Oskar Loerke
Atem der Erde
Oskar Loerke

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Zeitunglesen

              Die geschichteten Blätter sind ohne Laut
Plötzlich zerrissen.
Es ballt sich im zackigen Loche
Ein Stechapfel, nebelhaft grau
Und innen kochend wie wirbelnde Erde.
Er schwillt, wird groß, als erblickte das Auge
Hilflos den Mondball in finsterer Nähe.
Ein Leid bereist ihn und unterscheidet
Ein wegsames Unten, ein fliehendes Oben,
Es schlägt das Harte, Schwere nieder
Und läßt das Andre, das Fremde weichen.
Ein Leid bereist ihn, weckt seine Gestalt –
Das heißt ihr träumen und vergessen!

Das Zeitungsblatt liegt unzerrissen
Neben der Tasse, neben dem Brote,
Und sie sind größer als die Lettern,
Die sich zur Botschaft »China« banden.
Sie öffnen sich wieder wie schließende Schlüssel –
Da drinnen hat der böse Traum
Der heimischen Götter das Träumen vergessen.

Die Wüste wälzt sich her von Nordwesten,
Verwilderte Flüsse fressen die Täler auf,
Die Wanderschrecke die Ebnen,
Immer wieder, viele Jahre.

Der Hunger verhandelt kindliche Mädchen
Um einen prallen Darm bis morgen,
Der Hunger knackt Ratten und Menschen den Hals
Und ißt sie, verborgen in Winkeln,
Immer wieder, viele Jahre.

Aber ist nicht enger der Himmel um dieses
Als der Kobaltrand meiner Kanne?
Und eine Brotkrume wirklicher
Als das Gebirge Nanschan und Jünnan?
Dennoch steigt jetzt im Gebirge
Der sänftentragende Kuli,
Daß der Kegel seines Atems
Gespenstisch meine Glieder streift.

Durch Löcher seiner blauen Jacke scheint
Die gelbe Haut,
An seinen Waden durch Krampfadern weint
Der Schmerz ohne Laut
Und wird auch nicht in fallender Steine Schlage
Zu fern geballter Faust, zu ferner Klage.
Er dringt nicht bis zum Schädel,
Dessen einsames Auge nur fühlt,
Wie eines Gletschers Wasserwedel
Nutzlos die kalten tiefen Schluchten kühlt.

Es ist Tag, es zerrann
Der Mond und sein Mann.

 


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