Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.


Herr Seagrave und William gingen in die Kajüte hinunter, wo sie Alles in voller Beschäftigung fanden, denn der Aufwärter hatte eine Schüssel heißer Erbsensuppe für die Kinder gebracht; Tommy, welcher neben seiner Schwester auf dem Bette saß, hatte sie aus Juno's linker Hand gerissen, da sie in der rechten den kleinen Albert hielt, und in seiner Hast die heiße Suppe über Karoline hinuntergeworfen, die jetzt laut aufschrie, während Juno, welche Karoline beispringen wollte, mit dem Knäbchen auf dem Decke ausgeglitten war, das jetzt gleichfalls erschrocken weinte, obschon es keinen Schaden genommen hatte. Zum Unglück war aber Juno auf den Dachs Viren gefallen, der sie zur Erwiederung in das Bein biß, so daß also auch Juno schrie, während Frau Seagrave im höchsten Schrecken den Kopf aus ihrer Bettstelle heraussteckte, ohne im Stande zu seyn, irgend Jemanden Beistand zu leisten. Herr Seagrave kam daher gerade zu rechter Zeit hinunter, um Juno und das Bübchen aufzulesen, und versuchte dann, die kleine Karoline zu trösten, welche im Grund nicht viel gebrüht worden war, da die Suppe Zeit gehabt hatte, sich abzukühlen.

»Master Tommy ist ein sehr garstiger Knabe,« rief Juno, ihr Knie reibend.

Tommy hielt es für das Beste, gar nichts zu sagen, und erhielt nun eine gebührende Standrede; der Aufwärter reinigte die Tische, und die Ordnung war endlich wieder hergestellt.

Inzwischen war man auch auf dem Decke nicht müßig gewesen. Der Zimmermann hatte statt eines großen Mastes eine der ledigen Stengen eingesetzt, und die Matrosen waren mit Anfertigung des Takelwerks beschäftigt. Unglücklicherweise hatte jedoch das Schiff auch einen Leck erhalten, und die vier Matrosen, welche an den Pumpen zu arbeiten hatten, wurden ihnen in ihrer Aufgabe sehr hinderlich. Wie Ready prophezeiht hatte, so begann vor Einbruch der Nacht ein schwerer Sturm zu blasen. Die See hob sich wieder und das Leck des Schiffes erweiterte sich dermaßen, daß wegen des nöthigen Pumpens alle übrige Arbeit eingestellt werden mußte. Der Sturm dauerte noch zwei Tage an, während welcher Zeit die Mannschaft sich in einem Grade erschöpfte, daß sie nicht länger pumpen konnte. Beim Rollen des Schiffes zeigte sich, daß es bereits viel Wasser in seinem Räume hatte, und zu der dermaligen traurigen Lage gesellte sich nun noch ein neues Unglück, das von den ernstlichsten Folgen begleitet war. Kapitän Osborn ertheilte eben auf der Back seine Befehle, als der Riemen des Blocks, an welchem die Bramraa an dem Stumpf des Fockmastes aufgehißt wurde, zerriß. Die Raa und das Segel stürzten auf das Deck herab und schlugen den Schiffer besinnungslos nieder. Solange Kapitän Osborn das Kommando führte, verrichteten die Matrosen freudig und gut ihre Arbeit; denn sie hatten eine hohe Meinung von seinen Fähigkeiten und verloren ihren Muth nicht, wenn er ihnen in seiner gewohnten heiteren Weise zusprach. Nun aber, da er, wenn auch nicht getödtet, so doch jedenfalls besinnungslos und zum Handeln unfähig war, glaubten sie keinem Zügel mehr gehorchen zu dürfen. Mackintosh war bei den Matrosen zu wenig beliebt, als daß seine Worte Gewicht hätten finden können. Sie achteten weder auf seine Bitten und fingen an, sich unter sich selbst zu berathen.

