Gotthold Ephraim Lessing
Hamburgische Dramaturgie
Gotthold Ephraim Lessing

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Einundzwanzigstes Stück

Den 10. Julius 1767

Den sechsundzwanzigsten Abend (freitags, den 29. Mal) ward »Die Mütterschule« des Nivelle de la Chaussée aufgeführet.

Es ist die Geschichte einer Mutter, die für ihre parteiische Zärtlichkeit gegen einen nichtswürdigen schmeichlerischen Sohn die verdiente Kränkung erhält. Marivaux hat auch ein Stück unter diesem Titel. Aber bei ihm ist es die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter, um ein recht gutes, gehorsames Kind an ihr zu haben, in aller Einfalt erziehet, ohne alle Welt und Erfahrung läßt: und wie geht es damit? Wie man leicht erraten kann. Das liebe Mädchen hat ein empfindliches Herz; sie weiß keiner Gefahr auszuweichen, weil sie keine Gefahr kennet; sie verliebt sich in den ersten in den besten, ohne Mama darum zu fragen, und Mama mag dem Himmel danken, daß es noch so gut abläuft. In jener Schule gibt es eine Menge ernsthafte Betrachtungen anzustellen; in dieser setzt es mehr zu lachen. Die eine ist der Pendant der andern; und ich glaube, es müßte für Kenner ein Vergnügen mehr sein, beide an einem Abende hintereinander besuchen zu können. Sie haben hierzu auch alle äußerliche Schicklichkeit; das erste Stück ist von fünf Akten, das andere von einem.

Den siebenundzwanzigsten Abend (montags, den 1. Junius) ward die »Nanine« des Herrn von Voltaire gespielt.

Nanine? fragten sogenannte Kunstrichter, als dieses Lustspiel im Jahre 1749 zuerst erschien. Was ist das für ein Titel? Was denkt man dabei? – Nicht mehr und nicht weniger, als man bei einem Titel denken soll. Ein Titel muß kein Küchenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalte verrät, desto besser ist er. Dichter und Zuschauer finden ihre Rechnung dabei, und die Alten haben ihren Komödien selten andere, als nichtsbedeutende Titel gegeben. Ich kenne kaum drei oder viere, die den Hauptcharakter anzeigten oder etwas von der Intrige verrieten. Hierunter gehöret des Plautus »Miles gloriosus«. Wie kömmt es, daß man noch nicht angemerket, daß dieser Titel dem Plautus nur zur Hälfte gehören kann. Plautus nannte sein Stück bloß Gloriosus; so wie er ein anderes »Truculentus« überschrieb. Miles muß der Zusatz eines Grammatikers sein. Es ist wahr, der Prahler, den Plautus schildert, ist ein Soldat; aber seine Prahlereien beziehen sich nicht bloß auf seinen Stand und seine kriegerische Taten. Er ist in dem Punkte der Liebe ebenso großsprecherisch; er rühmt sich nicht allein der tapferste, sondern auch der schönste und liebenswürdigste Mann zu sein. Beides kann in dem Worte Gloriosus liegen; aber sobald man Miles hinzufügt, wird das gloriosus nur auf das erstere eingeschränkt. Vielleicht hat den Grammatiker, der diesen Zusatz machte, eine Stelle des Cicero»De Officiis«, Lib. I. Cap. 33. verführt; aber hier hätte ihm Plautus selbst mehr als Cicero gelten sollen. Plautus selbst sagt:

Alazon Graece huic nomen est Comoediae
Id nos latine Gloriosum dicimus –

und in der Stelle des Cicero ist es noch gar nicht ausgemacht, daß eben das Stück des Plautus gemeinet sei. Der Charakter eines großsprecherischen Soldaten kam in mehrern Stücken vor. Cicero kann ebensowohl auf den Thraso des Terenz gezielet haben. – Doch dieses beiläufig. Ich erinnere mich, meine Meinung von den Titeln der Komödien überhaupt schon einmal geäußert zu haben. Es könnte sein, daß die Sache so unbedeutend nicht wäre. Mancher Stümper hat zu einem schönen Titel eine schlechte Komödie gemacht; und bloß des schönen Titels wegen. Ich möchte doch lieber eine gute Komödie mit einem schlechten Titel. Wenn man nachfragt, was für Charaktere bereits bearbeitet worden, so wird kaum einer zu erdenken sein, nach welchem, besonders die Franzosen, nicht schon ein Stück genannt hätten. Der ist längst dagewesen! ruft man. Der auch schon! Dieser würde vom Molière, jener vom Destouches entlehnet sein! Entlehnet? Das kömmt aus den schönen Titeln. Was für ein Eigentumsrecht erhält ein Dichter auf einen gewissen Charakter dadurch, daß er seinen Titel davon hergenommen? Wenn er ihn stillschweigend gebraucht hätte, so würde ich ihn wiederum stillschweigend brauchen dürfen, und niemand würde mich darüber zum Nachahmer machen. Aber so wage es einer einmal, und mache z. E. einen neuen Misanthropen. Wenn er auch keinen Zug von dem Molièreschen nimmt, so wird sein Misanthrop doch immer nur eine Kopie heißen. Genug, daß Molière den Namen zuerst gebraucht hat. Jener hat unrecht, daß er funfzig Jahr später lebet; und daß die Sprache für die unendlichen Varietäten des menschlichen Gemüts nicht auch unendliche Benennungen hat.

