Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel

Erneute Qual

Als Rosie an jenem Abend so ungewöhnlich spät nach Chelsea kam, glich Wolsey Cottage einem aufgestörten Ameisenhaufen. Der Thee stand auf dem Tisch und Mrs. Warner weinte leise, weil sie keinen bekam; Karoline lief unaufhörlich zwischen Küche und Hausthür hin und her; Miß Prosser versuchte von der Hausstaffel aus durch Dunkelheit und Nebel zu blicken, und Hanna schritt verzweifelnd vor dem Hause auf und ab. Sobald Rosie in Sicht kam, flog sie ihr entgegen: »O, mein Herzenskind! Wo bist du geblieben? Ach, meine Angst!«

»Liebste, süße, Hanna! O, vergib! Ich weiß, daß du mir verzeihen wirst, wenn du erst alles weißt. Ich wurde aufgehalten durch – durch –«

»Durch Mr. Denham? Das darf nie wieder vorkommen,« rief Hanna energisch. »Du sollst nicht arbeiten wie ein Galeerensklave und darfst nicht bei Nacht und Nebel nach Hause kommen. Morgen gehe ich mit dir und sage ihm, daß du nie über Zeit arbeiten darfst.«

»O, liebste Hanna! Rege dich doch nicht so auf. Du siehst mich ja frisch und gesund, mir ist kein Haar gekrümmt worden. Aber die gute, alte Mama habt ihr meinetwegen verhungern lassen!«

»Und du, Kind, wie hungrig mußt du sein seit heute früh um neun Uhr! Karoline hat ein schönes Kotelett fix und fertig.«

Rosie errötete. Sie hatte sich so reichlich gestärkt, daß sie nicht im stande war, ein Kotelett zu vertilgen, und wenn es ihr Leben gegolten hätte.

»Nein, Hanna, ich kann wirklich nichts essen, ich bin nicht hungrig.«

»Sie hat sich überarbeitet und den Appetit verloren,« meinte Miß Prosser.

Aber Hanna, der Rosies Verlegenheit nicht entgangen war, ahnte wohl, daß irgend etwas vorgefallen sein müsse.

»Du sagst mir's nachher?« flüsterte sie ihr ins Ohr.

»Gewiß, alles – immer,« erwiderte Rosie ebenso mit einem heimlichen Händedruck und beiden wurde die Zeit lang, bis sie sich in ihr Zimmer zurückziehen konnten. Hanna erwartete nichts andres, als von irgend einem kindischen Abenteuer zu hören.

»Kannst du's nicht erraten?« rief Rosie, »kannst du dir denn nicht denken, Hanna, wer mich abhielt, heimzukommen?«

»Nein, Herzchen, durchaus nicht. Hoffentlich kein Mann. Du darfst nie vergessen, was du dir schuldig bist und daß kein gebildeter Mann einem jungen Mädchen seine Begleitung anbietet, wenn er nicht im Hause eingeführt ist.«

»Aber es war ein Mann und dazuhin ein hübscher,« rief Rosie belustigt, »und er wünscht dringend, in Wolsey Cottage eingeführt zu werden.«

»O, Rosie! Du bist mit einem Fremden gegangen?« fragte Hanna.

»Nein, das nicht, du kluge Großmama, du! Er kam ins Atelier, wir freundeten uns an, er bat mich, Thee bei ihm zu trinken, und ich ging hin.«

»Aber, mein liebes Kind, das ist ja noch tausendmal schlimmer! Wie konntest du das thun? Du hast ja gar keine Ahnung von der Gefahr! O, wenn ich dir nur sagen konnte –« sie konnte vor Erregung nicht weiter reden.

»Herzenshanna, es ist so ein reizender Mensch und ich will, daß du ihm ganz besonders gut bist,« neckte Rosie.

»Dann soll er hierher kommen, offen und ehrlich, und ein argloses Kind nicht zu solchen Schritten veranlassen,« rief Hanna empört.

