Hermann Löns
Jagdgeschichten
Hermann Löns

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Der Wald der großen Vögel

Eine halbe Stunde von Ahlden liegen zwei Wälder, die Ahe und die Schlenke. Die alte Leine trennt sie, sonst wären sie ein Wald. Im Norden bilden die leichtgeschwungenen Ufer der Aller ihre Grenzen, im Süden Wiesen und Weiden, die die Bauern von Eilte und Ahlden den Wäldern abgerungen haben.

Um zu zeigen, daß das Land ihnen gehört, haben die Bauern Hecken und Hagen um die Wiesen und Weiden gezogen, so daß es aussieht, als liefen die Wälder allmählich in die Feldmarken aus.

Vom Spätherbst bis zum Frühling steht die Ahe unter Wasser und die Schlenke auch. Dort, wo die Rotkehlchen sangen, gründelt dann die Wildente, wo das Eichkätzchen Pilze suchte, fischt der Otter, die Ringeltaube wird von der Möwe, der Bussard von dem Seeadler abgelöst. Sobald die Wasser der Aller und der alten Leine in die Wälder steigen, rückt der Hase nach den hochgelegenen Feldmarken, Mäuse und Spitzmäuse folgen ihm, die Rehe wechseln nach den fernen Wäldern, die Ahlden mit einem dunkelblauen Ringe umgeben, und der Fischer tritt an die Stelle des Jägers.

Wenn das Hochwasser sich verlaufen hat, sieht der Wald trostlos aus. Eine dicke, zähe Schlickschicht bedeckt das Fallaub, nasses Genist hängt in wirren Haufen in den Zweigen des Unterholzes, tote Äste, faule Bäume, Bretter und Balken liegen wüst umher. Ein Geruch von Wasser erfüllt die Luft. Prallt dann die Märzsonne durch die kahlen Zweige, dann wird aus dem Geruch ein Gestank. Zurückgebliebene Fische verwesen, ertrunkene Frösche vermodern, Tausende von Schnecken zerfließen, Hundertausende von zerriebenen, zermalmten Kerbtieren, Maden, Larven und Würmern verfaulen.

Der April aber macht alles wieder gut; er bringt Schneeschauer und Regengüsse, die allen Moder fortwaschen, er läßt eisige Winde den Dunst hinwegwehen, er läßt die Sonne scheinen, die das verschlickte Laub mit einem sanften Anstrich hellgrüner Algen überzieht, er lockt unzählige grüne, braune und rosige Spitzchen, Knöspchen und Blättchen aus dem Boden hervor. Als wenn nicht vor kurzem noch der blasse Tod mit der braunen Fäulnis am knochigen Arme durch den Wald gegangen wäre, so lebt es da wieder, bunte Schnirkelschnecken kriechen über das Laub, große und kleine Käfer krabbeln über das Moos, gelbe Schmetterlinge tanzen umher, sammetrote, mit blauen Augen, Silbermücken tanzen, Goldfliegen schweben.

Zu den frechen Meisen und schüchternen Goldhähnchen, die bisher allein die Zweige belebten, gesellt sich der frohe Fink, die süß flötende Märzdrossel; der Buntspecht läßt seine Trommel erschallen, die Krähe streicht den Baß, die Goldammer singt ihr Sehnsuchtslied. Das Hermelin, das den Winter über auf der Geest gejagt hat, wandert den Mäusen nach, die ihren Wald wieder aufsuchen, und fährt wie ein weißer Blitz durch das Gebüsch; dem Hasen wird es in den Feldern, auf denen die Bauern bei der Frühjahrsbestellung sind, zu lebhaft und er rückt wieder zu Holze.

Lange bevor aber dieses kleine Leben in der Ahe erwacht ist, zieht ein größeres Leben in ihr ein. Eines Abends, wenn die Sonne lange rote und goldene Streifen auf das blauweiße Gekräusel der Aller wirft, hallt ein Schrei durch die Abendstille, ein kurzer, scharfer, harter, herrischer Ruf, der sich in bestimmten Pausen wiederholt, und in der Abendröte taucht ein schwarzer Punkt auf.

