Gotthold Ephraim Lessing
Hamburgische Dramaturgie
Gotthold Ephraim Lessing

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Vierunddreißigstes Stück

Den 25. August 1767

Aber dennoch dünkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, seinen Personen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geschichte gibt, als in diesen freiwillig gewählten Charakteren selbst, es sei von seiten der innern Wahrscheinlichkeit, oder von seiten des Unterrichtenden, zu verstoßen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie bestehen; nicht aber dieser. Dem Genie ist es vergönnt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrat seines Gedächtnisses, sondern das, was es aus sich selbst, aus seinem eigenen Gefühl, hervorzubringen vermag, macht seinen Reichtum aus;Pindarus, »Olymp.« II. str. 5. v. 10. was es gehört oder gelesen, hat es entweder wieder vergessen oder mag es weiter nicht wissen, als insofern es in seinen Kram taugt; es verstößt also, bald aus Sicherheit bald aus Stolz, bald mit bald ohne Vorsatz, so oft, so gröblich, daß wir andern guten Leute uns nicht genug darüber verwundern können; wir stehen und staunen und schlagen die Hände zusammen und rufen: »Aber, wie hat ein so großer Mann nicht wissen können! – Wie ist es möglich, daß ihm nicht beifiel! – Überlegte er denn nicht?« Oh, laßt uns ja schweigen; wir glauben ihn zu demütigen, und wir machen uns in seinen Augen lächerlich; alles, was wir besser wissen, als er, beweiset bloß, daß wir fleißiger zur Schule gegangen, als er; und das hatten wir leider nötig, wenn wir nicht vollkommne Dummköpfe bleiben wollten.

Marmontels Soliman hätte daher meinetwegen immer ein ganz anderer Soliman, und seine Roxelane eine ganz andere Roxelane sein mögen, als mich die Geschichte kennen lehret: wenn ich nur gefunden hätte, daß, ob sie schon nicht aus dieser wirklichen Welt sind, sie dennoch zu einer andern Welt gehören könnten; zu einer Welt, deren Zufälligkeiten in einer andern Ordnung verbunden, aber doch ebenso genau verbunden sind, als in dieser; zu einer Welt, in welcher Ursachen und Wirkungen zwar in einer andern Reihe folgen, aber doch zu eben der allgemeinen Wirkung des Guten abzwacken; kurz, zu der Welt eines Genies, das (es sei mir erlaubt, den Schöpfer ohne Namen durch sein edelstes Geschöpf zu bezeichnen!) das, sage ich, um das höchste Genie im Kleinen nachzuahmen, die Teile der gegenwärtigen Welt versetzet, vertauscht, verringert, vermehret, um sich ein eigenes Ganze daraus zu machen, mit dem es seine eigene Absichten verbindet. Doch da ich dieses in dem Werke des Marmontels nicht finde, so kann ich es zufrieden sein, daß man ihm auch jenes nicht für genossen ausgehen läßt. Wer uns nicht schadlos halten kann oder will, muß uns nicht vorsätzlich beleidigen. Und hier hat es wirklich Marmontel, es sei nun nicht gekonnt, oder nicht gewollt.

Denn nach dem angedeuteten Begriffe, den wir uns von dem Genie zu machen haben, sind wir berechtiget, in allen Charakteren, die der Dichter ausbildet oder sich schaffet, Übereinstimmung und Absicht zu verlangen, wenn er von uns verlangt, in dem Lichte eines Genies betrachtet zu werden.

