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Achtzehntes Kapitel.
Verschmähte Liebe

Die Zeitungen brachten am anderen Tage Berichte über die Vorstellung des »Don Juan,« welche für Madeleine eine Quelle des Kummers und der Sorge wurden. Die meisten Blätter widmeten dem Können der Debütantin nur einige kurze Zeilen, in welchen sie fast sämmtlich hervorhoben, daß der große Ruf, welcher der Sängerin vorausgegangen sei, sich nicht bewährt habe. Es sei zuzugeben, daß die Stimme stark und auch von schönem Klange sei, auch die technische Fertigkeit könne weitgehende Ansprüche befriedigen, aber das junge Mädchen lasse Leidenschaft und Feuer vermissen und bewege sich auf der Bühne wie eine Puppe. Im Tone sittlicher Entrüstung wurde fast in allen Blättern die Reclame, welche allzu laut in die Posaune gestoßen, und die bezahlte Claque verurtheilt, welche gerechter Weise den Unwillen des Publikums hervorgerufen habe. »Wir bedauern,« schloß ein Blatt seinen Bericht, »daß die junge Sängerin in die Hände von Leuten gerathen ist, die ihr junges Gemüth mit dem falschen Ehrgeize nach äußerem Effect vergiftet haben. Es fällt kein Meister vom Himmel, und es wäre für die junge Dame besser gewesen, wenn sie mit bescheideneren Ansprüchen in die Oeffentlichkeit getreten wäre.«

Mit welchen Gefühlen las Madeleine diese Berichte, welche so ziemlich alle gleichlautend waren! Was die ersten Kritiker mit so harten Worten an ihrem Gesange tadelten, hatte sie selbst im Herzen längst geahnt. Im Bewußtsein ihrer Schwächen hatte sie die Bühne betreten, aber auch mit der Hoffnung, daß man ihrem Fleiße und ihren guten Eigenschaften volle Gerechtigkeit widerfahren lassen werde. Länger als ein Jahr hatte sie nur für diesen einen Zweck gelebt und gearbeitet, und jetzt entriß ihr das unpassende Benehmen ihrer »Freunde« noch im letzten Augenblicke den Triumph des Erfolges. Sie fühlte sich unschuldig an dem widerwärtigen Spectakel, welcher scheinbar zu ihrem Gunsten in Scene gesetzt worden war, und mußte nun doch allein die bösen Folgen desselben tragen.

Ach, es waren schreckliche Stunden, welche sie schon in der Nacht verlebte, die der Vorstellung folgte. Mit glanzlosen starren Augen blickte sie in ihrem einsamen Zimmer um sich, und mit Schaudern, Scham und Kummer sah sie zu dem Bilde ihres Vaters empor. Wie oft hatte ihr dieses Bild in geheimnisvoller Weise Trost zugesprochen, wenn sie in bangen Zweifeln befangen des Augenblickes gedachte, wo ihr Schicksal entschieden werden sollte. Und jetzt war es entschieden. Man hatte sie verurtheilt. Einem Unschuldigen, der vom Gerichte zu einer harten Ehrenstrafe verurtheilt worden ist, konnte das Herz nicht verzweiflungsvoller, heftiger schlagen, als dem armen Mädchen, dessen Hoffnungen alle vernichtet worden waren.

Die Freunde und Gönner, welche noch vor kurzem den ausgehenden »Stern« umschwärmt hatten, waren jetzt alle verschwunden. Nach der Vorstellung hatte nur Mister Evenson Mitleid und Entrüstung gezeigt. Sie hatte sich, fast willenlos seinen Trostworten lauschend, von ihm nach Hause begleiten lassen, wo Riolle ihrer bereits wartete. Der Advocat richtete einige kühle Worte des Bedauerns an sie und die alte Gesellschaftsdame empfing ihre Pflegebefohlene wie ein unglückliches Opfer. Beide Herren hatten sich dann schnell empfohlen mit dem Versprechen, am nächsten Tage wieder zu kommen, und das, was nun geschehen müsse, eingehend mit ihr zu berathen.

