Gotthold Ephraim Lessing
Hamburgische Dramaturgie
Gotthold Ephraim Lessing

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Einundneunzigstes Stück

Den 15. März 1768

Ja die wahren Namen selbst, kann man sagen, gingen nicht selten mehr auf das Allgemeine, als auf das Einzelne. Unter dem Namen Sokrates wollte Aristophanes nicht den einzeln Sokrates, sondern alle Sophisten, die sich mit Erziehung junger Leute bemengten, lächerlich und verdächtig machen. Der gefährliche Sophist überhaupt war sein Gegenstand, und er nannte diesen nur Sokrates, weil Sokrates als ein solcher verschrien war. Daher eine Menge Züge, die auf den Sokrates gar nicht paßten; so daß Sokrates in dem Theater getrost aufstehen und sich der Vergleichung preisgeben konnte! Aber wie sehr verkennt man das Wesen der Komödie, wenn man diese nicht treffende Züge für nichts als mutwillige Verleumdungen erklärt und sie durchaus dafür nicht erkennen will, was sie doch sind, für Erweiterungen des einzeln Charakters, für Erhebungen des Persönlichen zum Allgemeinen!

Hier ließe sich von dem Gebrauche der wahren Namen in der griechischen Komödie überhaupt verschiednes sagen, was von den Gelehrten so genau noch nicht auseinandergesetzt worden, als es wohl verdiente. Es ließe sich anmerken, daß dieser Gebrauch keinesweges in der ältern griechischen Komödie allgemein gewesen,Wenn, nach dem Aristoteles, das Schema der Komödie von dem Margites des Homer ου ψόγον αλλὰ τὸ γελοι̃ον δραματοποιήσαντος, genommen worden, so wird man, allem Ansehen nach, auch gleich anfangs die erdichteten Namen mit eingeführt haben. Denn Margites war wohl nicht der wahre Name einer gewissen Person, indem Μαργείτης wohl eher von μάργης gemacht worden, als daß μάργης von Μαργείτης sollte entstanden sein. Von verschiednen Dichtern der alten Komödie finden wir es auch ausdrücklich angemerkt, daß sie sich aller Anzüglichkeiten enthalten, welches bei wahren Namen nicht möglich gewesen wäre. Z. E. von dem Pherekrates. daß sich nur der und jener Dichter gelegentlich desselben erkühnet,Die persönliche und namentliche Satire war so wenig eine wesentliche Eigenschaft der alten Komödie, daß man vielmehr denjenigen ihrer Dichter gar wohl kennet, der sich ihrer zuerst erkühnet. Es war Cratinus, welcher zuerst τω̃ χαρίεντι τη̃ς κωμωδίας τὸ ωφέλιμον προσέθηκε, τοὺς κακω̃ς πράττοντασ διαβάλλων, καὶ ώσπερ δημοσία μάστιγι τη̃ κωμωδία κολάζων. Und auch dieser wagte sich nur anfangs an gemeine, verworfene Leute, von deren Ahndung er nichts zu befürchten hatte. Aristophanes wollte sich die Ehre nicht nehmen lassen, daß er es sei, welcher sich zuerst an die Großen des Staats gewagt habe:

(Ir. v. 750.)
Ουκ ιδιώτας ανθρωπίσκους κωμωδω̃ν, ουδὲ γυναι̃κας,
’Αλλ' ‛Ηρακλέους οργήν τιν' έχων, τοι̃σι μεγίστοις επιχειρει̃.

Ja er hätte lieber gar diese Kühnheit als sein eigenes Privilegium betrachten mögen. Er war höchst eifersüchtig, als er sahe, daß ihm so viele andere Dichter, die er verachtete, darin nachfolgten.

