Gotthold Ephraim Lessing
Hamburgische Dramaturgie
Gotthold Ephraim Lessing

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Dreiundsiebzigstes Stück

Den 12. Januar 1768

Die Schlußrede des Demea bei dem Terenz geht aus einem ganz andern Tone. »Wenn euch nur das gefällt: nun so macht, was ihr wollt, ich will mich um nichts mehr bekümmern!« Er ist es ganz und gar nicht, der sich nach der Weise der andern, sondern die andern sind es, die sich nach seiner Weise künftig zu bequemen versprechen. – Aber wie kömmt es, dürfte man fragen, daß die letzten Szenen mit dem Lysimon in unsern deutschen »Brüdern« bei der Vorstellung gleichwohl immer so wohl aufgenommen werden? Der beständige Rückfall des Lysimon in seinen alten Charakter macht sie komisch: aber bei diesem hätte es auch bleiben müssen. – Ich verspare das Weitere, bis zu einer zweiten Vorstellung des Stücks.

»Das Orakel« vom Saint-Foix, welches diesen Abend den Beschluß machte, ist allgemein bekannt, und allgemein beliebt.

Den sechsundvierzigsten Abend (montags, den 20. Julius) ward »Miß Sara«S. den 11. Abend., und den siebenundvierzigsten, Tages darauf, »Nanine«S. den 27. und 33. und 37. Abend. wiederholt. Auf die »Nanine« folgte »Der unvermutete Ausgang« vom Marivaux, in einem Akte.

Oder, wie es wörtlicher und besser heißen würde: »Die unvermutete Entwicklung«. Denn es ist einer von denen Titeln, die nicht sowohl den Inhalt anzeigen, als vielmehr gleich anfangs gewissen Einwendungen vorbauen sollen, die der Dichter gegen seinen Stoff, oder dessen Behandlung, vorhersieht. Ein Vater will seine Tochter an einen jungen Menschen verheiraten, den sie nie gesehen hat. Sie ist mit einem andern schon halb richtig, aber dieses auch schon seit so langer Zeit, daß es fast gar nicht mehr richtig ist. Unterdessen möchte sie ihn doch noch lieber, als einen ganz Unbekannten, und spielt sogar, auf sein Angeben, die Rolle einer Wahnwitzigen, um den neuen Freier abzuschrecken. Dieser kömmt; aber zum Glücke ist es ein so schöner liebenswürdiger Mann, daß sie gar bald ihre Verstellung vergißt und in aller Geschwindigkeit mit ihm einig wird. Man gebe dem Stücke einen andern Titel, und alle Leser und Zuschauer werden ausrufen: das ist auch sehr unerwartet! Einen Knoten, den man in zehn Szenen so mühsam geschürzt hat, in einer einzigen nicht zu lösen, sondern mit eins zu zerhauen! Nun aber ist dieser Fehler in dem Titel selbst angekündiget, und durch diese Ankündigung gewissermaßen gerechtfertiget. Denn, wenn es nun wirklich einmal so einen Fall gegeben hat: warum soll er nicht auch vorgestellt werden können? Er sahe ja in der Wirklichkeit einer Komödie so ähnlich: und sollte er denn eben deswegen um so unschicklicher zur Komödie sein? – Nach der Strenge, allerdings: denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen Leben wahre Komödien nennet, findet man in der Komödie wahren Begebenheiten nicht sehr gleich; und darauf käme es doch eigentlich an.

Aber Ausgang und Entwicklung, laufen beide Worte nicht auf eins hinaus? Nicht völlig. Der Ausgang ist, daß Jungfer Argante den Erast und nicht den Dorante heiratet, und dieser ist hinlänglich vorbereitet. Denn ihre Liebe gegen Doranten ist so lau, so wetterläunisch; sie liebt ihn, weil sie seit vier Jahren niemanden gesehen hat als ihn; manchmal liebt sie ihn mehr, manchmal weniger, manchmal gar nicht, so wie es kömmt; hat sie ihn lange nicht gesehen, so kömmt er ihr liebenswürdig genug vor; sieht sie ihn alle Tage, so macht er ihr Langeweile; besonders stoßen ihr dann und wann Gesichter auf, gegen welche sie Dorantens Gesicht so kahl, so unschmackhaft, so ekel findet! Was brauchte es also weiter, um sie ganz von ihm abzubringen, als daß Erast, den ihr ihr Vater bestimmte, ein solches Gesicht ist? Daß sie diesen also nimmt, ist so wenig unerwartet, daß es vielmehr sehr unerwartet sein würde, wenn sie bei jenem bliebe. Entwicklung hingegen ist ein mehr relatives Wort; und eine unerwartete Entwicklung involvieret eine Verwicklung, die ohne Folgen bleibt, von der der Dichter auf einmal abspringt, ohne sich um die Verlegenheit zu bekümmern, in der er einen Teil seiner Personen läßt. Und so ist es hier: Peter wird es mit Doranten schon ausmachen; der Dichter empfiehlt sich ihm.

Den achtundvierzigsten Abend (mittewochs, den 22. Julius) ward das Trauerspiel des Herrn Weiße »Richard der Dritte« aufgeführt: zum Beschlusse »Herzog Michel«.

Dieses Stück ist ohnstreitig eines von unsern beträchtlichsten Originalen; reich an großen Schönheiten, die genugsam zeigen, daß, die Fehler, mit welchen sie verwebt sind, zu vermeiden, im geringsten nicht über die Kräfte des Dichters gewesen wäre, wenn er sich diese Kräfte nur selbst hätte zutrauen wollen.