Am folgenden Abend empfing sie schon den Besuch Riolles und Evensons. Die Leichenbittermiene des Advocaten stach gegen das zuversichtlich heitere Gesicht des Amerikaners ab.

»Mein Fräulein,« sagte Riolle nach einigen einleitenden Höflichkeitsphrasen, »ich habe Ihnen die unangenehme Nachricht zu überbringen, daß der Director der großen Oper mit dem Erfolge Ihres Debüts durchaus nicht zufrieden ist. Er läßt Ihnen durch meine Vermittlung sagen, daß er unter diesen Umständen auf Ihr vorgesehenes Engagement an der großen Oper verzichte.«

»Ich wußte es,« erwiderte Madeleine tonlos.

»Es ist dieser Entschluß des Directors,« fuhr Riolle fort, »ein harter Schlag für Sie, aber auch für uns. Jahrelange Mühe und beträchtliche Geldausgaben sind so gut wie umsonst gewesen. Nach diesem Mißerfolge wird es Ihnen fast unmöglich sein, jenem Ziele nahezukommen, welches uns entschädigen sollte.«

Madeleine wollte etwas erwidern, aber Riolle winkte ihr Schweigen zu.

»Unserem Contracte zur Folge haben Sie mir 60 000 Franken und einen Theil Ihrer Gage zurückzuerstatten. Ich muß nun, zusammen mit jenem Herrn, welcher einen Theil Ihrer Ausbildungskosten bestritt, darauf bestehen, daß Sie sich unseren ferneren Anforderungen und Anordnungen willig fügen, damit wir aus diesem Schiffbruche wenigstens etwas retten können.«

Madeleine bebte zusammen. Die Sprache, welche der Advocat führte, war hart und geschäftsmäßig und sie durfte sich über dieselbe nicht wundern, denn sie hatte sich ihm verkauft. Sie nickte nur mit dem Kopfe.

Riolle fuhr fort:

»Ich habe Ihnen bis heute den betreffenden Herrn, welcher Ihre Ausbildungskosten zum größten Theile bestritt, mit Namen noch nicht genannt. Es ist Mister Evenson, welcher bereits seit längerer Zeit Ihre Bekanntschaft genießt.«

Mister Evenson erhob sich, als er sah, daß Madeleine von der geschäftlichen Art und Weise des Advocaten peinlich berührt wurde. Er verbeugte sich und küßte der Dame ehrerbietig die Hand.

»Mein Fräulein,« sagte er dann, »mein Freund, Herr Riolle, kam eines Tages zu mir und trug mir Ihre gemeinsame Angelegenheit vor. Dann hatte ich das Vergnügen, Ihnen vorgestellt zu werden, und obgleich ich kein Geschäftsmann bin, so willigte ich doch sofort ein, Ihr großartiges Talent zu unterstützen. Ich stellte die Bedingung, daß mein Name nicht genannt werde, um Ihnen keinerlei Rücksicht gegen mich aufzuerlegen. Ich kann hoffentlich mit Recht sagen, mein Fräulein, daß wir uns seitdem gut mit einander vertragen haben.

Madeleine erröthete. In diesem Augenblicke vergaß sie den Argwohn, welchen sie im Innern gegen Evenson nährte, und sah in ihm nur den liebenswürdigen und bescheidenen Gönner, welcher auch im Unglücke ihr hilfreich zur Seite stehen wollte.

»Ich bin kein Geschäftsmann, wie Riolle, der eine mißlungene Geschäftsspeculation bedauert,« fuhr Evenson fort, »und bin Gott Lob reich genug, um das Geld, welches ich hergeliehen habe, auch ferner zu entbehren. Aber ich habe es mir einmal in den Kopf gesetzt, Ihnen die Anerkennung vor der Welt zu verschaffen, die Ihr großes Talent, Ihr eifriges Studiren und Ihre Persönlichkeit verdienen. Ich verzweifle nicht daran, im Gegentheil.«

»Sie sind so gütig, mein Herr. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für diese trostreichen Worte danken soll. Sie sehen eine unglückliche Sängerin vor sich, welche das Publikum von der Bühne wegzujagen sucht, und bieten mir trotzdem Hilfe an. Seien Sie versichert, ich würde diese Hilfe nicht annehmen, wenn ich nicht die Kraft und Fähigkeit in mir spürte, noch einmal den Kampf aufzunehmen. Und später, später werde ich Ihnen einmal mit der That danken können. Befehlen Sie ganz über mich. Was soll ich thun, um mich Ihrer Güte würdig zu erzeigen?«

Evensons Blick leuchtete seltsam auf, aber sofort zog sich seine Miene wieder in die gewöhnlichen Falten.