Der harte abgehackte, rauhe Ruf kommt näher, aus dem Punkt wird ein Fleck, aus dem Fleck ein Kreuzchen, aus dem Kreuzchen ein Kreuz, der Ruf verdoppelt, verdreifacht, verzehnfacht sich, viele große schwarze Kreuze schweben näher, und sechzig gewaltige, breitklafternde, bald silbern, bald golden, jetzt licht, jetzt düster gefärbte Vögel kreisen über den kahlen Wipfeln der hohen, von blitzblankem Efeu dicht umsponnenen Eichen.

Das sind die Reiher der Ahe, die wiedergkommen sind zu ihrem Walde. Seit Jahrhunderten gehört er ihnen, seit Jahrhunderten horsteten sie hier, seit Jahrhunderten zogen sie ihre Jungen groß. Immer hat der Mensch sie befehdet, hat ihnen mit dem Beizvogel und der Büchse nachgestellt, unzählige Reiher stürzten hier polternd zu Boden und färbten die Blumen rot, aber die sich retteten, die kamen doch im nächsten Frühjahr wieder, um in ihrem Walde zu horsten.

Rauh rufen sie und schrauben sich tiefer. Müde sind sie von der langen Reise, müde und überhungert, und ihre Herzen sind voller Furcht. In anderen Ländern fanden sie stille Wälder, an fischreichen Flüssen und Seen, wohin nie ein Mensch kam; herrliche Horstplätze boten die Kronen uralter Bäume, verlockende Wasserweid die schilfreichen Ufer; aber die großen Vögel ließen sich nur eben Zeit, ihren Hunger zu stillen, dann breiteten sie ihre gewaltigen Schwingen aus und ruderten nordwärts.

Hundertundzwanzig breite Flügel zerteilen sausend die Luft über der Ahe, hundertundzwanzig gelbe Augen spähen in ihre Kronen, aus sechzig langen, zusammengezogenen Hälsen erklingen heisere Freudenrufe. Dann schraubt sich einer der Reiher tiefer, schnellt den dünnen schwarzweißen Hals vor, läßt die dünnen, grüngelben Ständer hängen, und fällt prasseln bei seinem alten Horste ein.

Einmal ruft er, den Hals wie einen silbernen Pfahl gegen den goldroten Himmel reckend, dann zieht er ihn ein, knickt die Ständer zusammen und kauert sich auf dem Ast hin. Neben ihm fußt sein Gatte, und nun folgt einer nach dem anderen, bis alle in den Kronen ihrer Horstbäume verschwunden sind. So todmüde sie sind, die Freude, wieder daheim zu sein, überwindet alle Mattigkeit; sie erzählen sich noch lange etwas, bis die Abendglut im Moore erlischt, und heiser lachend kitzeln sie sich gegenseitig mit den Dolchschnäbeln.

Ehe die Amsel pfeift, ehe die Krähe quarrt, sind sie wieder wach; sie gähnen, schnellen die Hälse empor, daß die Messerklingen ihrer Schnäbel blitzen, richten sich auf, spreizen wohlig die blaugrauen Fittiche, zupfen sich die silberspitzigen Schmuckfedern des Rückens, die stahlschwarze Brustplatte, die stolze Halszierde glatt, schlagen mit den Schwingen, daß es saust und braust, plappern ein Weilchen, kitzeln sich wieder, und dann erheben sie ihr Gefieder und verteilen sich die Aller hinauf und hinab nach ihren ererbten Fischplätzen.

Die großen weißen, aschblau bereiften, schwarzschwingigen Seemöwen, die seit dem letzten Neumond hier jagten, räumen ihnen das Feld; die blanken schwarzen Krähen, die sich in den leeren Reiherhorsten häuslich niederlassen wollten, müssen weichen; der Waldkauz, der in dem einen Horste zu brüten gedachte, sucht sich einen hohlen Baum, und die Eichkatze, die in einem anderen sich Vorrat gesammelt hatte, findet ihre Schätze nicht wieder.