»Darf er denn kommen, Hanna? Erlaubst du es ihm?«

»Wenn es ein anständiger Mensch ist, warum nicht?«

»Aber, willst du ihm deine Freundschaft schenken, Hanna?«

»Wie kann ich das sagen, ehe ich ihn kenne!«

»Und doch liegt ihm so viel an derselben, und ohne diese will er nicht nach Chelsea kommen. Und er heißt – Wilfrid Ewell! Verstehst du nun alles? O, Hanna, es thut ihm so sehr leid, daß ihr einander fremd geworden seid, und er wagt nicht, zu mir zu kommen, ohne daß du es gestattest.«

Hanna hatte bei dieser plötzlichen Eröffnung ihre Selbstbeherrschung beinahe verloren. Sie war totenbleich geworden und beugte sich über Nellies Bettchen, um ihr Gesicht Rosies forschendem Blick zu entziehen.

»Wo hast du ihn getroffen?« fragte sie dann so ruhig, daß diese sich über ihre Teilnahmlosigkeit wunderte.

»Er kam in Denhams Atelier, wie ich dir sagte. Denke dir mein Staunen! Fast wäre ich vom Stuhl gefallen und er war ebenso bestürzt. Natürlich konnten wir dort nicht miteinander sprechen, und deshalb bat er mich, zu ihm zu kommen auf sein Zimmer. Das war doch nichts Unrechtes?«

»Nein, lieb Herz! Aber wie sonderbar sagst du – auf sein Zimmer?«

»Ach, das ist das Traurige, Hannchen. Lena und er vertragen sich nicht mehr – sehr natürlich. Nun wohnt sie bei ihrer Mutter und Wilfrid sagt, sie werden wahrscheinlich gar nicht mehr zusammenleben. Gut, daß er sie los ist, denke ich, aber er ist sehr unglücklich darüber. Natürlich war der liebe Mensch so froh, mich wieder zu haben, und als er mich so herzte und küßte, kam ich mir wie ein Ungeheuer vor, daß ich ihm meinen Aufenthalt so lange verschwiegen habe!«

»Kennt er ihn jetzt?«

»Selbstverständlich, und du hättest nur sein Gesicht sehen sollen, als er das hörte. Er fragte nach euch allen und fürchtet sehr, du haltest ihn für undankbar. Nicht wahr, du erlaubst ihm, zu kommen?«

»Nein, Rosie; das kann ich nicht.«

»O, Hanna! Ich hätte dich nicht für so hart gehalten.«

»Es ist unmöglich, Liebe. Du darfst mich nicht darum bitten.«

»O, und nach der langen Trennung, wo ich mich so sehr gefreut und gesehnt habe, ihn öfter zu sehen –« rief Rosie, in Thränen ausbrechend.

»O, Kind! Mache du mir's nicht so namenlos schwer,« sagte Hanna mit erstickter Stimme.

Bei dem Klang faßte sich das junge Mädchen rasch und bat innig: »Hanna, sag mir die Wahrheit! Was steht zwischen dir und ihm?«

»Das frage deinen Bruder. Ich kann es dir nicht sagen.«

»Kann es nie wieder gut gemacht werden?

»Nie. Das einzige, was hilft, ist darüber zu schweigen.«

»Aber wenn er deiner bedürfte, dann würdest du ihn doch wieder sehen?«

»Ich glaube nicht – in diesem Leben nicht.«

»Du bist unversöhnlicher als er, Hanna.«

»Vielleicht, Gott weiß es. Ich rede nur die Wahrheit.«

» Die Wahrheit ist sehr bitter und läßt mich fast bereuen, den Fuß je in dieses Haus gesetzt zu haben,« sagte Rosie, indem sie zu Bett ging.