»Von Befehlen ist keine Rede. Herr Riolle hatte Ihnen in gewisser Beziehung zu befehlen, aber seit gestern sind alle seine Ansprüche an Sie auf mich übergegangen und ich verzichte auf Befehle. Wenn Sie aber meine Wünsche berücksichtigen wollen, so glaube ich, daß Sie daran gut thun.«

»Ihre Wünsche werden mir fortan Befehle sein, mein Herr. Sie haben, soviel ich davon verstehe, nun auch eine rechtlich giltige Forderung an mich, die ich acceptiren muß.«

»Diese Forderung existirt allerdings, mein Fräulein, aber mir ist sie nur eine formelle.«

Madeleine war in der That von dem liebenswürdigen Benehmen des Amerikaners gerührt, sie reichte ihm freundlich die Hand. Dann wendete sie sich gegen Riolle, der mit ziemlich gelangweilter Miene dem Dialoge zugehört hatte, und sagte:

»Und Sie, Herr Riolle, müssen meinen Dank auch entgegennehmen. Ich kann Ihnen nichts anderes bieten für die Mühe und Geldopfer, welche Sie meinetwegen, und zwar umsonst, gehabt haben.«

»O, was das betrifft,« erwiderte der Advocat, »so bitte ich, sich deshalb nicht beunruhigen zu wollen. Herr Evenson hat mit mir alles zu meiner Zufriedenheit geregelt. Ich erhebe gar keine Ansprüche mehr.«

Riolle stand auf und wandte sich ab. Er konnte ein cynisches Lächeln nicht unterdrücken und wollte es Madeleine nicht sehen lassen.

»Und haben Sie schon beschlossen, was nun geschehen soll?« fragte Madeleine Herrn Evenson, der aus gleichem Grunde wie Riolle ihr den Rücken zugewendet hatte und am Fenster stand.

Evenson wandte sich wieder um.

»Noch nichts Festes, mein Fräulein. Ich werde Ihnen in der nächsten Zeit einen Plan mittheilen, welchen Sie hoffentlich billigen werden, und bitte mich, nun für heute entschuldigen zu wollen. Ich habe in Ihrem Interesse noch mehrere Besuche zu machen und Erkundigungen einzuziehen.«

Die beiden Herren empfahlen sich. Als sie die Treppe hinabstiegen, blinzelte Evenson den Advocaten an und sagte:

»Wie denken Sie über das Geschäft?«

»Der Vogel ist gefangen.«

»Noch nicht. Er geht aber ins Garn. Ich hätte nicht geglaubt, daß in Paris eine solche Unschuld blühen könnte. Ihre Naivetät ist grenzenlos.«

Riolle zuckte mit den Achseln.

»Wann gedenken Sie abzureisen?«

»In spätestens acht Tagen denke ich mit der gefangenen Nachtigal auf dem Meere zu schwimmen. Die ›Havannah‹ fährt nach Mexiko. Ein schönes Land, nicht wahr?«

»Wie man's nimmt. Man ist dort seines Lebens und seiner … seiner Selbstständigkeit und Freiheit nicht sicher.«

»Ja, ja, die Freiheit ist eine schöne Sache. Es würde mir leid thun, wenn dem Fräulein Bourdon dieselbe dort abhanden kommen sollte.«

Der Amerikaner lachte auf. Dann schritten die Herren einem nahen Café zu und in einem Hinterzimmer desselben zahlte Mister Evenson dem Advocaten hundertundachtzigtausend Franken in guten Banknoten auf den Tisch …

Schon am anderen Tage kehrte Mister Evenson allein zu Madeleine zurück und benachrichtigte sie davon, daß er mit ihr nach Amerika reisen wolle. Er that dies in einer ruhigen geschäftlichen Weise, sodaß Madeleine keinen Verdacht schöpfte. Freilich erschrak sie ein wenig, als sie an die weite Reise, an den Abschied von ihrem Vaterlande dachte, aber sie mußte die Gründe billigen, welche Evenson für maßgebend hielt.