»Der Sturm hat sich gelegt, ihr Leute, und wir werden bald wieder schönes Wetter haben,« bemerkte Ready, indem er zu den Matrosen in die Back hinaufging. »Der Wind legt sich schnell.«

»Ja,« versetzte Einer von den Leuten, »und das Schiff geht schnell hinunter, das ist ebenso gewiß.«

»Eine tüchtige Bearbeitung der Pumpen würde uns jetzt sehr zu Statten kommen,« erwiederte Ready; »was sagt ihr dazu, meine Jungen?«

»Ein paar Gläser Grog werden uns noch besser bekommen,« entgegnete der vorige Matrose. »Was meint ihr, Kameraden? Ich denke, der arme Kapitän würde es uns nicht verweigern, wenn er noch sprechen könnte.«

»Was meint ihr damit, ihr Leute?« fragte Mackintosh. »Ihr wollt euch doch hoffentlich nicht betrinken?«

»Warum nicht?« antwortete ein anderer Matrose. »Das Schiff muß doch bald untergehen.«

»Das kann seyn – ich will es nicht in Abrede ziehen,« sagte Mackintosh, »aber das ist kein Grund, warum wir nicht dennoch sollten gerettet werden. Freilich wenn ihr euch betrinkt, ist keine Aussicht vorhanden, daß irgend einer mit dem Leben davon komme, und mir ist das meinige theuer. Ich bin bereit, mich euch in Allem anzuschließen, was ihr für gut haltet, und ihr mögt entscheiden, was geschehen soll; aber soviel ist gewiß, daß ihr euch nicht betrinken sollt, so lange ich's wehren kann.«

»Und wie wollt Ihr's wehren?« entgegnete einer der Matrosen mürrisch.

»Zwei entschlossene Männer können viel thun – ich könnte eigentlich sagen drei, denn in dem gegenwärtigen Falle wird Ready auf meiner Seite seyn, und auch der Kajütenpassagier wird es an Beistand nicht fehlen lassen. Vergeßt nicht, daß alle Feuerwaffen in der Kajüte sind. Doch warum sollten wir Streit anfangen? Sagt mit einemmale, was ihr zu thun gedenkt, und wenn ihr noch nicht schlüssig geworden seyd, will ich hören, was ihr vorzuschlagen habt.«

Da der Muth und die Entschlossenheit des ersten Maten wohl bekannt war, so beriethen sich die Matrosen abermals und fragten ihn dann um seine Meinung.

»Wir haben noch ein gutes Boot übrig – die neue Jolle auf den Spieren. Die übrigen sind weggewaschen worden, das kleine Boot im Sterne ausgenommen, welches nutzlos ist, da es fast in Stücke zerschlagen wurde. Wir können nun nicht mehr sehr weit von den Inseln seyn; ja, ich glaube sogar, daß wir uns mitten unter denselben befinden. Laßt uns daher das Boot mit Allem, was wir brauchen, ausstatten und ruhig an die Arbeit gehen. Trinkt soviel Grog, als ihr zu eurer Stärkung bedürft, und nehmt eine hübsche Menge Mundvorrath mit. Das Boot hat seine Masten, Segel und Ruder vollständig, und es müßte schlimm zugehen, wenn wir uns nicht sollten irgendwohin retten können. Ready, habe ich einen guten Rath ertheilt, oder nicht?«

»Euer Rath ist sehr gut, Mackintosh – nur sehe ich nicht ein, was aus den Kajütenpassagieren, aus der Frau und den Kindern werden soll. Und wollt Ihr den armen Kapitän Osborn verlassen, welcher ohne Athem und Besinnung hinten liegt? Oder habt Ihr auch hieran gedacht?«

»Nein, den Kapitän lassen wir nicht zurück,« sagte einer der Matrosen.

»Nein, – nein!« riefen die Andern.

»Und die Passagiere?«

»Thut uns leid um sie,« entgegnete der erstere Sprecher; »aber wir werden genug zu thun haben, um das eigene Leben zu retten. Das Boot ist nicht übergroß.«

»Gut, meine Jungen, ich bin mit euch einverstanden,« sagte Mackintosh. »Die Barmherzigkeit beginnt bei der eigenen Haut. Was sagt ihr also? Soll es so geschehen?«

»Ja,« erwiederten die Matrosen einstimmig.