Das war ein herbes Wort und Hanna litt furchtbar darunter. Lange, lange, als Rosie schon schlief, lag sie wach in ihrem Bett und fragte sich, was sie thun solle. Wäre er ihr gleichgültig geworden, so wäre der Kampf nicht so schwer gewesen. Aber sie hatte nie aufgehört, ihn als ihren rechtmäßigen Gatten zu betrachten und ihn nun bei sich aufzunehmen, als den Mann einer andern, war mehr, als sie zu ertragen vermochte. Und doch – er war einsam und gedrückt, er sehnte sich nach seiner Schwester – hatte sie das Recht, ihn dieses Trostes zu berauben? Oft würde er ja nicht kommen und sie konnte ihn während der wenigen Stunden, die er bleiben würde, vermeiden. Hätte sie es für möglich gehalten, daß er sie noch liebe, so würde sie die Gefahr einer solchen Begegnung vorausgesehen haben, doch daran dachte sie nicht.

Erst nach mehreren Tagen kam sie zu einem Entschluß. Rosie ging am andern Morgen mit verweinten Augen und in großer Entrüstung über das, was sie Hannas Grausamkeit und Ungerechtigkeit nannte, an die Arbeit. Doch noch ehe die Nacht hereinbrach, war die Entfremdung gewichen; sie hatten sich geküßt und miteinander geweint, und waren versöhnt eingeschlafen. Nach Verlauf von einigen Tagen sagte dann Hanna sehr, sehr ernst, daß sie sich die Sache überlegt habe und daß sie Sir Wilfrid nicht abhalten wolle, seine Schwester zu besuchen. Sie wünsche, daß Rosie ihm schreibe und ihn bitte, sie zu besuchen, ohne dabei Hannas irgendwie zu erwähnen; zur Bedingung machte sie, daß er seinen Besuch immer vorher ankündigen solle.

Rosie war überglücklich und schrieb sofort, ganz so wie Hanna es haben wollte, und Sir Wilfrids Freude bei Empfang des Briefes war ebenso groß, wie die ihrige bei dessen Absendung.

Die Warners waren gar nicht darin erwähnt, aber er wußte ja, daß Rosie ohne Hannas Zustimmung ihn nicht aufgefordert hätte, zu kommen. Er war so seelenvergnügt und setzte sich sofort hin, um ihr zu schreiben, daß er morgen abend kommen werde. Dann ging er in seinen Klub, wo man sich allgemein über seine rosige Laune freute. Am andern Tage aber fand er, daß die Zeit fürchterlich langsam verstrich bis sechs Uhr, wo er sich dann endlich, nachdem er besonders sorgfältig Toilette gemacht hatte, nach Chelsea auf den Weg machen konnte.

Er zitterte förmlich, als die Droschke vor dem alten, grünen Hause hielt und er in der nächsten Sekunde Hanna gegenüber zu stehen glaubte. Aber diese Aufregung war verfrüht; Karoline war es, welche die Thür öffnete. Der Haushalt war am Tage zuvor von Rosies wahrem Namen und Sir Wilfrids bevorstehendem Besuch in Kenntnis gesetzt worden und er ward sofort ins Wohnzimmer geführt, wo er Rosie allein traf. Sie plauderten miteinander, doch ohne rechte Freude daran zu haben.

Sir Wilfrid fragte nach Mrs. Warner und Miß Prosser, nach dem Papagei und nach der Katze, nach tausend Dingen, die ihm gleichgültig waren – nach der, an die er dachte, fragte er nicht. Endlich sprang er auf.

»Komm, wir wollen in den Garten gehen!« rief er. »Wie manchen Tag habe ich drin gearbeitet und frohe Stunden drin verlebt.«

Er hatte vergessen, daß es erst März war; der Garten war kahl, düster, öde. Ein paar Schneeglöckchen und Krokus schauten schüchtern heraus, aber der graue Nebel verdarb einem die Freude dran.

»Es ist frostig,« bemerkte er, »und du könntest dich erkälten. Am besten ist's, wir setzen uns ans Feuer. Wo steckt denn die Familie? Ich erwartete, Mrs. Warner und Miß Prosser anzutreffen,«

»Miß Prosser ist, glaube ich, in einen Missionsverein gegangen,« erwiderte Rosie befangen, »und hat Mrs. Warner mitgenommen; die gute Seele versteht natürlich kein Wort davon, aber es macht ihr Freude. Sie ist so eine liebe, nette, alte Dame, ich mag sie so gern leiden.«

»Ja, ich erinnere mich; ein harmloses, altes Ding,« stimmte ihr Bruder bei.

