Gotthold Ephraim Lessing
Hamburgische Dramaturgie
Gotthold Ephraim Lessing

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Stück

Den 16. Junius 1767

Das bürgerliche Trauerspiel hat an dem französischen Kunstrichter, welcher die »Sara« seiner Nation bekannt gemacht,»Journal Étranger«, Décembre 1761. einen sehr gründlichen Verteidiger gefunden. Die Franzosen billigen sonst selten etwas, wovon sie kein Muster unter sich selbst haben.

Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.

»Man tut dem menschlichen Herze unrecht«, sagt auch Marmontel, »man verkennst die Natur, wenn man glaubt, daß sie Titel bedürfe, uns zu bewegen und zu rühren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Geliebten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen überhaupt: diese sind pathetischer als alles; diese behaupten ihre Rechte immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname, die Geburt des Unglücklichen ist, den seine Gefälligkeit gegen unwürdige Freunde und das verführerische Beispiel ins Spiel verstricket, der seinen Wohlstand und seine Ehre darüber zugrunde gerichtet, und nun im Gefängnisse seufzet, von Scham und Reue zerrissen? Wenn man fragt, wer er ist; so antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu seiner Marter ist er Gemahl und Vater; seine Gattin, die er liebt und von der er geliebt wird, schmachtet in der äußersten Bedürfnis und kann ihren Kindern, welche Brot verlangen, nichts als Tränen geben. Man zeige mir in der Geschichte der Helden eine rührendere, moralischere, mit einem Worte, tragischere Situation! Und wenn sich endlich dieser Unglückliche vergiftet; wenn er, nachdem er sich vergiftet, erfährt, daß der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet diesem schmerzlichen und fürchterlichen Augenblicke, wo sich zu den Schrecknissen des Todes marternde Vorstellungen, wie glücklich er habe leben können, gesellen; was fehlt ihm, frage ich, um der Tragödie würdig zu sein? Das Wunderbare, wird man antworten. Wie? Findet sich denn nicht dieses Wunderbare genugsam in dem plötzlichen Übergange von der Ehre zur Schande, von der Unschuld zum Verbrechen, von der süßesten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in dem äußersten Unglücke, in das eine bloße Schwachheit gestürzet?«

Man lasse aber diese Betrachtungen den Franzosen, von ihren Diderots und Marmontels, noch so eingeschärft werden: es scheint doch nicht, daß das bürgerliche Trauerspiel darum bei ihnen besonders in Schwang kommen werde. Die Nation ist zu eitel, ist in Titel und andere äußerliche Vorzüge zu verliebt; bis auf den gemeinsten Mann will alles mit Vornehmern umgehen; und Gesellschaft mit seinesgleichen ist so viel als schlechte Gesellschaft. Zwar ein glückliches Genie vermag viel über sein Volk; die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und sie erwartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der sie in aller ihrer Wahrheit und Stärke zu zeigen verstehet. Der Versuch, den ein Ungenannter in einem Stücke gemacht hat, welches er »Das Gemälde der Dürftigkeit« nennet, hat schon große Schönheiten; und bis die Franzosen daran Geschmack gewinnen, hätten wir es für unser Theater adoptieren sollen.

Was der erstgedachte Kunstrichter an der deutschen »Sara« aussetzet, ist zum Teil nicht ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Verfasser wird lieber seine Fehler behalten, als sich der vielleicht unglücklichen Mühe einer gänzlichen Umarbeitung unterziehen wollen. Er erinnert sich, was Voltaire bei einer ähnlichen Gelegenheit sagte: »Man kann nicht immer alles ausführen, was uns unsere Freunde raten. Es gibt auch notwendige Fehler. Einem Bucklichten, den man von seinem Buckel heilen wollte, müßte man das Leben nehmen. Mein Kind ist bucklicht; aber es befindet sich sonst ganz gut.«

Den zwölften Abend (donnerstags, den 7. Mai) ward »Der Spieler«, vom Regnard, aufgeführet.

Dieses Stück ist ohne Zweifel das beste, was Regnard gemacht hat; aber Rivière du Frény, der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die Bühne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung in Anspruch. Er beklagte sich, daß ihm Regnard die Anlage und verschiedene Szenen gestohlen habe; Regnard schob die Beschuldigung zurück, und itzt wissen wir von diesem Streite nur so viel mit Zuverlässigkeit, daß einer von beiden der Plagiarius gewesen. Wenn es Regnard war, so müssen wir es ihm wohl noch dazu danken, daß er sich überwinden konnte, die Vertraulichkeit seines Freundes zu mißbrauchen; er bemächtigte sich, bloß zu unserm Besten, der Materialien, von denen er voraussahe, daß sie verhunzt werden würden. Wir hätten nur einen sehr elenden Spieler, wenn er gewissenhafter gewesen wäre. Doch hätte er die Tat eingestehen und dem armen Du Frény einen Teil der damit erworbnen Ehre lassen müssen.