»Hier in Paris,« sagte er, »haben Sie, ich muß es mit Bedauern gestehen, vorläufig alles Terrain zum Avanciren verloren. Dieser unglückselige Abend, welchen Sie den allzueifrigen Bemühungen Ihrer Freunde verdanken, schneidet Ihnen für die nächsten Jahre jede Hoffnung ab, auf einer Bühne ersten Ranges in Frankreich zu debütiren. In Amerika liegen die Verhältnisse anders.«

»Glauben Sie, daß man meinem Talente dort größere Gerechtigkeit widerfahren läßt?«

»Soll ich Ihnen aufrichtig antworten?«

»Ich bitte darum.«

»Von Musik verstehen meine theuren Landsleute so viel, wie ich von der türkischen Sprache; aber, wenn man ihnen mit möglichst viel Pathos in die Ohren schreit, die demnächst auftretende Sängerin sei die Göttin der Musik selbst und wäre eigens nach Amerika herübergekommen, um sich ihr göttliches Recht von den Amerikanern bestätigen zu lassen, dann schmeichelt diese Bitte ihnen viel zu sehr, als daß sie dieselbe abschlagen könnten. Sie werden Ruhm und – Geld ernten.«

Auf das Wort Geld legte Evenson die Betonung. Es war ihm nicht entgangen, daß Madeleine den Beruf der Sängerin erwählt hatte nicht wegen der Kunst allein, sondern auch, um sich ein Vermögen zu verdienen. Als er zuerst solche Anspielungen aus Madeleinens Munde hörte, erschienen ihm diese räthselhaft und gar nicht mit dem sonstigen stillen und keuschen Charakter des Mädchens übereinstimmend. Er nahm aber Gelegenheit, im leichten Gespräche den Geldpunkt mehrfach zu berühren und fand stets ein freundliches, ja sogar hastiges Entgegenkommen. Sie machte sonst gar nicht den Eindruck einer Habsüchtigen, und deshalb dachte er häufig, daß Madeleine einen besonderen, geheimnisvollen Grund haben müsse, sich um die Erwerbung eines großen Vermögens zu bemühen. Doch alle seine Versuche, die Gedanken des Mädchens zu errathen, schlugen fehl. Es blieb für ihn nur die Thatsache bestehen, daß die Hoffnung auf Gelderwerb das bestimmende Moment aller ihrer Bestrebungen und Handlungen war. Daraufhin baute er den schändlichen Plan, seine Schutzbefohlene in die einsamen Steppen Amerikas zu verlocken, und spiegelte ihr goldene Luftschlösser vor, indem er auf die großartigen pekuniären Erfolge so vieler anderer Sängerinnen in Amerika hinwies.

»Geld!« murmelte Madeleine in Gedanken verloren vor sich hin. »Ja, ich will Geld verdienen.«

»Eine bestimmte Antwort,« fuhr Evenson fort, der so that, als ob er nichts gehört habe, »verlange ich heute noch nicht. Ich komme morgen wieder und wenn Sie dann meinem Vorschlage zustimmen, so können wir schon in acht Tagen abreisen.«

Evenson empfahl sich in derselben höflichen und zurückhaltenden Weise, wie gewöhnlich, obgleich stets, wenn er mit Madeleine zusammen war, die heftigsten und verhängnisvollsten Begierden in ihm erwachten. Aber er bezwang sich. Eine geheime Stimme sagte ihm, daß er in demselben Augenblicke, wo Madeleine seine Absichten errieth, auch alle Macht über sie verloren haben würde. Aus diesem Grunde suchte er die Rolle eines uneigennützigen Gönners so gut wie möglich durchzuführen, und in der That war er ein Meister im Komödienspielen. Er dehnte seine Besuche nie über die Gebühr aus und Madeleine empfand daher nicht einen Augenblick, daß sie gefangen war. Heimlich wurde sie im Auftrage Evensons von der Gesellschaftsdame überwacht, die demselben über alle Gespräche und Handlungen Madeleinens Bericht geben mußte. Aus dieser Quelle erfuhr er denn auch, daß ein gewisser Herr Leon Haupois in den letzten zwei Tagen mehrfach an der Hausthür gewesen sei und sich bei Madeleine angemeldet habe. Die Letztere hätte jedoch ein für alle Mal den Auftrag gegeben, diesen Herrn nicht vorzulassen.