Schon Shakespeare hatte das Leben und den Tod des dritten Richards auf die Bühne gebracht: aber Herr Weiße erinnerte sich dessen nicht eher, als bis sein Werk bereits fertig war. »Sollte ich also«, sagt er, »bei der Vergleichung schon viel verlieren: so wird man doch wenigstens finden, daß ich kein Plagium begangen habe; – aber vielleicht wäre es ein Verdienst gewesen, an dem Shakespeare ein Plagium zu begehen.«

Vorausgesetzt, daß man eines an ihm begehen kann. Aber was man von dem Homer gesagt hat, es lasse sich dem Herkules eher seine Keule, als ihm ein Vers abringen, das läßt sich vollkommen auch vom Shakespeare sagen. Auf die geringste von seinen Schönheiten ist ein Stempel gedruckt, welcher gleich der ganzen Welt zuruft: ich bin Shakespeares! Und wehe der fremden Schönheit, die das Herz hat, sich neben ihr zu stellen!

Shakespeare will studiert, nicht geplündert sein. Haben wir Genie, so muß uns Shakespeare das sein, was dem Landschaftsmaler die Camera obscura ist: er sehe fleißig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen Fällen auf eine Fläche projektieret; aber er borge nichts daraus.

Ich wüßte auch wirklich in dem ganzen Stücke des Shakespeares keine einzige Szene, sogar keine einzige Tirade, die Herr Weiße so hätte brauchen können, wie sie dort ist. Alle, auch die kleinsten Teile beim Shakespeare, sind nach den großen Maßen des historischen Schauspiels zugeschnitten, und dieses verhält sich zu der Tragödie französischen Geschmacks ungefähr wie ein weitläuftiges Freskogemälde gegen ein Miniaturbildchen für einen Ring. Was kann man zu diesem aus jenem nehmen, als etwa ein Gesicht, eine einzelne Figur, höchstens eine kleine Gruppe, die man sodann als ein eigenes Ganze ausführen muß? Ebenso würden aus einzeln Gedanken beim Shakespeare ganze Szenen, und aus einzeln Szenen ganze Aufzüge werden müssen. Denn wenn man den Ärmel aus dem Kleide eines Riesen für einen Zwerg recht nutzen will, so muß man ihm nicht wieder einen Ärmel, sondern einen ganzen Rock daraus machen.

Tut man aber auch dieses, so kann man wegen der Beschuldigung des Plagiums ganz ruhig sein. Die meisten werden in dem Faden die Flocke nicht erkennen, woraus er gesponnen ist. Die wenigen, welche die Kunst verstehen, verraten den Meister nicht und wissen, daß ein Goldkorn so künstlich kann getrieben sein, daß der Wert der Form den Wert der Materie bei weitem übersteiget.

Ich für mein Teil bedauere es also wirklich, daß unserm Dichter Shakespeares Richard so spät beigefallen. Er hätte ihn können gekannt haben und doch eben so original geblieben sein, als er itzt ist: er hätte ihn können genutzt haben, ohne daß eine einzige übergetragene Gedanke davon gezeugt hätte.

Wäre mir indes eben das begegnet, so würde ich Shakespeares Werk wenigstens nachher als einen Spiegel genutzt haben, um meinem Werke alle die Flecken abzuwischen, die mein Auge unmittelbar darin zu erkennen nicht vermögend gewesen wäre. – Aber woher weiß ich, daß Herr Weiße dieses nicht getan? Und warum sollte er es nicht getan haben?

Kann es nicht ebenso wohl sein, daß er das, was ich für dergleichen Flecken halte, für keine hält? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß er mehr recht hat, als ich? Ich bin überzeugt, daß das Auge des Künstlers größtenteils viel scharfsichtiger ist, als das scharfsichtigste seiner Betrachter. Unter zwanzig Einwürfen, die ihm diese machen, wird er sich von neunzehn erinnern, sie während der Arbeit sich selbst gemacht und sie auch schon sich selbst beantwortet zu haben.

Gleichwohl wird er nicht ungehalten sein, sie auch von andern machen zu hören: denn er hat es gern, daß man über sein Werk urteilet; schal oder gründlich, links oder rechts, gutartig oder hämisch, alles gilt ihm gleich; und auch das schalste, linkste, hämischste Urteil ist ihm lieber, als kalte Bewunderung. Jenes wird er auf die eine oder die andre Art in seinen Nutzen zu verwenden wissen: aber was fängt er mit dieser an? Verachten möchte er die guten ehrlichen Leute nicht gern, die ihn für so etwas Außerordentliches halten: und doch muß er die Achseln über sie zucken. Er ist nicht eitel, aber er ist gemeiniglich stolz; und aus Stolz möchte er zehnmal lieber einen unverdienten Tadel als ein unverdientes Lob auf sich sitzen lassen. –

Man wird glauben, welche Kritik ich hiermit vorbereiten will. – Wenigstens nicht bei dem Verfasser, – höchstens nur bei einem oder dem andern Mitsprecher. Ich weiß nicht, wo ich es jüngst gedruckt lesen mußte, daß ich die »Amalia« meines Freundes auf Unkosten seiner übrigen Lustspiele gelobt hätte.Eben erinnere ich mich noch: in des Herrn Schmids »Zusätzen zu seiner Theorie der Poesie«, S. 45. – Auf Unkosten? aber doch wenigstens der frühern? Ich gönne es Ihnen, mein Herr, daß man niemals Ihre ältern Werke so möge tadeln können. Der Himmel bewahre Sie vor dem tückischen Lobe: daß Ihr letztes immer Ihr bestes ist! –


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