Hermann Löns
Jagdgeschichten
Hermann Löns

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Isegrims Irrgang

Blink und blank hing der Vollmond mitten im hellen Himmel über dem stillen Lande.

Der junge Soldat, der auf Grenzwache stand, sah träumend vor sich hin. Er dachte an sein Mädchen am fernen Rhein, und das alte Lied ging ihm durch den Sinn: »Köln am Rhein, du schönes Städtchen, Köln am Rhein, du schöne Stadt; und darinnen mußt ich lassen meinen herzallerliebsten Schatz.«

Da lief es ihm kalt über den Rücken, denn ein hohles Heulen kam durch die Stille, ähnlich dem Geheul, das die Hunde von sich geben, wenn sie fühlen, daß der Tod durch das Dorf geht, aber doch ganz anders. Eine Weile nachher war es dem Posten, als rausche es leise in dem dürren Röhricht hinter ihm, und als er sich umdrehte, vernahm er ein kurzes Schnaufen, und er gewahrte einen auffallend starken Hund, der mit gespenstiger Eile dahinflüchtete.

Es war aber kein Hund, sondern ein alter Wolf, ein Irrläufer aus Russisch-Polen. Der Wald, in dem er jahrelang gehaust hatte, war von Holzhändlern gekauft und niedergelegt worden, und so war er obdachlos. Viele Tage hatte er sich schon umhergetrieben, hatte hier ein Reh gerissen, da eine Katze, die sich vor das Dorf gewagt hatte, gewürgt, dort einen Hasen gefaßt, und so war er, ohne es zu wissen, über die Grenze gekommen, wo es ihm ungewohnt und unheimlich vorkam. Ganz verlassen fühlte er sich, und deshalb hatte er sich auf die Keulen gesetzt und den Mond angeheult, aber keine Antwort von einem seiner Sippschaft erhalten.

Als er bei dem Posten vorbeihuschte und dessen Witterung auffing, hatte er sich gewaltig erschreckt, und nun trottete er, so schnell er konnte, dahin, immer die Nase gegen den Wind haltend. Ihm war merkwürdig unruhig und unsicher zumute. So ganz anders kam ihm das Land hier vor, so ordentlich, so reinlich, so vom Menschen beherrscht. Er war froh, daß ihm endlich Waldluft zuwehte, und schnell trabte er darauf hin. Aber vor dem Forst verhoffte er; der Graben, der schwarzweiße Schlagbaum und die große weiße Tafel mit dem schwarzen Getüpfel, alles das wollte ihm durchaus nicht gefallen. Ängstlich schlich er an dem Holz entlang. Plötzlich senkte er die Nase, denn es roch nach Wild. Sofort fiel er die Fährte an, die über den Grenzgraben führte, überfloh diesen und hielt sie durch die Dickungen und Stangenörter bis in das räume Altholz.

Dann aber stutzte er, denn auf einmal hörte der Wald auf und wurde von einem breiten Wege begrenzt, wie ihn der Wolf noch nie in seinem Leben angetroffen hatte, denn der war ganz eben und hart und trocken und roch nicht nur nach Mensch und Pferd und Hund, sondern nach etwas, was ihm vollkommen unbekannt war. Ein ganz fürchterlicher stechender beißender kneifender Geruch war es, der ihm schwer auf die Nerven fiel. Er sträubte das Rückenhaar, zitterte, stieß ein klägliches Winseln aus und sprang in das Holz zurück, ohne weiter an die Fährte zu denken, obgleich es ihn sehr hungerte. In guter Deckung rannte er neben der Straße her, bis er auf breites Gestell kam. Dort stutzte er wieder, denn da, wo ein Quergestell die Hauptbahn schnitt, erhob sich schwarz und gespenstig ein hohes Gerüst, vor dem Isegrim so erschrak, daß er ohne Besinnung durch dick und dünn stürmte bis er Wiesenduft auffing und zugleich frische, warme Wildwitterung spürte. Da erst besann er sich und schlich lautlos auf dem Steige bis dicht an die Wiese heran und spähte, gedeckt von einer Fichte, über sie hin.