Dann schwiegen beide und schienen kein Gesprächsthema mehr finden zu können. Plötzlich sah Sir Wilfrid nach der Uhr.

»Donnerwetter! schon neun Uhr!« rief er aus. »Und ich habe mich auf halb neun Uhr verabredet. Ich werde wohl an der Ecke einen Wagen finden?«

»Ich glaube, es ist ein Droschkenstand dort,« erwiderte seine Schwester leise. Als sie ihn zur Hausthür geleitete, sagte sie noch: »Wilfrid, Hanna findet es nicht unpassend, wenn ich dich in deiner Wohnung aufsuche – darf ich zuweilen kommen?«

»Natürlich: wann du Lust hast,« versetzte er zerstreut und fügte, als ob es ihm ganz plötzlich eingefallen wäre, hinzu: »Wo ist denn Hanna?«

»Ich weiß es nicht, Will. Wahrscheinlich ausgegangen; ich hörte sie zu Karoline sagen, daß sie zu Mrs. Martin zum Thee gebeten sei.«

»Wer zum Kuckuck ist das?« fragte er gereizt.

»Unsre Nachbarin. Aber wenn Hanna gedacht hätte –«

»Sie braucht gar nichts zu denken,« sagte der Baronet davoneilend, ohne eine zweite Zusammenkunft besprochen zu haben.

Rosie trocknete die Augen, als sie die Thür hinter ihm zumachte. Der Besuch, den sie so sehnlich erwartet hatte, war eine bittere Enttäuschung gewesen.

Während all dieses unten vorging, war Hanna in ihrem Zimmer. Sie hatte die Thür verriegelt und weinte bitterlich am Bettchen des schlafenden Kindes.

Nach wenigen Stunden hatte sich Sir Wilfrid völlig beruhigt über Hannas Nichterscheinen – dasselbe war entweder zufällig gewesen, oder des armen Wesens Aufregung bei dem Gedanken an ein Wiedersehen war so groß, daß sie nicht gewagt hatte, ihm unter die Augen zu treten. Als jedoch Wochen vergingen, als er drei- oder viermal Rosie besuchte, ohne Hanna zu Gesicht zu bekommen, geriet er mit dieser seine Eitelkeit so befriedigenden Auffassung etwas in die Brüche. Er fing an, zu begreifen, daß sie ihn absichtlich vermied, und das machte ihn verdrießlich und unruhig. Rosie war kaum minder enttäuscht als ihr Bruder. Sie konnte nie einen triftigen Grund für die Abwesenheit ihrer Freundin angeben, denn es wurde ihr nie ein solcher genannt; alles, was sie wußte, war, daß Hanna nicht da war – wohin sie gegangen, galt ja gleichviel, jedenfalls ging sie fort, um eine Berührung mit dem Manne zu vermeiden, der ihr Gatte gewesen war.

Endlich sprach Sir Wilfrid mit Rosie darüber und nahm ihre Hilfe in Anspruch.

»Es ist verrückt, wie wir Versteckens spielen, Hanna Warner und ich,« sagte er. »Kannst du mir nicht irgendwie und -wo Gelegenheit verschaffen, sie zu sprechen; ich bin überzeugt, dann käme alles in Ordnung. Aber auf diese Weise kann ich dich nicht mehr besuchen; ich komme mir ja vor wie ein Eindringling, wenn ich die Herrin des Hauses aus demselben vertreibe.«

Und Rosie, die alle Feuer- und Wasserproben lieber bestanden hätte, als auf ihres Bruders Kommen verzichtet, versprach, recht aufzupassen und das Ding möglichst schlau anzufangen, und schon eine Woche darauf erhielt Sir Wilfrid die Mitteilung, daß Hanna sich am folgenden Tag mit Nellie und dem Kinderwagen nach einer eine schwache Stunde weit entfernten Farm begeben werde, um Butter und Eier zu kaufen und daß dies eine gute Gelegenheit wäre, sie zu überraschen.