»Leon Haupois,« der Name war Mr. Evenson nicht unbekannt. Er hatte, wie ganz Paris, von der Skandalgeschichte Haupois-Cara gehört und machte sich deshalb über das Benehmen desselben gegen Madeleine keine Bedenken. Die Abneigung, welche Letztere demselben so deutlich zeigte, bot dem Amerikaner genügende Garantie, daß Herr Haupois, falls er wirklich in Liebe zu Fräulein Bourdon entbrannt war, seinen Plan nicht durchsetzen könne. Dennoch nahm er sich vor, bei Gelegenheit diesem zudringlichen Gesellen einen Besuch zu machen und sich vorerst nach dessen genauer Adresse zu erkundigen.

Als Evenson sie verlassen hatte, verbrachte Madeleine mehrere Stunden einsam in ihrem Zimmer. Sie überdachte ihre Lage, und je länger sie über den Vorschlag ihres Gönners nachdachte, desto willkommener schien ihr derselbe. Da dieses Anerbieten augenblicklich die einzige Aussicht bot, dem heißersehnten Ziele nahe zu kommen, so zögerte sie nicht mit dem festen Entschlusse, am morgigen Tage Herrn Evenson zu antworten. Nun, da ihre Gedanken nach einer bestimmten Richtung concentrirt wurden, wurde auch ihr Gemüth ruhiger und heiterer, die Hoffnung zog aufs neue in ihr Herz ein.

Es war allmählich der Abend herabgesunken und das Zimmer wurde nur durch ein schwaches Dämmerlicht erleuchtet. Die Gesellschaftsdame hatte sich auf zwei Stunden Urlaub erbeten und auch erhalten. Nur Madeleine und eine erst kürzlich engagirte Magd waren auf der Etage anwesend. Da läutete es plötzlich an der Etagenthür und Madeleine hörte, wie die Magd dieselbe öffnete und mit Jemandem einige Worte wechselte. Dann hörte sie im Corridor Schritte und gleich darauf wurde die Zimmerthür geöffnet.

»Bitte, treten Sie näher, mein Herr,« sagte das Mädchen, »Madame befindet sich im Salon.«

Madeleine fuhr erschreckt von ihrem Sitze empor. Als sie eine dunkle Männergestalt eintreten sah, war ihr erster Gedanke, es sei Leon, der, wie wir wissen, schon mehrmals den Versuch gemacht hatte, bei ihr einzutreten.

»Wer sind Sie, mein Herr?« fragte sie erschreckt.

»Beunruhigen Sie sich nicht, mein Fräulein,« erwiderte eine Stimme, die ihr bekannt schien.

»Zünden Sie die Gasflamme an,« befahl Madeleine dem Mädchen, welches auch schon im selben Augenblicke ein Streichholz anrieb.

Madeleine erkannte sofort beim Aufflackern der Flamme ihren späten Besuch. Sie holte tief Athem: es war nicht Leon.

»Herr Byasson!« rief sie erstaunt aus.

»Ja, ich bin's, mein liebes Kind, und herzlich froh, endlich vorgelassen zu werden.«

Das Mädchen entfernte sich. Madeleine, welche verwirrt und erstaunt war, bot Herrn Byasson mit einer Handbewegung einen Sessel an und nahm ihm gegenüber Platz.

Byasson betrachtete einen Moment das blasse Antlitz Madeleinens, und dann, offenbar mit dem Resultate seiner Prüfung zufrieden, begann er mit freundlichem Tone:

»Glauben Sie nicht, mein Kind, daß ich in einer beleidigenden Absicht zu Ihnen gekommen bin. Mich trieb mein Herz, Sie wiederzusehen, nachdem ich von Ihren Schicksalen gehört und Ihre Wohnung erkundet hatte.«

Madeleine fand keine Worte der Erwiderung und erröthete. Die Erinnerung an ihr Unglück trieb ihr die Schamröthe ins Gesicht.

