aber, wie es scheint, kann eine Trauung in der Kirche stattfinden und doch ungesetzlich sein. Wir waren nicht volljährig, ich zwanzig, wie du weißt, und du siebzehn. Das nennt das Gesetz ›Minderjährige‹, und Minderjährige können ohne Zustimmung ihrer Eltern oder Vormünder keine Ehe schließen. Und ferner wurde ich unter einem angenommenen Namen getraut– ich nannte mich Wilfrid Stanley, damit mein Vater nichts davon erfahren sollte, und das alles war offenbar unrecht.«

»Aber du erhieltest doch die Licenz?«

»Allerdings, aber – ich habe dir das nie gesagt – ich mußte die Erklärung abgeben, daß wir beide mündig seien, sonst hätte ich sie nicht erhalten. Ich legte dem keinerlei Bedeutung bei, dachte niemals, daß es in Bezug auf die Trauung einen Unterschied –«

»Und was für einen Unterschied kann es ausmachen?« rief Hanna leidenschaftlich. »Du bist mein Gatte und ich deine Frau – daran kann doch kein Mensch etwas ändern!«

»Aber, mein liebes Kind, du verstehst mich nicht. Das ist es ja gerade, ich bin eben nicht dein Gatte und du bist nicht meine Frau – wir sind überhaupt rechtlich gar nicht verheiratet.« Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, totenblaß stand sie da.

»O, Will,« stammelte sie flehentlich, »das kann ja nicht wahr sein! Ein paar Worte können doch das nicht zu bedeuten haben. Und diese zwei Jahre?« fügte sie mit bebenden Lippen hinzu.

»Sei doch nicht kindisch und mach kein solches Aufheben von der Geschichte. Ich war auch etwas bestürzt, als Mr. Parfitt mir auseinandersetzte, unsre Trauung sei inkorrekt, oder vielmehr gar keine gewesen, und ich mußte erst mit mir selbst darüber ins reine kommen, ehe ich dich wiedersehen konnte. Aber es ist wahrhaftig keine Veranlassung, sich deshalb zu grämen, obwohl es schließlich besser sein wird, uns weniger häufig zu sehen, bis die Ceremonie in aller Form vollzogen werden kann.«

»Aber weshalb kann das nicht sofort geschehen? Weshalb es aufschieben? O, Will, es muß geschehen. Du mußt dir die richtigen Papiere verschaffen und mich nach Recht und Gesetz heiraten, so bald als möglich – das wenigstens bist du mir schuldig.«

»Wahrhaftig, Hanna, du hast eine möglichst unliebenswürdige Art, die Sache aufzufassen, und du solltest nicht durchblicken lassen, daß mich ein Vorwurf treffe. Du weißt, daß ich an die Richtigkeit der Ceremonie so fest glaubte, wie du selbst. Unkenntnis des Gesetzes ist der einzige Vorwurf, den du mir machen kannst.«

»Gewiß! aber nun, da wir alles wissen, dürfen wir keinen Augenblick zögern, unsre Pflicht zu thun. O, Will! Wann kann es geschehen? Ich habe keine ruhige Minute, ehe ich wirklich deine Frau bin.«

»Nun, nachdem wir zwei Jahre gewartet haben,« versetzte Sir Wilfrid lächelnd, »denke ich, können wir auch noch etwas länger warten. Es würde sich sehr sonderbar ausnehmen, wenn ich die Sache so hastig betriebe. Meinst du nicht selbst, daß es am besten sein wird, ein paar Wochen ruhig so fort zu leben, am Schluß der Saison uns trauen zu lassen, und einige Zeit ins Ausland zu gehen, ehe ich dich nach Lambscote bringe?« »Wochen so fortleben!« wiederholte sie. »Wochenlang dahin leben mit der Last, die du mir heute auferlegt hast, immer denken, daß ich dein Weib nicht bin, sondern – o, mein Gott! Nein, nein, Will! das kann nicht sein! Darein kann ich nicht willigen. Wir müssen sofort getraut werden – Hörst du – sofort! Ach, es wird auch dann noch schwer genug sein, zu denken, daß –« hier brach sie in Thränen aus.