Sir Wilfrid geriet in die größte Aufregung. Er konnte es gar nicht mehr fassen, wie er zwei Jahre ohne Kunde von ihr hingelebt hatte. Wenn sie in dieser Zeit gestorben wäre! Was er wollte, war einzig, wissen, ob sie glücklich war und den Frieden ihres Herzens wieder gefunden hatte. Wenn sie ihn davon überzeugen konnte, so wollte er in Zukunft sich allen ihren Wünschen fügen – so glaubte er wenigstens.

Es war ein schöner Frühlingstag, Mitte April. Die Linden, welche am Wege standen, zeigten schon die ersten grünen Blätter; alles war frisch und duftig, die Vögel zwitscherten über seinem Haupte; man konnte kaum glauben, daß man sich nur eine Meile weit von der geräuschvollen Vorstadt befand.

Sir Wilfrid ging ungeduldig auf und ab, sich jeden Augenblick umsehend, ob sie noch nicht käme. Er war schon in der Nähe der Farm, lange ehe Hanna das Haus verlassen hatte. Endlich erblickte er sie; sie mußte es sein, die schlanke, anmutige Gestalt, die den kleinen Wagen vor sich herschob. Sie kam rasch näher und nun erkannte er sie deutlich.

Er bewunderte die Neigung des reizend aufgesetzten Kopfes – er hörte sogar den Klang ihrer weichen, vollen Stimme, als sie ein paar Worte mit dem Kinde sprach, und dann – dann ergriff er die Flucht; statt auf sie zuzueilen, ging er rasch auf die andre Seite der Landstraße, wandte ihr den Rücken zu und versenkte sich in den reizenden Anblick der Gasfabrik und einer neuen Bahnanlage von Chelsea.

Er hatte den Mut nicht, der Frau ins Auge zu sehen, an der er gefrevelt; ihm war, als ob ihn ein einziger Blick von ihr vernichten müßte. So stand er volle fünf Minuten und hätte wissen mögen, ob sie ihn erkannt, ob sie vielleicht mit ebenso laut pochendem Herzen auf der andern Seite der Straße stehe – ob sie vielleicht herüberkommen und ihn anreden werde.

Nichts derartiges geschah. Nachdem er geraume Zeit gewartet hatte, wandte er sich um und erblickte Hanna eine große Strecke vor sich, den Kopf anmutig zu dem Kinde niedergebeugt. Sie warf keinen neugierigen Blick zurück, der verraten hätte, daß sie des ritterlichen Baronets Rücken erkannt habe, und das verdroß ihn beinahe.

Was half es, für einen der hübschesten Männer zu gelten, wenn man ihn nicht einmal ansah! Er folgte ihr langsam in der Entfernung und studierte ihre ganze Erscheinung. Wie einfach sie gekleidet war, und doch hätte kein Mensch sie für etwas andres als eine Dame halten können. Je länger er ihr nachblickte, desto lebhafter stieg die Vergangenheit vor ihm auf. Die Jahre der Trennung schienen dahinzuschwinden – sie war wieder sein eigen, seine Frau, die er geliebt und geheiratet hatte, und er war entschlossen, mit ihr zu sprechen, koste es, was es wolle. Er folgte ihr von weitem bis zur Dairy Farm, in deren Thor sie verschwand.

Dies war der wenigst belebte Teil der Landstraße, weit und breit war niemand zu sehen und er beschloß, hier zu warten. Sie kam lange nicht, endlich erschien sie, von einer umfangreichen Pächtersfrau begleitet und fröhlich lachend. Wer sie so lachen hörte, der ahnte nicht, daß sie ein gebrochenes Herz in sich trug. Die Frau küßte das Kind.