Grün glühten seine Lichter, und silberne Geschmacksfäden liefen ihm von den Lefzen, denn vor ihm äste sich ein ganzes Rudel Wild. Dem Wolf bebten die Flanken vor Gier, als er das Wild eräugte, die beiden geweihten Hirsche zur Linken, das alte Gelttier geradeaus, und halbrechts die beiden Stücke Mutterwild mit ihren Kälbern, die jetzt vor Übermut hin und her sprangen. Und drüben vor den Fichten stand noch mehr Wild. Der Wolf lauerte so lange, bis kein Stück mehr das Haupt hoch hatte, dann schlich er ein Endchen auf dem Pirschsteige weiter, bis dahin, wo der Fichtenhorst in der Wiese zwischen ihm und dem vordersten Kälbertiere war, wartete dort noch ein Weilchen, stahl sich dann bis hinter die Fichten, und sobald die beiden Kälber sich wieder einmal umhertollten und dabei in seine Nähe kamen, machte er drei Sätze und faßte das letzte an der Strosse, es mit einem einzigen Griff niederziehend, während das andere fortsprang, das alte Tier laut schreckend davonpolterte und das übrige Rudel hier und da in die Dickung stob, daß es dröhnte und prasselte.

Das Kalb, das er gewürgt hatte, schlug noch etwas mit den Läufen. Er biß ihm das Genick durch, packte es und schleppte es dem Stangenorte zu, denn auf der Wiese war es ihm zu offen, als daß er es da fressen mochte. Auch in dem Stangenorte war es ihm zu räumig, und so schleifte er seine Beute dahin, wo Dickungsluft ihm entgegenkam.

Er war schon fast dort angelangt, als ihn ein solcher Schreck befing, daß er das Wildkalb fallen ließ und mit einer hohen Flucht in das Stangenholz zurückpreschte, denn dicht vor ihm kam über die Brandrute ein Wesen gesaust, das hampelte und strampelte und klirrte und war schnell wie der Wind. Als der Wolf nun mit flackernden Flanken im Schatten stand, vernahm er eine halblaute menschliche Stimme, und scheu stahl er sich weiter. Bei dem Wildkalb aber stand der Forstaufseher, der mit seinem Schweißhund auf Wilddiebsstreife durch den Forst radelte. Er hatte den Wolf wohl abspringen gehört, aber gemeint, es sei ein Stück Rehwild gewesen. Doch da winselte der rote Hund plötzlich kurz auf, drängte sich dicht an das Rad, sträubte die Rückenhaare, zitterte wie in Todesfurcht und äugte seinen Herrn angstvoll an. Der sprang ab, lehnte das Rad gegen einen Baum und folgte dem Hunde, der zitternd und zagend vorankroch, dahin, wo der Wolf den Riß hatte fallen lassen. Als der Förster bei dem Kalbe stand und es mit der elektrischen Taschenlampe beleuchtete, krauste er die Stirn, nahm den Hund an den Schweißriemen und ließ ihn, obschon der vor Angst sich kaum vorwärts traute, bis in die Wiese arbeiten, wo der Wolf das Kalb gerissen hatte, und als er an einer modrigen Stelle die Fährte des Räubers antraf, eilte er zu seinem Rade zurück, fuhr, so schnell er konnte, nach Hause und meldete durch den Fernsprecher der Oberförsterei: »Ich habe einen starken Wolf in meinem Belauf.«

Isegrim schlich derweilen so vertattert, wie er in seinem ganzen Leben noch nicht gewesen war, in den dichten Beständen umher, von wütendem Hunger gequält, der nur noch schlimmer wurde, als er ein paar Mäuse zu fassen bekam, denn nach dem Kalbe wagte er nicht zurückzukehren. Erst in der Vordämmerung gelang es ihm, einen Fuchs zu reißen, den er bis auf die Lunte auffraß, worauf er sich satt und müde in eine große Dickung steckte und schlief. Als es hell wurde, wachte er auf, und es wurde ihm so unheimlich zumute, daß er sich erhob, nach allen vier Windrichtungen hin witterte und verstohlen am Rande der Dickung entlangschnürte, auch ab und zu vorsichtig den Kopf hinausschob und sich Wind holte. Ihm war so, als vernehme er entfernte Geräusche, aus denen er nicht klug wurde, und dann kam ihm ein Geruch in die Nase, der in den Wald nicht hineingehörte. Das seltsame Geräusch war auf allen Seiten, und wohin er auch schlich, immer wehte ihm der sonderbare Geruch zu. Hin und her zog er, von Dickung zu Dickung, wobei er sich, wenn er eine Bahn nehmen mußte, so niedrig wie ein Fuchs machte, aber nirgends war die Luft rein. Auch schreckte bald hier ein Stück Rotwild, und dort schmälte ein Reh. Er hatte das Gefühl, als wenn ringsumher der Tod auf ihn lauere.