»Vergessen wir das Vergangene,« fuhr Byasson fort. »Ich habe nicht das Recht, Ihnen Vorwürfe zu machen, daß Sie Ihre Familie heimlich verlassen haben. Wir wollen nur von der Gegenwart sprechen.«

»Sprechen Sie, Herr Byasson, aber zuvor bitte ich Sie, mir mittheilen zu wollen, wie es meinem Onkel und meiner Tante geht.«

»Es geht ihnen gut, obgleich sie seit Ihrem Fortgehen schwer geprüft worden sind. Wenn Sie sie wiedersehen, werden Sie sie gealtert finden. Ihr Onkel ist nicht mehr der kräftige Mann, welcher so stolz in den Champs Elysées spazieren ging, und Ihre Tante ist stiller und ruhiger geworden. Aber fragen Sie mich nicht, wie es Leon geht?«

Als er so sprach, bemerkte er, daß Madeleine erbleichte. Mit stockendem Tone erwiderte sie:

»Ich habe in den Zeitungen von ihm gelesen.«

»Sie wissen also alles?«

»Fragen Sie mich nicht. Ich habe keine Veranlassung, mich um die Handlungen meines Cousins zu bekümmern.«

Obgleich Byasson der kalte Ton in Madeleinens Erwiderung auffiel, so that er doch, als ob er denselben nicht bemerkt hätte und fuhr fort:

»Wir haben Leon lange nicht gesehen. Er hat alle Verbindungen mit uns und wir mit ihm abgebrochen.«

»Es ist genug, mein Herr. Wir wollen nicht weiter über Leon sprechen. Oder sind Sie hergekommen, um …«

»Mein liebes Kind,« erwiderte der alte Mann und ergriff die Hand Madeleinens. »Ich will offen mit Ihnen sein und Ihnen alles, was ich auf dem Herzen habe, sagen. Leon ist dem Einflusse eines unwürdigen Weibes verfallen. Da er nun zärtlich und gut ist und Diejenige, welche er einmal liebt, nicht unglücklich sehen kann, so wird er vollständig von diesem Weibe beherrscht. Er hat keinen Willen mehr und in einer Stunde der Verblendung hat er sich mit seiner Geliebten in Amerika verheirathet. Wie eine solche Narrheit möglich ist, ist schwer einzusehen. Ich bitte Sie, mein Kind, mich so ruhig und mit so großem Vertrauen anzuhören, als ob Ihr Vater zu Ihnen spräche. Ich will nicht von Leon allein sprechen, sondern auch von Ihnen.«

Madeleine erhob sich rasch, doch Byasson drückte sie leise auf den Sessel zurück.

»Ich weiß, daß ich einen delikaten Punkt berühre, aber sein Sie geduldig, sein Sie barmherzig. Leon hat Sie wiedergesehen und von dem Augenblicke an ist in seinem Herzen die Liebe zu Ihnen wieder erwacht.«

Madeleine athmete hörbar; sie versuchte noch einmal, sich zu erheben, aber der milde Ton Byassons bewog sie, sich seinen Wünschen zu fügen.

»Ich habe Sie um Geduld und Nachsicht gebeten. Lassen Sie mich zu Ende kommen. Es handelt sich um die Ehre, um das Glück Leons, um das Leben Ihres Onkels und Ihrer Tante.«

»Genug!« rief Madeleine, die mit großer Anstrengung wieder Gewalt über sich bekommen hatte. »Sprechen Sie klar und deutlich, ohne die lange Einleitung, was Sie von mir verlangen, denn ich ahne, daß Sie ein bestimmter Zweck hierher geführt hat.«

Sie stand auf und Byasson folgte ihrem Beispiele.