Satt, mit vollen, tief herabhängenden Kröpfen, kamen die großen Vögel zurück; jeder trug einen Zweig, eine Rute, einen Ast; hastig begaben sie sich an ihr Werk, flickten die alten Horste aus, legten neue an, und bald schwebten in den Wipfeln der hochschäftigen Eichen dreißig große, sparrige, schwarze Klumpen, und ehe noch die Amsel zu bauen begann, lagen große hellblaugrüne Eier in jedem der dreißig Horste.

Während aber in den Wipfeln der Eichen unter den hellblaugrünen Schalen der Eier sich neues Leben formt, zerfällt am Boden das junge Werden; auf die gelben Blüten des Goldsternes, auf die quellenden Knospen des Spindelbaumes, auf die üppigen Blumenbüschel der Schüsselblume, auf des Aaronstabes saftstrotzende Blätter klatscht das scharfe, beizende, tötende Geschmeiß der Reiher, übertüncht den Boden, kalkt die Stämme an, überzieht die Zweige, alles vernichtend, was fein und zart und schnellebig ist, nur der Brennnessel kann der giftige Kot keinen Abbruch tun, er düngt sie, und wenn der erste zarte Frühlingsflor der Ahe vorüber ist, wenn die Eichen Goldblättchen entfalten, dann überzieht den Waldboden der Nessel giftdornbewehrtes Gekraut mir einer einzigen undurchdringliche Dickung.

Dann sind oben die blaugrünen Eierschalen längst geborsten unter dem Gepicke emsiger Schnäbelchen, und auf ihren Trümmern liegen struppköpfige, glotzäugige, häßliche Wesen, mit langen weißen Schimmeldunen bewachsen, mit unförmigen gelben Knorpelwülsten an den Winkeln des Schnabels, der sich zu einem breiten roten Rachen öffnet, aus dem fortwährend ein heißhungriges Gieren hervortönt, das schrecklich zu der alten Reiher Gehör dringt.

Vom Lerchenstieg bis zur Ulenflucht streichen sie fort und rudern sie her, die Kröpfe voll von Aalen und Brassen, Döbeln und Karpfen, Fröschen und Egeln, und würgen der ewig hungrigen Brut den Raub vor; und die Jungen schlucken und schlucken und nehmen zusehends zu an Umfang und Schönheit, verlieren die häßlichen Schimmeldunen, vertauschen die Wolle mit einem hübschen Gefieder, die gelben Knorpelwülste an den Schnabelwinkeln schrumpfen zusammen, und aus den unschönen Spulen sprießen kräftige Schwungfedern.

Mit stolzer Freude sehen die Alten die Kiemen wachsen und gedeihen, gönnen sich kaum Ruh noch Rast, denn das Hungergeschrei der Jungen hört den ganzen Tag nicht auf. So fischen sie die Aller aufwärts, die Aller abwärts und vergessen alle Vorsicht; einer fällt dem Hagel des Jägers zum Opfer, ein anderer fängt sich an einer Setzangel, ein dritter tritt in ein Ottereisen, aber der überlebende Gatte nimmt die volle Last auf sich, und wenn von unbekannten Mooren und entfernten Gestaden die silberschwingigen Seeschwalben mit ihrer flüggen Brut über der Aller erscheinen, dann stehen auf jedem Horste in der Ahe zwei, drei Jungreiher und proben ihrer Schwingen Kraft. Einer oder der andere verliert dabei das Gleichgewicht und stürzt über Bord; den holt sich nachts der Fuchs, aber die meisten sehen sich vor, und die Alten freuen sich schon des Tages, daß sie alle zusammen mit ihnen über der grünen Ahe kreisen können.