Ready sah wohl ein, daß alle Vorstellungen vergeblich seyn würden, und die Matrosen schickten sich an, das Boot zuzurüsten und für ihre Bedürfnisse auszustatten. Zwiebeln, eingesalztes Schweinefleisch, zwei oder drei kleine Tonnen Wasser und ein Rumfaß wurden nach der Laufplanke gebracht; Mackintosh holte seinen Quadranten, seinen Kompaß und etliche Musketen sammt Munition herbei, und der Zimmermann hieb unter dem Beistand eines Anderen die Schiffsbollwerke bis auf das Schanddeck nieder, um so das Boot über Bord lassen zu können; denn da die Maste fehlten, war es natürlich unmöglich, es hinauszuhissen. Nach einer Stunde war Alles bereit. Man befestigte ein langes Tau an das Boot, welches nach dem Schanddecke geschafft wurde, damit man es über Bord lassen konnte, und dann brachte man die Breitseite des Schiffs gegen den Wind. Ready hatte an diesen Arbeiten keinen Theil genommen, sondern nur ein oder zweimal den Pumpensod untersucht, um sich zu überzeugen, ob das Wasser in dem Schiffe weiter griff. Dann setzte er sich an der Seite des Kapitän Osborn nieder, der noch immer in Folge des Schlages auf seinen Kopf besinnungslos dalag. Als das Schiff gegen den Wind gebracht war, kam Herr Seagrave auf das Deck und schaute umher.

Er bemerkte das bereit gehaltene Boot, die Mundvorräthe und Wassertonnen auf der Laufplanke, das Liegen des Schiffes gegen den Wind und das langsame Rollen unter den sich hebenden Wellen, bis endlich seine Augen auch auf Ready fielen, welcher neben dem für todt daliegenden Kapitän Osborn saß.

»Was soll Alles dies bedeuten, Ready?« fragte Seagrave. »Wollen die Leute das Schiff verlassen, und haben sie den Kapitän Osborn getödtet?«

»Nein, Sir – so gar schlimm ist es nicht. Der arme Kapitän Osborn wurde durch den Fall einer Raa niedergeschlagen und ist seitdem ohne Besinnung. Was übrigens den andern Punkt betrifft, so fürchte ich, daß er entschieden ist, denn Ihr seht, daß sie das Boot vom Stapel lassen.«

»Aber meine arme Frau – sie wird nicht im Stande seyn, zu gehen, denn sie ist so unwohl, daß sie sich kaum zu rühren vermag.«

»Ich fürchte, Herr Seagrave, daß sie nicht daran denken, Euch, Euer Weib oder Eure Kinder mit sich zu nehmen.«

»Wie? Sie wollen uns hier zu Grunde gehen lassen? Barmherziger Himmel! wie grausam! Wie barbarisch!«

»Es ist allerdings nicht freundlich, Herr Seagrave, aber dennoch, wie Ihr seht, ein Gesetz der Natur. Wenn sich's um die Lebensfrage handelt, so ist Jeder sich selbst der Nächste, denn das Leben ist süß. Sie benehmen sich nicht unfreundlicher gegen Euch, als sie gegen einander selbst handeln würden, wenn ihrer für das Boot zu viele wären. Ich habe schon früher etwas Aehnliches erlebt,« fügte Ready mit großem Ernste bei.

»Mein Weib! meine Kinder!« rief Herr Seagrave, sein Gesicht mit den Händen bedeckend. »Aber ich will mit ihnen sprechen,« fuhr er nach einer Pause fort. »Sicherlich werden sie doch den Geboten der Menschlichkeit Gehör schenken; und jedenfalls wird Herr Mackintosh einige Gewalt über sie haben. Meint Ihr nicht, Ready?«

»Nun, Herr Seagrave, wenn ich einmal sprechen muß, so will ich Euch gestehen, daß es unter ihnen kein härteres Herz gibt, als das des Herrn Mackintosh, und es ist vergeblich, bei ihm oder irgend einem unter dem Haufen durch Worte etwas erzielen zu wollen. Ihr dürft sie übrigens auch nicht zu streng beurtheilen, denn es ist Thatsache, daß das kleine Boot außer dem Mundvorrathe, den sie mitnehmen, nicht mehr Leute zu fassen vermag. Wollten sie Euch und Eure Familie mit ins Boot nehmen, so müßte Alles miteinander zu Grunde gehen. Wenn ich nicht hievon überzeugt wäre, so würde ich versuchen, ob ich sie nicht eines Besseren belehren könnte; so aber ist es vergeblich.«