Nach einiger Zeit hallte ein heller, langer Ton durch den Forst, und sofort begann auf der anderen Seite, aber in weiter Ferne, ein verworrenes Geräusch, das sich dem Wolf zu nähern schien. Er stand auf und lauschte; das Geräusch kam wirklich, wenn auch langsam, unter dem Winde näher. Er stutzte, schlich unschlüssig hin und her, und dann wich er in dem Maße, wie der Lärm herankam, nach der andern Seite aus, ängstlich darauf bedacht, immer den Wind gegen sich zu behalten. Schon war er am Ende der Dickung angelangt, da preschte er zurück, denn nun hatte er den unerklärlichen Geruch dicht vor sich. Er schnürte an der Kante der Dickung entlang, aber der Geruch begleitete ihn, und als er verstohlen aus einer Lücke über die Bahn hinäugte, gewahrte er an deren Ende lauter lange bunte Dinger, die im Luftzuge hin und her zappelten. Ganz bestürzt zog er sich zurück, kroch weiter in der Dickung entlang und versuchte an einer anderen Stelle, ob die Luft da sauberer sei; aber dort war am Ende der Bahn abermals die bunte Zappelei, und außerdem roch es ausdrücklich nach Mensch. Er drückte sich wieder in die Mitte der Dickung, wich aber bald wieder nach der anderen Seite, denn das unklare Getöse kam näher und näher und drängte ihn, ob er wollte oder nicht, gegen den Wind zurück. Sobald er aber wieder vor die Kante der Dickung kam, scheuchte ihn der Geruch der bunten Zappeldinger oder menschliche Witterung wieder dahin, von wo das Getöse herkam.

So wußte er nicht ein noch aus. Er mochte hinschleichen, wo er wollte, überall war es nicht sauber; hier roch es nach Mensch, da zappelte es, dort war Geräusch. Mit einem Male wurde ihm die Sache klar: er wurde getrieben; man wollte ihn durch das Lärmen dahin bringen, von wo der menschliche Geruch herkam, und wo es trotzdem so auffallend still war. Da also mußte es am gefährlichsten sein, und nicht dort, wo der Lärm war. Denn wenn der Mensch laut kommt, dann hat er nichts Böses vor; das wußte er aus Erfahrung. Wenn er sich dagegen ganz still verhält, hat er Schlechtigkeiten im Sinne. Zweimal hatte Isegrim derartiges erlebt. Das eine Mal hatte eine Kugel seinen rechten Hinterlauf gestreift, und deshalb lahmte er auf diesem für immer ein wenig; das zweite Mal hatte ein Schrotschuß ihn für viele Tage krank gemacht. Beide Male war ihm das zugestoßen, als er den Menschen nur gewittert, aber weder eräugt noch vernommen hatte. Darum hielt er es nun für das beste, vorsichtig dem Getöse entgegenzuschleichen.