Den dreizehnten Abend (freitags, den 8. Mai) ward »Der verheiratete Philosoph« wiederholst; und den Beschluß machte »Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter«.

Der Verfasser dieses kleinen artigen Stückes heißt Cerou; er studierte die Rechte, als er es im Jahre 1740 den Italienern in Paris zu spielen gab. Es fällt ungemein wohl aus.

Den vierzehnten Abend (montags, den 11. Mai) wurden »Die kokette Mutter«, vom Quinault, und »Der Advokat Patelin« aufgeführt.

Jene wird von den Kennern unter die besten Stücke gerechnet, die sich auf dem französischen Theater aus dem vorigen Jahrhunderte erhalten haben. Es ist wirklich viel gutes Komisches darin, dessen sich Molière nicht hätte schämen dürfen. Aber der fünfte Akt und die ganze Auflösung hätte weit besser sein können; der alte Sklave, dessen in den vorhergehenden Akten gedacht wird, kömmt nicht zum Vorscheine; das Stück schließt mit einer kalten Erzählung, nachdem wir auf eine theatralische Handlung vorbereitet worden. Sonst ist es in der Geschichte des französischen Theaters deswegen mit merkwürdig, weil der lächerliche Marquis darin der erste von seiner Art ist. »Die kokette Mutter« ist auch sein eigentlichster Titel nicht, und Quinault hätte es immer bei dem zweiten »Die veruneinigten Verliebten« können bewenden lassen.

»Der Advokat Patelin« ist eigentlich ein altes Possenspiel aus dem funfzehnten Jahrhunderte, das zu seiner Zeit außerordentlichen Beifall fand. Es verdiente ihn auch, wegen der ungemeinen Lustigkeit und des guten Komischen, das aus der Handlung selbst und aus der Situation der Personen entspringet und nicht auf bloßen Einfällen beruhet. Brueys gab ihm eine neue Sprache und brachte es in die Form, in welcher es gegenwärtig aufgeführet wird. Hr. Ekhof spielt den Patelin ganz vortrefflich.

Den funfzehnten Abend (dienstags, den 12. Mai) ward Lessings »Freigeist« vorgestellt.

Man kennt ihn hier unter dem Titel des »Beschämten Freigeistes«, weil man ihn von dem Trauerspiele des Hrn. von Brawe, das eben diese Aufschrift führet, unterscheiden wollen. Eigentlich kann man wohl nicht sagen, daß derjenige beschämt wird, welcher sich bessert. Adrast ist auch nicht einzig und allein der Freigeist; sondern es nehmen mehrere Personen an diesem Charakter teil. Die eitle unbesonnene Henriette, der für Wahrheit und Irrtum gleichgültige Lisidor, der spitzbübische Johann sind alles Arten von Freigeistern, die zusammen den Titel des Stücks erfüllen müssen. Doch was liegt an dem Titel? Genug, daß die Vorstellung alles Beifalls würdig war. Die Rollen sind ohne Ausnahme wohl besetzt; und besonders spielt Herr Boek den Theophan mit alle dem freundlichen Anstande, den dieser Charakter erfordert, um dem endlichen Unwillen über die Hartnäckigkeit, mit der ihn Adrast verkennet, und auf dem die ganze Katastrophe beruhet, dagegen abstechen zu lassen.

Den Beschluß dieses Abends machte das Schäferspiel des Hrn. Pfeffels: »Der Schatz«.

Dieser Dichter hat sich, außer diesem kleinen Stücke, noch durch ein anders, »Der Eremit«, nicht unrühmlich bekannt gemacht. In den »Schatz« hat er mehr Interesse zu legen gesucht, als gemeiniglich unsere Schäferspiele zu haben pflegen, deren ganzer Inhalt tändelnde Liebe ist. Sein Ausdruck ist nur öfters ein wenig zu gesucht und kostbar, wodurch die ohnedem schon allzu verfeinerten Empfindungen ein höchst studiertes Ansehen bekommen, und zu nichts als frostigen Spielwerken des Witzes werden. Dieses gilt besonders von seinem »Eremiten«, welches ein kleines Trauerspiel sein soll, das man, anstatt der allzu lustigen Nachspiele, auf rührende Stücke könnte folgen lassen. Die Absicht ist recht gut; aber wir wollen vom Weinen doch noch lieber zum Lachen, als zum Gähnen übergehen.


 << zurück weiter >>