»Aber was können wir dann anfangen, Ready?«

»Wir müssen unser Vertrauen auf einen allerbarmherzigen Gott setzen, Herr Seagrave, der über uns verfügen wird nach seinem Gutdünken.«

»Wir müssen? Wie – wollt Ihr denn nicht mit ihnen gehen?«

»Nein, Herr Seagrave. Ich habe mir das in dieser letzten Stunde bedacht und bin mit mir eins geworden, bei Euch zu bleiben. Sie gedenken den armen Kapitän Osborn mitzunehmen und ihm eine Aussicht zu geben. Auch mir haben sie dies angeboten, aber ich werde hier bleiben.«

»Um zu Grunde zu gehen?« versetzte Herr Seagrave überrascht.

»Wie Gott will, Herr Seagrave. Ich bin ein alter Mann, und mein Leben kommt nicht sonderlich in Betracht; auch hoffe ich, daß ich mich nach Kräften auf den Heimgang vorbereitet habe. Ich muß Euch sagen, Herr Seagrave, daß ich weit mehr an Eure Kinder, als an mich selbst denke. Mir ist's gleichgültig, ob ich ein paar Jährlein früher oder später abgerufen werde; aber ich möchte nicht die Blüthen in ihrem ersten Lenze abgerissen sehen. Vielleicht kann ich, wenn ich bleibe, noch nützlich werden, denn es steckt ein alter Kopf zwischen meinen Schultern, und ich mag Euch nicht dem Untergange preisgeben, wenn ich an die Möglichkeit denke, daß Ihr gerettet werden könntet, falls Ihr nur wüßtet, wie Ihr Euch zu benehmen hättet. Doch da kommen die Matrosen – das Boot ist bereit, und sie werden jetzt den armen Kapitän Osborn mit sich nehmen.«

Die Matrosen kamen nach dem Hinterschiff und huben den noch immer besinnungslosen Kapitän auf. Als sie wieder abzogen, rief Einer von ihnen:

»Kommt, Ready, es ist keine Zeit zu verlieren.«

»Kümmert euch nicht um mich, William; ich bleibe auf dem Schiff,« versetzte Ready. »Ich wünsche euch von ganzem Herzen guten Erfolg – und Ihr, Herr Mackintosh, müßt mir ein Versprechen geben, das Ihr mir hoffentlich nicht verweigern werdet. Wenn Ihr Euch nämlich geborgen habt, so vergeßt die nicht, welche Ihr hier an Bord gelassen. Trefft Maßregeln, daß sie unter den Inseln aufgesucht werden.«

»Unsinn, Ready! Kommt ins Boot,« erwiederte der erste Mate.

»Ich werde hier bleiben, Herr Mackintosh, und verlange von Euch nichts, als daß Ihr mir das Versprechen gebet, um das ich Euch eben gebeten habe. Theilt Herrn Seagraves Freunden mit, was sich zugetragen hat und wo wir am wahrscheinlichsten gefunden werden können, wenn es Gott gefallen sollte, uns zu erhalten. Weiter brauchen wir nicht. Wollt Ihr mir diese Zusage geben?«

»Ja, Ready, wenn Ihr denn einmal nicht anders wollt; aber,« fügte er bei, indem er auf Ready zuging und ihm ins Ohr flüsterte, »es ist Wahnsinn. Kommt mit, Mensch.«

»Gott behüte Euch, Herr Mackintosh,« entgegnete Ready, ihm seine Hand hinreichend. »Ihr werdet Euer Versprechen halten?«

Nach vielen weiteren Vorstellungen von Seite des ersten Maten und der Matrosen, welchen übrigens Ready nur ein taubes Ohr lieh, stieß das Boot ab und segelte in nordöstlicher Richtung weiter.

—————


 << zurück weiter >>