»Meiner Seel'!« sagte sie bewundernd, »wie das wächst! Mir ist's, als wär's gestern, daß sie kaum spannenlang war.«

»Ja, und Sie sollten Sie nur schwatzen hören, Mrs. Baines,« sagte Hanna, »Jeden Tag ein neues Wort und jeden Tag einen neuen Unfug.«

»Das will ich meinen! Arbeit macht das auch, aber wenn die liebe Frau Mama Vergnügen dran hat, das ist die Hauptsache. Geben Sie nur acht, daß sie nicht auf die Blumen für Mrs. Warner sitzt; ich lasse die gute, alte Dame recht schön grüßen.«

»Ich werde sehr vorsichtig sein, Mrs. Baines, und danke Ihnen von Herzen. So etwas macht Mama die größte Freude. Nun aber heißt es abmarschieret – eins – zwei – drei und fort,« damit schob sie den kleinen Wagen kräftig zu dem Gärtchen hinaus auf die Landstraße. Sie hatte die Farm kaum ein paar hundert Schritte hinter sich, als sie mit dem Wagen gegen die Beine eines im Wege stehenden Herrn anfuhr, den sie nicht bemerkt hatte.

»Entschuldigen Sie,« sagte sie rasch.

Der Fremde antwortete nicht, entfernte sich aber auch nicht, und aufblickend erkannte sie zu ihrer Bestürzung Sir Wilfrid Ewell. Er sah ihr fest ins Auge mit einem unendlich traurigen Blick, der ihr den Atem benahm. Sie blieb stehen und beugte sich tief über den kleinen Wagen.

»Hanna,« fing er leise an, »sollen wir nie mehr Freunde werden?«

»Ihre Freundin bin ich stets geblieben,« versetzte sie mit bebenden Lippen.

»Aber du weigerst dich, mich zu sehen oder zu sprechen?«

»Wozu könnte es führen?« sagte sie in bittrem Schmerzenstone. »Es würde die Erinnerung nur qualvoller und die Gegenwart nur unerträglicher machen.«

» Dann hast du also darunter gelitten? Leidest noch? Deine Reue ist so heftig und schmerzlich wie die meinige?«

»Reue, Will? Ich habe kein Unrecht gethan.«

»Das ist wahr. Vergib. Aber laß mich deinen Freund bleiben!«

»Wozu? Das Vergangene kann nicht ungeschehen und nicht wieder gut gemacht werden. Dein Wille hat uns getrennt. Laß mich meine Straße unbelästigt weiter ziehen!«

»Ich kann nicht. Du weißt nicht, wie elend ich bin. Außer dir habe ich keinen, der den Namen Freund verdiente.« Sie schlug die Augen auf und sah ihn fragend an. Mitleid, der Frauen lieblichste Tugend, verdrängte für einen Augenblick alles andre.

»Keinen Freund!« stieß sie hervor, »und deine Mutter und Schwestern, und – die Frau, die du Lady Ewell nennst!«

»Hat dir Rosie nichts erzählt von den unglückseligen Mißverständnissen zwischen meiner – zwischen Lady Ewell und mir? Wir leben nicht mehr zusammen. O, Hanna, wie bald hat mich die Nemesis erreicht für meine wahnsinnige, verblendete Leidenschaft!«

»Sie erreicht uns stets,« sagte sie ruhig.

»Dich nicht, Geliebte, du hast ja nie ein Unrecht gethan. O, daß ich dir zeigen könnte, was ich leide, was ich empfinde! O, wie wollte ich dir danken für einen einzigen Funken von Mitleid und Erbarmen!«

Hanna fühlte sich ihrer Stimme nicht sicher genug, um zu antworten. Sie hatte diesen Mann geliebt – sie liebte ihn noch mit grenzenloser Hingebung, und sie zitterte davor, daß er es erraten könnte.

»Was ist es eigentlich, was du von mir verlangst?« fragte sie sanft.