daß er folglich nicht als ein unterscheidendes Merkmal dieser Epoche der Komödie zu betrachten.Welches gleichwohl fast immer geschieht. Ja man geht noch weiter und will behaupten, daß mit den wahren Namen auch wahre Begebenheiten verbunden gewesen, an welchen die Erfindung des Dichters keinen Teil gehabt. Dacier selbst sagt: Aristote n'a pu vouloir dire qu'Epicharmus et Phormis inventèrent les sujets de leurs pièces, puisque l'un et l'autre ont été des Poètes de la vieille Comédie, où il n'y avait rien de feint, et que ces aventures feintes ne commencèrent à être mises sur le théâtre, que du temps d'Alexandre le Grand, c'est-à-dire dans la nouvelle Comédie. (Remarque sur le Chap. V. de la Poét. d'Arist.) Man sollte glauben, wer so etwas sagen könne, müßte nie auch nur einen Blick in den Aristophanes getan haben. Das Argument, die Fabel der alten griechischen Komödie, war ebensowohl erdichtet, als es die Argumente und Fabeln der neuen nur immer sein konnten. Kein einziges von den übriggebliebenen Stücken des Aristophanes stellt eine Begebenheit vor, die wirklich geschehen wäre; und wie kann man sagen, daß sie der Dichter deswegen nicht erfunden, weil sie zum Teil auf wirkliche Begebenheiten anspielt? Wenn Aristoteles als ausgemacht annimmt, ότι τὸν ποιητὴν μα̃λλον τω̃ν μύθων ει̃ναι δει̃ ποιητὴν ὴ τω̃ν μέτρων: würde er nicht schlechterdings die Verfasser der alten griechischen Komödie aus der Klasse der Dichter haben ausschließen müssen, wenn er geglaubt hätte, daß sie die Argumente ihrer Stücke nicht erfunden? Aber so wie es, nach ihm, in der Tragödie gar wohl mit der poetischen Erfindung bestehen kann, daß Namen und Umstände aus der wahren Geschichte entlehnt sind: so muß es, seiner Meinung nach, auch in der Komödie bestehen können. Es kann unmöglich seinen Begriffen gemäß gewesen sein, daß die Komödie dadurch, daß sie wahre Namen brauche und auf wahre Begebenheiten anspiele, wiederum in die jambische Schmähsucht zurückfalle; vielmehr muß er geglaubt haben, daß sich das καθόλου ποιει̃ν λόγους ὴ μύθους gar wohl damit vertrage. Er gesteht dieses den ältesten komischen Dichtern, dem Epicharmus, dem Phormis und Krates zu und wird es gewiß dem Aristophanes nicht abgesprochen haben, ob er schon wußte, wie sehr er nicht allein den Kleon und Hyperbolus, sondern auch den Perikles und Sokrates namentlich mitgenommen. Es ließe sich zeigen, daß, als er endlich durch ausdrückliche Gesetze untersagt war, doch noch immer gewisse Personen von dem Schutze dieser Gesetze entweder namentlich ausgeschlossen waren, oder doch stillschweigend für ausgeschlossen gehalten wurden. In den Stücken des Menanders selbst wurden noch Leute genug bei ihren wahren Namen genannt und lächerlich gemacht.Mit der Strenge, mit welcher Plato das Verbot, jemand in der Komödie lächerlich zu machen, in seiner »Republik« einführen wollte (μήτε λόγω, μήτε εικόνι, μήτε θυμω̃, μήτε άνευ θυμου̃, μηδαμω̃ς μηδένα τω̃ν πολιτω̃ν κωμωδει̃ν) ist in der wirklichen Republik niemals darüber gehalten worden. Ich will nicht anführen, daß in den Stücken des Menander noch so mancher zynische Philosoph, noch so manche Buhlerin mit Namen genennt ward; man könnte antworten, daß dieser Abschaum von Menschen nicht zu den Bürgern gehört. Aber Ktesippus, der Sohn des Chabrias, war doch gewiß atheniensischer Bürger so gut wie einer, und man sehe, was Menander von ihm sagte. (Menandri Fr. p. 137. Edit. Cl.) Doch ich muß mich nicht aus einer Ausschweifung in die andere verlieren.

Ich will nur noch die Anwendung auf die wahren Namen der Tragödie machen. So wie der Aristophanische Sokrates nicht den einzeln Mann dieses Namens vorstellte, noch vorstellen sollte; so wie dieses personifierte Ideal einer eiteln und gefährlichen Schulweisheit nur darum den Namen Sokrates bekam, weil Sokrates als ein solcher Täuscher und Verführer zum Teil bekannt war, zum Teil noch bekannter werden sollte; so wie bloß der Begriff von Stand und Charakter, den man mit dem Namen Sokrates verband und noch näher verbinden sollte, den Dichter in der Wahl des Namens bestimmte: so ist auch bloß der Begriff des Charakters, den wir mit den Namen Regulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt sind, die Ursache, warum der tragische Dichter seinen Personen diese Namen erteilet. Er führt einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um uns mit den wirklichen Begegnissen dieser Männer bekanntzumachen, nicht um das Gedächtnis derselben zu erneuern: sondern um uns mit solchen Begegnissen zu unterhalten, die Männern von ihrem Charakter überhaupt begegnen können und müssen. Nun ist zwar wahr, daß wir diesen ihren Charakter aus ihren wirklichen Begegnissen abstrahieret haben: es folgt aber daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter wieder auf ihre Begegnisse zurückführen müsse; er kann uns nicht selten weit kürzer, weit natürlicher auf ganz andere bringen, mit welchen jene wirkliche weiter nichts gemein haben, als daß sie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzuverfolgenden Umwegen und über Erdstriche hergeflossen sind, welche ihre Lauterheit verdorben haben. In diesem Falle wird der Poet jene erfundene den wirklichen schlechterdings vorziehen, aber den Personen noch immer die wahren Namen lassen. Und zwar aus einer doppelten Ursache: einmal, weil wir schon gewohnt sind, bei diesen Namen einen Charakter zu denken, wie er ihn in seiner Allgemeinheit zeiget; zweitens, weil wirklichen Namen auch wirkliche Begebenheiten anzuhängen scheinen und alles, was einmal geschehen, glaubwürdiger ist, als was nicht geschehen. Die erste dieser Ursachen fließt aus der Verbindung der Aristotelischen Begriffe überhaupt; sie liegt zum Grunde, und Aristoteles hatte nicht nötig, sich umständlicher bei ihr zu verweilen; wohl aber bei der zweiten, als einer von anderwärts noch dazukommenden Ursache. Doch diese liegt itzt außer meinem Wege, und die Ausleger insgesamt haben sie weniger mißverstanden als jene.

Nun also auf die Behauptung des Diderot zurückzukommen. Wenn ich die Lehre des Aristoteles richtig erklärt zu haben glauben darf: so darf ich auch glauben, durch meine Erklärung bewiesen zu haben, daß die Sache selbst unmöglich anders sein kann, als sie Aristoteles lehret. Die Charaktere der Tragödie müssen ebenso allgemein sein, als die Charaktere der Komödie. Der Unterschied, den Diderot behauptet, ist falsch: oder Diderot muß unter der Allgemeinheit eines Charakters ganz etwas anders verstehen, als Aristoteles darunter verstand.


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