Übereinstimmung: – Nichts muß sich in den Charakteren widersprechen; sie müssen immer einförmig, immer sich selbst ähnlich bleiben; sie dürfen sich itzt stärker, itzt schwächer äußern, nachdem die Umstände auf sie wirken; aber keine von diesen Umständen müssen mächtig genug sein können, sie von Schwarz auf Weiß zu ändern. Ein Türk und Despot muß, auch wenn er verliebt ist, noch Türk und Despot sein. Dem Türken, der nur die sinnliche Liebe kennt, müssen keine von den Raffinements beifallen, die eine verwöhnte europäische Einbildungskraft damit verbindet. »Ich bin dieser liebkosenden Maschinen satt; ihre weiche Gelehrigkeit hat nichts Anzügliches, nichts Schmeichelhaftes; ich will Schwierigkeiten zu überwinden haben und, wenn ich sie überwunden habe, durch neue Schwierigkeiten in Atem erhalten sein«: so kann ein König von Frankreich denken, aber kein Sultan. Es ist wahr, wenn man einem Sultan diese Denkungsart einmal gibt, so kömmt der Despot nicht mehr in Betrachtung; er entäußert sich seines Despotismus selbst, um einer freiern Liebe zu genießen; aber wird er deswegen auf einmal der zahme Affe sein, den eine dreiste Gauklerin kann tanzen lassen, wie sie will? Marmontel sagt: »Soliman war ein zu großer Mann, als daß er die kleinen Angelegenheiten seines Seraglio auf den Fuß wichtiger Staatsgeschäfte hätte treiben sollen.« Sehr wohl; aber so hätte er auch am Ende wichtige Staatsgeschäfte nicht auf den Fuß der kleinen Angelegenheiten seines Seraglio treiben müssen. Denn zu einem großen Manne gehört beides: Kleinigkeiten als Kleinigkeiten, und wichtige Dinge als wichtige Dinge zu behandeln. Er suchte, wie ihn Marmontel selbst sagen läßt, freie Herzen, die sich aus bloßer Liebe zu seiner Person die Sklaverei gefallen ließen; er hätte ein solches Herz an der Elmire gefunden; aber weiß er, was er will? Die zärtliche Elmire wird von einer wollüstigen Delia verdrängt, bis ihm eine Unbesonnene den Strick über die Hörner wirft, der er sich selbst zum Sklaven machen muß, ehe er die zweideutige Gunst genießet, die bisher immer der Tod seiner Begierden gewesen. Wird sie es nicht auch hier sein? Ich muß lachen über den guten Sultan, und er verdiente doch mein herzliches Mitleid. Wenn Elmire und Delia nach dem Genusse auf einmal alles verlieren, was ihn vorher entzückte: was wird denn Roxelane, nach diesem kritischen Augenblicke, für ihn noch behalten? Wird er es, acht Tage nach ihrer Krönung, noch der Mühe wert halten, ihr dieses Opfer gebracht zu haben? Ich fürchte sehr, daß er schon den ersten Morgen, sobald er sich den Schlaf aus den Augen gewischt, in seiner verehelichten Sultane weiter nichts sieht, als ihre zuversichtliche Frechheit und ihre aufgestülpte Nase. Mich dünkt, ich höre ihn ausrufen: »Beim Mahomet, wo habe ich meine Augen gehabt!«

Ich leugne nicht, daß bei alle den Widersprüchen, die uns diesen Soliman so armselig und verächtlich machen, er nicht wirklich sein könnte. Es gibt Menschen genug, die noch kläglichere Widersprüche in sich vereinigen. Aber diese können auch, eben darum, keine Gegenstände der poetischen Nachahmung sein. Sie sind unter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende; es wäre denn, daß man ihre Widersprüche selbst, das Lächerliche oder die unglücklichen Folgen derselben, zum Unterrichtenden machte, welches jedoch Marmontel bei seinem Soliman zu tun offenbar weit entfernt gewesen. Einem Charakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem fehlet die