Aber dann kommt der Tag, da Angst und Schrecken über die Siedlung hereinbricht: schwere Stiefel zertreten die hohen Nesseln, grüne Röcke lehnen sich gegen die weißgetünchten Stämme der Eichen, braunrote Gesichter tauchen zwischen dem laublosen Geäst von Kornelkirsche, Wachholder, Schlehdorn und Wildrose auf, metallische Blitze prallen von blanken Büchsenläufen. Zehn Altreiher prasseln aus den Kronen, kreisen mit langen Hälsen über dem Walde, starren mit ängstlichen gelben Augen hinunter. Ihre Schreckensrufe tönen von ringsumher, von Morgen und Abend, Mittag und Mitternacht klingen heisere Angstlaute heran, Sausen und Brausen, Klingen und Klatschen ist über dem Forste, schnelle schwarze Schatten fallen über den weißgekalkten Waldboden, alle sechzig Altreiher kreisen als riesengroße Kreuze unter dem hellblauen Sommerhimmel.

Die Jungreiher, immer hungrig, stellen sich auf die Horstränder, recken die Hälse, sperren die nimmersatten Schnäbel auf und schreien nach Fraß. Da knallt ein Schuß, kurz und scharf wie ein Peitschenknall, durch den Wald. Ein Jungreiher spreizt die Flügel, kippt hin und her, verliert den Halt, poltert von Ast zu Ast und schlägt dröhnend auf den Boden auf. Das Angstgerufe über dem Walde wird zum Wehgekreisch, aus dem ruhigen Kreisen wird ein verstörtes Geflatter, aber Schuß auf Schuß knallt, ein Jungreiher nach dem anderen poltert herunter, stürzt herab oder bleibt mit zerrissener Brust im Horste liegen.

Ab und zu fällt etwas Blankes, Glitzerndes, Glänzendes von oben herab, ein Fisch, den ein Altreiher von oben herab seinem Jungen verkröpfte, demselben Jungen, das mit zerschmettertem Fittich im Horste liegt, in Todesangst den Hals hin und her zuckt und verzweifelt mit offenem Rachen seine Alten um Hilfe anschreit, bis sein Kopf herabsinkt und ein letztes Zittern durch sein Gefieder geht.

Noch ein Schuß knallt; keiner folgt ihm mehr, auf keinem Horst zeigt sich noch ein grauer Leib, ein heller Hals; alle Jungreiher liegen tot am Boden, säuberlich gestreckt; aus roten Gesichtern zieht blauer Dampf durch dem Wald, lautes Gelächter flackert empor, und dann wird es still in der Ahe; nur die Reiher kreisen stumm über ihr und zwischen ihnen fünf Kolkraben, die den reichen Fraß eräugt haben.

Auf einem Moosdache in Ahlden knarrte vor Jahren eine rostige Wetterfahne im Winde, in die kunstlos ein rohes Abbild einer Reiherbeize eingesägt war; und vielleicht lebt in Ahlden noch einer von den Leuten, die als Jungens dabei waren, da man in der Ahe die alten Eichen schlug; als die Riesenbäume am Boden lagen, sah man mit Verwunderung, daß in ihren Kronen Faßreifen und dicke Eisendrähte hingen, rot von Rost und zermürbt, wie man sie auf dem Dache anbringt, damit der Storch dort bauen soll.

Den Reihern zuliebe flocht man sie dort ein, ihnen das Horsten zu erleichtern; sorgfältig hegte und pflegte man sie, nahm in schwere Pön; wer sie störte; und gönnte ihnen gern den Aal und den Hecht, den Döbel und den Brassen, denn ein königlich Weidwerk bot die Jagd auf den stolzen Vogel. Hunderte von Reihern horsteten damals in der Ahe; von ihnen schlug der Beizvogel, den des Jägers gelbbehandschuhte Faust warf, einen oder den anderen, der dann bei Hörnerklang zum Jagdschloß getragen wurde, die anderen aber ließ man sich ihres Lebens freuen und der Fischweid an den Ufern der reißenden Aller jahrein, jahraus.

Heute erschlägt man ihre Brut jahrein, jahraus und läßt sie faulen im Horste, den Kolkraben zum Fraß und schwarzroten Käfern, jahrein, jahraus wiederholt sich die Metzelei; jedes Jahr fliehen die alten Reiher mit Angstgeschrei, und jedes Jahr im März kommen sie wieder und horsten in ihrem Walde zwischen Leine und Aller.


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