»Wenn Sie so wenig Neigung zeigen, mit Ruhe und Ueberlegung meine Erzählung anzuhören, so will ich morgen wieder kommen.«

»Sie werden mich nie anders gestimmt finden, wenn auf Leon die Rede kommt. Sind Sie vielleicht von ihm abgesandt? O, ich sehe es Ihnen an. Läugnen Sie nicht.«

Byasson wandte sein Antlitz ab, um seine Verwirrung zu verbergen, aber Madeleine beobachtete ihn genau und erwiderte nach einer Weile, während welcher sie ihre Erregung niedergekämpft hatte, in bitterem Tone:

»Sagen Sie Herrn Leon Haupois, daß ich seine Karten empfangen hätte, daß ich mich durchaus nicht veranlaßt fühlte, weder diese Karten noch ihn selbst zu empfangen. Ich bin Herrn Leon Haupois zu Dank verpflichtet, weil er mich bei meines Vaters Tode tröstete, aber er selbst ist schuld, wenn ich jetzt undankbar erscheine. Er wird wissen weshalb und daß ich nicht an eine Liebe glauben kann, welche er zwischen mir und einem verlorenen Weibe so freundlich ist zu theilen.«

Byasson machte eine Bewegung, als ob er sie unterbrechen wolle.

»Sagen Sie ihm,« fuhr Madeleine fort, milder und weicher gestimmt, »daß ich ihn geliebt hätte mit allen Fibern meiner Seele, daß ich ihm treu geblieben bin bis zur heutigen Stunde, daß ich niemals einen Anderen lieben werde und könne, daß aber von nun an unsere Wege auf ewig getrennt sind. Leben Sie wohl, Herr Byasson, auch wir werden uns nicht wiedersehen.«

Madeleine reichte dem alten Herrn die Hand und wollte ihre Schritte zur Thüre richten, aber Byasson hielt sie zurück.

»Sie sind im Irrthum, mein liebes Kind, wenn Sie glauben, daß ich allein von Leon geschickt worden bin. Wenn Sie mich nicht ferner anhören wollen, so nehmen Sie wenigstens diesen Brief Ihres Onkels in Empfang, den er mich bat, Ihnen zu geben.«

Er zog einen Brief aus seiner Seitentasche und legte ihn auf den Tisch.

»Und nun,« fuhr er fort, »leben Sie wohl für heute.«

Mit schnellen Schritten entfernte sich Herr Byasson und bald hörte Madeleine die Etagenthür sich öffnen und wieder schließen.

Das junge Mädchen, sich selbst überlassen, fiel in den Sessel zurück und verhüllte ihr Antlitz mit den Händen. Ein furchtbarer Kampf tobte in ihrer Seele.

Endlich ergriff sie das von Herrn Byasson zurückgelassene Papier und öffnete dasselbe.

Zwei Minuten darauf zerknitterte sie das Papier und warf es mit leidenschaftlicher Heftigkeit weit von sich.

»O, habe ich das verdient?« schrie sie auf. »Bin ich eine Sklavin, deren Körper und Liebe man kaufen kann? Niemals, ich werde lieber freiwillig die Gattin des ärmsten Bettlers, als daß ich mir meine Liebe zu einem Millionär bezahlen ließe …«

Am anderen Morgen früh brachte ein Commissionär ein Billet in den Laden des Herrn Haupois, welches an diesen persönlich adressirt war. Der reiche Fabrikant öffnete dasselbe und las die Unterschrift: Madeleine.

Das Schreiben lautete:

 

»Mein Onkel!

Ihren Brief überbrachte mir gestern Abend Herr Byasson. Ich habe auf denselben fast nichts zu erwidern. Sie urtheilen ganz recht, wenn Sie meine Lage eine bedrängte nennen, aber falsch, indem Sie glauben, daß ich deshalb geneigt wäre, mich an Sie zu verkaufen, um für Ihren verlorenen Sohn eine Lockspeise zu sein. Wenn Ihr Herr Sohn glaubt, mich noch zu lieben, so bin ich im Gegentheil der Ansicht, daß dies seinerseits nur eine Täuschung ist.

Leben Sie wohl, mein Onkel, ich verlasse Paris und bitte Sie auch meiner Frau Tante meine respektvollsten Abschiedsgrüße zu überbringen.

Madeleine.«


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