Absicht. – Mit Absicht handeln ist das, was den Menschen über geringere Geschöpfe erhebt; mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was das Genie von den kleinen Künstlern unterscheidet, die nur dichten, um zu dichten, die nur nachahmen, um nachzuahmen, die sich mit dem geringen Vergnügen befriedigen, das mit dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden ist, die diese Mittel zu ihrer ganzen Absicht machen und verlangen, daß auch wir uns mit dem ebenso geringen Vergnügen befriedigen sollen, welches aus dem Anschauen ihres kunstreichen, aber absichtlosen Gebrauches ihrer Mittel entspringet. Es ist wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmungen fängt das Genie an, zu lernen; es sind seine Vorübungen; auch braucht es sie in größern Werken zu Füllungen, zu Ruhepunkten unserer wärmern Teilnehmung: allein mit der Anlage und Ausbildung seiner Hauptcharaktere verbindet es weitere und größere Absichten; die Absicht, uns zu unterrichten, was wir zu tun oder zu lassen haben; die Absicht, uns mit den eigentlichen Merkmalen des Guten und Bösen, des Anständigen und Lächerlichen bekannt zu machen; die Absicht, uns jenes in allen seinen Verbindungen und Folgen als schön und als glücklich selbst im Unglücke, dieses hingegen als häßlich und unglücklich selbst im Glücke zu zeigen; die Absicht, bei Vorwürfen, wo keine unmittelbare Nacheiferung, keine unmittelbare Abschreckung für uns statthat, wenigstens unsere Begehrungs- und Verabscheuungskräfte mit solchen Gegenständen zu beschäftigen, die es zu sein verdienen, und diese Gegenstände jederzeit in ihr wahres Licht zu stellen, damit uns kein falscher Tag verführt, was wir begehren sollten zu verabscheuen, und was wir verabscheuen sollten zu begehren.

Was ist nun von diesem allen in dem Charakter des Solimans, in dem Charakter der Roxelane? Wie ich schon gesagt habe: Nichts. Aber von manchen ist gerade das Gegenteil darin; ein paar Leute, die wir verachten sollten, wovon uns das eine Ekel und das andere Unwille eigentlich erregen müßte, ein stumpfer Wollüstling, eine abgefeimte Buhlerin werden uns mit so verführerischen Zügen, mit so lachenden Farben geschildert, daß es mich nicht wundern sollte, wenn mancher Ehemann sich daraus berechtiget zu sein glaubte, seiner rechtschaffnen und so schönen als gefälligen Gattin überdrüssig zu sein, weil sie eine Elmire und keine Roxelane ist.

Wenn Fehler, die wir adoptieren, unsere eigene Fehler sind, so haben die angeführten französischen Kunstrichter recht, daß sie alle das Tadelhafte des Marmontelschen Stoffes dem Favart mit zur Last legen. Dieser scheinet ihnen sogar dabei noch mehr gesündiget zu haben, als jener. »Die Wahrscheinlichkeit«, sagen sie, »auf die es vielleicht in einer Erzählung so sehr nicht ankömmt, ist in einem dramatischen Stücke unumgänglich nötig; und diese ist in dem gegenwärtigen auf das äußerste verletzet. Der große Soliman spielet eine sehr kleine Rolle, und es ist unangenehm, so einen Helden nur immer aus so einem Gesichtspunkte zu betrachten. Der Charakter eines Sultans ist noch mehr verunstaltet; da ist auch nicht ein Schatten von der unumschränkten Gewalt, vor der alles sich schmiegen muß. Man hätte diese Gewalt wohl lindern können; nur ganz vertilgen hätte man sie nicht müssen. Der Charakter der Roxelane hat wegen seines Spiels gefallen; aber wenn die Überlegung darüber kömmt, wie sieht es dann mit ihm aus? Ist ihre Rolle im geringsten wahrscheinlich? Sie spricht mit dem Sultan, wie mit einem Pariser Bürger; sie tadelt alle seine Gebräuche; sie widerspricht in allem seinem Geschmacke und sagt ihm sehr harte, nicht selten sehr beleidigende Dinge. Vielleicht zwar hätte sie das alles sagen können; wenn sie es nur mit gemessenem Ausdrücken gesagt hätte. Aber wer kann es aushalten, den großen Soliman von einer jungen Landstreicherin so hofmeistern zu hören? Er soll sogar die Kunst zu regieren von ihr lernen. Der Zug mit dem verschmähten Schnupftuche ist hart, und der mit der weggeworfenen Tabakspfeife ganz unerträglich.«


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