»Nun, Hanna, wenn du eine Scene machen willst, so fahre ich augenblicklich in die Stadt zurück. Ich will nicht, daß Miß Prosser und dieser Cobble über uns klatschen. Ich habe dich immer für vernünftig gehalten, thue mir den Gefallen und sei es jetzt. Wir sind verheiratet, so gewiß, als nur irgend jemand. Du wirst doch wohl nicht glauben, daß ein reiner, aus Unwissenheit begangener Formfehler vor Gottes Auge die Sache ändern könnte? Natürlich müssen wir's, der Sitte zuliebe, noch einmal in aller Form durchmachen, aber vorderhand ist das unmöglich, also schlage dir den Gedanken aus dem Sinn. In ein paar Monaten, wenn du dich gedulden kannst, werden wir in aller Form Rechtens getraut!«

»Und wenn ich indessen sterbe?«

»Unsinn, Kind! Du stirbst nicht, und wenn du stirbst, so kommst du dorthin, wo du dich nicht um Priester und Advokaten zu bekümmern hast. Aber das ist ja unnützes Gerede. Gib mir einen Kuß und denke nicht mehr daran. Was geschehen ist, ist geschehen und wird am ehesten wieder gut gemacht, je weniger wir darüber reden.«

Aber Hanna gab ihm den Kuß nicht. Sonst war sie ja willig genug, jeden seiner Wünsche zu erfüllen, denn sie liebte ihn mit einer Tiefe und Glut, die er nicht ahnte und die er nicht verstanden hätte, wenn sie sie ihm geoffenbart hätte. Sie weinte und schluchzte nicht laut; ihre Gemütsbewegungen waren immer lautlos, so heftig sie auch waren; aber sie war ihrer Stimme nicht sicher genug, um sprechen zu können, er fühlte es und war ärgerlich darüber.

»Wollte Gott, ich hätte geschwiegen,« bemerkte er gereizt. »Du warst glücklich in deiner Unwissenheit; ich hätte es für mich behalten sollen.«

»Für dich behalten?« wiederholte Hanna. »Und mich fort und fort glauben lassen, daß ich deine Frau sei? Will, das kann dein Ernst nicht sein! So sündhaft kannst du nicht sein!«

»Sündhaft? Was wäre jetzt Sündhafteres daran als bisher?«

»Da wußten wir es nicht: nun wissen wir es.«

»Nun gut, aber sprich nicht mehr davon, Hanna, wenigstens jetzt nicht. Ich bin hierher gekommen, um mich zu zerstreuen, und nicht, um ein trübseliges Gesicht zu sehen. Hab' ich dir gesagt, daß Ridleys ihre Reise abkürzen und schon nächsten Monat zurückkehren werden, so daß ich vermutlich im August das Gut übernehmen kann? Lady Ewell schreibt mir, daß das Heu heimgebracht ist und daß die Ernte so vielversprechend sei wie seit Jahren nicht. Alles scheint sich mir günstig zu gestalten, und du freust dich nicht, du, die doch am meisten Ursache dazu hätte.«

»Ich freue mich ja, Will, du weißt, daß ich mich freue, aber diese Mitteilung hat mich zu sehr erschreckt.«

»Närrisch genug, wenn ich dir doch sage, daß es nicht das Geringste auf sich hat,« war Sir Wilfrids Antwort. »Halt, was für eine prächtige Rose! Laß mich sie dir ins Haar stecken. So – so sollst du dein Haar jeden Abend tragen als Lady Ewell, es sind Rosen genug in Lambscote, um dich von Kopf zu Fuß darein zu kleiden, wenn du Lust hast.«

»Ich liebe die Rosen,« sagte Hanna mit bebenden Lippen und einem erzwungenen Lächeln. So sehr sie sich auch Mühe gab, ihr Leid zu verbergen, es war zu schwer und ihre Augen füllten sich mit Thränen, so oft sie ihn ansah. Vor seinen Umarmungen bebte sie scheu zurück, als ob jede Zärtlichkeit plötzlich zum Unrecht geworden wäre, bis Sir Wilfrid böse ward und erklärte, daß er an diesem Abend noch nach London zurückkehren wolle. Er setzte voraus, daß sie ihn zurückhalten werde, aber es geschah nicht. Sie ließ ihn gehen, fast ohne Abschied, und wandelte lange, lange im Garten auf und ab, in tiefem Nachdenken über das, was er ihr mitgeteilt hatte.


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