»Deine Teilnahme, Hanna, Mißversteh mich nicht; was vorüber, ist vorüber; ich habe mich gebunden an eine andre und will mein Wort halten. Aber ich möchte wieder zu dir kommen können mit meinen Sorgen und Zweifeln, möchte dich fragen dürfen, was ich thun soll, und möchte deinem Rat folgen, sei mein Leitstern, mein guter Engel, wie dereinst!«

»O, Will,« sagte sie unter strömenden Thränen, »das kann nie mehr –«

»Bin ich denn ein Gegenstand des Widerwillens geworden, dessen Nähe du nicht ertragen kannst? Ist denn die Vergangenheit, an der ich Anteil habe, so verabscheuenswert, daß du sie nicht zurückrufen magst? Bin ich nicht mehr würdig, mit dir im nämlichen Zimmer zu sitzen, wie jeder andre alltägliche Bekannte?«

»Wenn ich glauben könnte, daß es zum Guten führte –«

»Und wie kann es denn Böses stiften oder gefährlich sein? Weil wir einander einst alles waren, sollen wir uns jetzt nicht mehr die Hand schütteln? Sieh, Hanna, ich schäme mich nicht, dir zu sagen, daß ich unglücklich bin. Meine Ehe war eine Reihe von Enttäuschungen; mein Geld hat mich nicht glücklich gemacht, mein Weib noch weniger. Laß mir den Glauben an ein reines schuldloses Herz, das mich einst um meiner selbst willen liebte und sich nicht scheut, es zu bekennen. Du weißt, wie lieb ich meine Schwester habe und wie sie an dir hängt. Für alles, was du an ihr gethan hast, kann ich dir nie Dankbarkeit genug zeigen. Lade nicht auch das noch auf mein schwer belastetes Gewissen, daß ich nicht einmal versuchen kann, dir zu danken. Du hast mir erlaubt, Rosie zu besuchen, aber du weigerst dich, mich zu empfangen – unter diesen Umständen würde ich mich selbst erniedrigen, wenn ich wiederkäme. Entweder verbiete mir meinen Besuch, oder entfliehe mir nicht länger.«

»Ich will das Haus nicht mehr verlassen, wenn du kommst. Ich verspreche dir –«

»O, Dank, tausend Dank! Und dann, Hanna –«

»Anne nich wein –« fiel hier die kleine Nellie ein, die mit weit aufgerissenen Augen dem Gespräch zugehört hatte und die Thränen ihrer geliebten »Anne« mit Schrecken gewahrte.

»Was für ein hübsches Kind.« bemerkte Sir Wilfrid, sie jetzt erst ins Auge fassend. »Wem gehört es?«

»Wem es gehört?« wiederholte Hanna langsam. »Sie ist ein angenommenes Kind; wir wissen nichts von den Eltern. Wir haben sie gefunden.«

»Gefunden! Wie merkwürdig.«

»Merkwürdig? Das kommt in London doch jeden Tag vor. Sie wurde über die Mauer in unsern Garten gelegt, und da mußten wir sie selbstverständlich behalten.«

»Nun, man hätte sie auch ins Findelhaus schicken können.«

»Ich Annes Dind,« bemerkte Nellie weise.

»Ja, mein Herzenskind, und Anne würde sich lieber zu Tode arbeiten, ehe sie dich hergäbe!« rief Hanna mit größtem Nachdruck.

»Ein sehr, sehr hübsches Kind!« sagte Sir Wilfrid wieder.

Er hatte recht. Der kleine, jetzt zweijährige Findling war eins der reizendsten Kinder geworden, die man sich denken kann. Blonde Haare in reicher Fülle umgaben das runde, rosige Gesichtchen, in dem ein Paar großer, grauer Augen mit dunklen Wimpern sich merkwürdig genug ausnahmen. Die zarten Hände und Füßchen wollten durchaus nicht zu der Abstammung von Landstreichern passen. Sie war allerliebst gekleidet, und eine graue Samtkapuze mit Chenillefranzen umrahmte das Gesichtchen äußerst vorteilhaft.