Wenn der Titel »Nanine« nichts sagt, so sagt der andere Titel desto mehr: »Nanine, oder das besiegte Vorurteil«. Und warum soll ein Stück nicht zwei Titel haben? Haben wir Menschen doch auch zwei, drei Namen. Die Namen sind der Unterscheidung wegen; und mit zwei Namen ist die Verwechselung schwerer, als mit einem. Wegen des zweiten Titels scheinet der Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit sich gewesen zu sein. In der nämlichen Ausgabe seiner Werke heißt er auf einem Blatte »Das besiegte Vorurteil«; und auf dem andern »Der Mann ohne Vorurteil«. Doch beides ist nicht weit auseinander. Es ist von dem Vorurteile, daß zu einer vernünftigen Ehe die Gleichheit der Geburt und des Standes erforderlich sei, die Rede. Kurz, die Geschichte der Nanine ist die Geschichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte der Herr von Voltaire den Namen Pamela nicht brauchen, weil schon einige Jahre vorher ein paar Stücke unter diesem Namen erschienen waren, und eben kein großes Glück gemacht hatten. Die »Pamela« des Boissy und des de la Chaussée sind auch ziemlich kahle Stücke; und Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu sein, etwas weit Besseres zu machen.

»Nanine« gehört unter die rührenden Lustspiele. Es hat aber auch sehr viel lächerliche Szenen, und nur insofern, als die lächerlichen Szenen mit den rührenden abwechseln, will Voltaire diese in der Komödie geduldet wissen. Eine ganz ernsthafte Komödie, wo man niemals lacht, auch nicht einmal lächelt, wo man nur immer weinen möchte, ist ihm ein Ungeheuer. Hingegen findet er den Übergang von dem Rührenden zum Lächerlichen und von dem Lächerlichen zum Rührenden sehr natürlich. Das menschliche Leben ist nichts als eine beständige Kette solcher Übergänge, und die Komödie soll ein Spiegel des menschlichen Lebens sein. »Was ist gewöhnlicher«, sagt er, »als daß in dem nämlichen Hause der zornige Vater poltert, die verliebte Tochter seufzet, der Sohn sich über beide aufhält und jeder Anverwandte bei der nämlichen Szene etwas anders empfindet? Man verspottet in einer Stube sehr oft, was in der Stube nebenan äußerst bewegt; und nicht selten hat ebendieselbe Person in ebenderselben Viertelstunde über ebendieselbe Sache gelacht und geweinet. Eine sehr ehrwürdige Matrone saß bei einer von ihren Töchtern, die gefährlich krank lag, am Bette, und die ganze Familie stand um ihr herum. Sie wollte in Tränen zerfließen, sie rang die Hände und rief: ›O Gott, laß mir, laß mir dieses Kind, nur dieses; magst du mir doch alle die andern dafür nehmen!‹ Hier trat ein Mann, der eine von ihren übrigen Töchtern geheiratet hatte, näher zu ihr hinzu, zupfte sie bei dem Ärmel und fragte: ›Madame, auch die Schwiegersöhne?‹ Das kalte Blut, der komische Ton, mit denen er diese Worte aussprach, machten einen solchen Eindruck auf die betrübte Dame, daß sie in vollem Gelächter herauslaufen mußte; alles folgte ihr und lachte; die Kranke selbst, als sie es hörte, wäre vor Lachen fast erstickt.«

»Homer«, sagt er an einem andern Orte, »läßt sogar die Götter, indem sie das Schicksal der Welt entscheiden, über den possierlichen Anstand des Vulkans lachen. Hektor lacht über die Furcht seines kleinen Sohnes, indem Andromacha die heißesten Tränen vergießt. Es trifft sich wohl, daß mitten unter den Greueln einer Schlacht, mitten in den Schrecken einer Feuersbrunst oder sonst eines traurigen Verhängnisses, ein Einfall, eine ungefähre Posse, trotz aller Beängstigung, trotz alles Mitleids das unbändigste Lachen erregt. Man befahl in der Schlacht bei Speyern einem Regimente, daß es keinen Pardon geben sollte. Ein deutscher Offizier bat darum, und der Franzose, den er darum bat, antwortete: ›Bitten Sie, mein Herr, was Sie wollen, nur das Leben nicht; damit kann ich unmöglich dienen!‹ Diese Naivetät ging sogleich von Mund zu Munde; man lachte und metzelte. Wie viel eher wird nicht in der Komödie das Lachen auf rührende Empfindungen folgen können? Bewegt uns nicht Alkmene? Macht uns nicht Sosias zu lachen? Welche elende und eitle Arbeit, wider die Erfahrung streiten zu wollen.«

Sehr wohl! Aber streitet nicht auch der Herr von Voltaire wider die Erfahrung, wenn er die ganz ernsthafte Komödie für eine ebenso fehlerhafte als langweilige Gattung erkläret? Vielleicht damals, als er es schrieb, noch nicht. Damals war noch keine »Cenie«, noch kein »Hausvater« vorhanden; und vieles muß das Genie erst wirklich machen, wenn wir es für möglich erkennen sollen.


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