Er trabte ein paar Schritte, hielt dann wieder inne, schnüffelte in der Luft umher, spitzte die Lauscher, schlug einen Bogen nach links, trottete dann wieder nach der andern Seite, vermied aber ängstlich jede Lücke und nutzte den Wind und die Deckung auf das sorgfältigste aus. Wo die Schonung zu Ende ging, schlich er so lange in ihr entlang, bis er auf der Bahn, die zwischen ihr und der nächsten Dickde lag, einige Fichten eräugte, die mitten darauf standen; mit einem Satz war er bei ihnen und mit einen zweiten in der Nachbardickung, und so schnell, daß die Kugel, die ihm gelten sollte, hinter ihm herpfiff. Trotzdem ihn der Schuß, der gar nicht weit von ihm gefallen war, sehr erschreckt hatte, so stürmte er doch nicht unbesonnen voran, sondern drückte sich nur ganz behutsam vorwärts, dem lauten Brechen und Treten entgegen, das auf ihn zukam. Er war um so vorsichtiger, als er mit dem Winde voran mußte und so nicht weit wittern konnte, und obwohl er eine entsetzliche Angst auf dem Leibe hatte, so zwang er sich doch, auch diese Dickung zu durchqueren, bis er an ihrem Ausgang stand.

Da aber machte er halt; vor ihm lag nun ein räumiger Ort, und aus dem kam Brechen und Treten. Er lauerte und lauerte, bis es dicht vor ihm war, und dann zog er sich etwas zurück und drückte sich zwischen zwei dicht ineinander verschränkte Fichten. Darauf brach und trat es rechts von ihm und auch auf seiner linken Seite, hier kam ein halblautes Husten her, da ein verhaltenes Geräusper, und dann entfernten sich die Tritte und das Knicken des brechenden Dürrholzes nach dem Winde zu, und vor ihm war es ganz still bis auf das Kreischen des Hähers und das Geschimpfe der Amsel. Noch ein Weilchen wartete er, schob sich an den Bord der Dickung, sicherte und witterte dort lange, überfiel die schmale Brandrute mit einer mächtigen Flucht, drückte sich im Stangenholz erst hinter einen Brombeerbusch, windete eine ganze Zeit, lauschte angestrengt und äugte nach jedem dürren Farnwedel hin, den der Wind rührte, und dann huschte er, sich deckend so gut es ging, auf einem Wildwechsel weiter, bis er an einen vermoorten Windbruch kam, in dessen Mitte er sich unter einem ganz von Gestrüpp umwucherten großen Wurfboden barg.

Noch zweimal vernahm er den hellen, langgezogenen Ton, und es war ihm auch, als käme das Treten und Brechen einmal näher; aber dann wurde es ganz still ringsumher, außer daß die Meisen pfiffen und die Dompfaffen flöteten und ein Specht an einem Stamme klopfte. So blieb er, müde und matt von all der ausgestandenen Angst, im Halbschlaf liegen, bis die späte Dämmerung Stamm und Strauch zusammenspann und Himmel und Erde durcheinanderwebte. Da erhob er sich, schlich so lange umher, bis ein kümmerndes Schmalreh sich ihm durch seinen hohlen Husten verriet. Das riß er, fraß sich aber nur halb satt daran. Denn er wollte fort aus dieser Gegend, es war ihm da zu gefährlich. Außerdem kam der Wind von dort, von wo er zugewechselt war, von Morgen her; hell und klar war er und machte dem Wolf Heimweh. Daß der Mond aufging, paßte ihm zwar so recht nicht; doch das war nun einmal nicht anders.

Eilig, aber mit Vorsicht, trabte er durch den Forst. Es kostete ihn freilich sehr viel Überwindung, die glatte, trockene und so wunderlich riechende Straße zu überfallen, und er war kaum hinüber, da stürzte er vor Angst beinahe um, denn brausend und rauschend und rasselnd und prasselnd kam ein riesenhaftes Wesen mit großen glühenden Augen dahergesaust und verbreitete eine Witterung, daß Isegrim der Atem in der Lunge stehenblieb. Wie wahnsinnig rannte er vorwärts und hielt erst stand, als er den stechenden Mißduft nicht mehr in der Nase spürte. Dann rannte er etwas behutsamer weiter, in ewiger Angst, daß irgendeins der unbekannten strampelnden und klirrenden, oder donnernden und glühäugigen Tiere ihm begegnete.

Aber er hatte Glück; es kam ihm keins mehr in die Quere und heil und gesund gelangte er über die Grenze in die liebe russische Heimat, wo ein Wolf noch leben kann, ohne auf Schritt und Tritt von Tod und Not umgeben zu sein.


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