Hanna vergötterte das Kind und hätte sich jede Entbehrung für dasselbe auferlegt. Und die kleine Nellie erwiderte diese Liebe –, sie war »Annes Dind« und sehr empört, wenn jemand das bestritt; in Annes Armen schlief sie ein, von ihr allein ließ sie sich füttern, und den lieben langen Tag watschelte sie hinter ihr drein.

»Du scheinst ein besondres Talent zu haben, Hilfsbedürftige an dich zu ziehen,« bemerkte Sir Wilfrid. »Erst meine Schwester, und nun diese kleine Waise.«

Sie hatten nun die Straße erreicht und Hanna atmete etwas freier; der einsame Weg war furchtbar gewesen.

»Hanna, nicht wahr, ich habe dein Leben nicht ganz elend gemacht?« flüsterte Sir Wilfrid leise.

»Es liegt in keines Menschen Macht, eines andern Leben ganz zu vernichten. Ich bin zufrieden mit dem meinigen.«

»Das war's, was ich zu hören hoffte,« rief er im Tone größter Befriedigung. »Du bist glücklich und zufrieden! O, Hanna, du weißt nicht, welche Last du mir vom Herzen genommen hast.«

Immer an sich denken und seine eigne Ruhe – immer noch unfähig, zu begreifen, welch ein Thränenmeer sie durchschwommen hatte, ehe sie den Frieden erreichte – immer noch ahnungslos, daß diese Ruhe eine schwer erkämpfte war und daß Hanna Warner mit dem Versprechen, ihn wiederzusehen, sich nur ein neues Martyrium auferlegt hatte.

Sie hatten die Gartenthüre erreicht. In der Absicht, Hanna eine Freude zu machen, hielt er dem kleinen Mädchen ein Goldstück hin.

»Will Nellie sich eine schöne Puppe kaufen?« sagte er.

Das Kind griff nach der blanken Münze, aber Hanna wies die gebotene Gabe mit Würde zurück.

»Sie darf das nicht nehmen,« sprach sie bestimmt. »Sir Wilfrid Ewell kann dies Haus nur besuchen, wenn er niemals in den Irrtum verfällt, mir oder – oder dem Kinde irgend ein Geschenk anzubieten.«

Mit diesen Worten wandte sie sich voll Hoheit ab und ging ins Haus, ohne einen Blick nach ihm zurückzuwerfen. Sir Wilfrid begriff ihre Erregung durchaus nicht. Er stand da, sah ihr nach und drehte den Sovereign zwischen den Fingern, dann steckte er ihn mit einem leisen Fluch in die Tasche, drehte sich auf dem Absatz um und zog von dannen.

Hanna war schweigsam und gedrückt an diesem Abend. Sie wußte nicht, ob sie klug oder unklug gehandelt habe. Und doch, da sie die einzige war, die darunter litt, hielt sie es für ihre Pflicht, den Mann zu stützen so gut sie konnte, der um so viel schuldiger als sie, auch um so viel unglücklicher sein mußte.

Die Aufregung zog ihr die nervösen Kopfschmerzen zu, an denen sie jetzt so häufig litt. Mrs. Warner und Miß Prosser erklärten, daß der Weg nach der Dairy Farm zu weit sei und sie zu sehr angestrengt habe, und rieten ihr, das nächste Mal im Omnibus zu fahren.

Die schuldbewußte Rosie erriet die Ursache dieser Kopfschmerzen richtiger und prophezeite lauter Glückseligkeit als Folge dieses Jammers. Und als sie zu Bett ging und Hanna schlafend fand mit großen Thränentropfen an den Wimpern, wußte sie, daß sie sich nicht getäuscht hatte, und malte sich den Tag aus, an dem diese zwei ihr so lieben Menschen, Wilfrid und Hanna, versöhnt und vereint wären.

Ach, sie verstand noch nicht, daß Liebe oft das unübersteiglichste Hindernis ist, das zwischen zwei Menschenherzen errichtet werden kann.


 << zurück weiter >>