Gotthold Ephraim Lessing
Hamburgische Dramaturgie
Gotthold Ephraim Lessing

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Dreiundvierzigstes Stück

Den 25. September 1767

So etwas läßt sich vermuten. Doch ich will lieber beweisen, was ich selbst gesagt habe, als vermuten, was andere gesagt haben könnten.

Lindern, vors erste, ließe sich der Tadel des Lindelle fast in allen Punkten. Wenn Maffei gefehlt hat, so hat er doch nicht immer so plump gefehlt, als uns Lindelle will glauben machen. Er sagt z. E., Aegisth, wenn ihn Merope nunmehr erstechen wolle, rufe aus: »O mein alter Vater!« und die Königin werde durch dieses Wort »alter Vater« so gerühret, daß sie von ihrem Vorsatze ablasse und auf die Vermutung komme, Aegisth könne wohl ihr Sohn sein. »Ist das nicht«, setzt er höhnisch hinzu, »eine sehr gegründete Vermutung! Denn freilich ist es ganz etwas Sonderbares, daß ein junger Mensch einen alten Vater hat. Maffei«, fährt er fort, »hat mit diesem Fehler, diesem Mangel von Kunst und Genie, einen andern Fehler verbessern wollen, den er in der ersten Ausgabe seines Stückes begangen hatte. Aegisth rief da: ›Ach, Polydor, mein Vater!‹ Und dieser Polydor war eben der Mann, dem Merope ihren Sohn anvertrauet hatte. Bei dem Namen Polydor hätte die Königin gar nicht mehr zweifeln müssen, daß Aegisth ihr Sohn sei; und das Stück wäre ausgewesen. Nun ist dieser Fehler zwar weggeschafft, aber seine Stelle hat ein noch weit gröberer eingenommen.« Es ist wahr, in der ersten Ausgabe nennt Aegisth den Polydor seinen Vater; aber in den nachherigen Ausgaben ist von gar keinem Vater mehr die Rede. Die Königin stutzt bloß bei dem Namen Polydor, der den Aegisth gewarnet habe, ja keinen Fuß in das messenische Gebiete zu setzen. Sie gibt auch ihr Vorhaben darum nicht auf; sie fodert bloß nähere Erklärung, und ehe sie diese erhalten kann, kömmt der König dazu. Der König läßt den Aegisth wieder losbinden, und da er die Tat, weswegen Aegisth eingebracht worden, billiget und rühmet und sie als eine wahre Heldentat zu belohnen verspricht, so muß wohl Merope in ihren ersten Verdacht wieder zurückfallen. Kann der ihr Sohn sein, den Polyphontes eben darum belohnen will, weil er ihren Sohn umgebracht habe? Dieser Schluß muß notwendig bei ihr mehr gelten, als ein bloßer Name. Sie bereuet es nunmehr auch, daß sie eines bloßen Namens wegen, den ja wohl mehrere führen können, mit der Vollziehung ihrer Rache gezaudert habe:

Che dubitar? misera, ed io da un nome
Trattener mi lasciai, quasi un tal nome
Altri aver non potesse –

und die folgenden Äußerungen des Tyrannen können sie nicht anders als in der Meinung vollends bestärken, daß er von dem Tode ihres Sohnes die allerzuverlässigste, gewisseste Nachricht haben müsse. Ist denn das also nun so gar abgeschmackt? Ich finde es nicht. Vielmehr muß ich gestehen, daß ich die Verbesserung des Maffei nicht einmal für sehr nötig halte. Laßt es den Aegisth immerhin sagen, daß sein Vater Polydor heiße! Ob es sein Vater oder sein Freund war, der so hieße und ihn vor Messene warnte, das nimmt einander nicht viel. Genug, daß Merope, ohne alle Widerrede, das für wahrscheinlicher halten muß, was der Tyrann von ihm glaubet, da sie weiß, daß er ihrem Sohne so lange, so eifrig nachgestellt, als das, was sie aus der bloßen Übereinstimmung eines Namens schließen könnte. Freilich, wenn sie wüßte, daß sich die Meinung des Tyrannen, Aegisth sei der Mörder ihres Sohnes, auf weiter nichts als ihre eigene Vermutung gründe, so wäre es etwas anders. Aber dieses weiß sie nicht; vielmehr hat sie allen Grund, zu glauben, daß er seiner Sache werde gewiß sein. – Es versteht sich, daß ich das, was man zur Not entschuldigen kann, darum nicht für schön ausgebe; der Poet hätte unstreitig seine Anlage viel feiner machen können. Sondern ich will nur sagen, daß auch so, wie er sie gemacht hat, Merope noch immer nicht ohne zureichenden Grund handelt; und daß es gar wohl möglich und wahrscheinlich ist, daß Merope in ihrem Vorsatze der Rache verharren und bei der ersten Gelegenheit einen neuen Versuch, sie zu vollziehen, wagen können. Worüber ich mich also beleidiget finden möchte, wäre nicht dieses, daß sie zum zweitenmale ihren Sohn als den Mörder ihres Sohnes zu ermorden kömmt, sondern dieses, daß sie zum zweitenmale durch einen glücklichen ungefähren Zufall daran verhindert wird. Ich würde es dem Dichter verzeihen, wenn er Meropen auch nicht eigentlich nach den Gründen der größern Wahrscheinlichkeit sich bestimmen ließe; denn die Leidenschaft, in der sie ist, könnte auch den Gründen der schwächern das Übergewicht erteilen. Aber das kann ich ihm nicht verzeihen, daß er sich so viel Freiheit mit dem Zufalle nimmt und mit dem Wunderbaren desselben so verschwenderisch ist, als mit den gemeinsten ordentlichsten Begebenheiten. Daß der Zufall einmal der Mutter einen so frommen Dienst erweiset, das kann sein; wir wollen es umso viel lieber glauben, je mehr uns die Überraschung gefällt. Aber daß er zum zweiten Male die nämliche Übereilung auf die nämliche Weise verhindern werde, das sieht dem Zufalle nicht ähnlich; ebendieselbe Überraschung wiederholt, hört auf, Überraschung zu sein; ihre Einförmigkeit beleidiget, und wir ärgern uns über den Dichter, der zwar ebenso abenteuerlich, aber nicht ebenso mannigfaltig zu sein weiß, als der Zufall.

Von den augenscheinlichen und vorsätzlichen Verfälschungen des Lindelle will ich nur zwei anführen. – »Der vierte Akt«, sagt er, »fängt mit einer kalten und unnötigen Szene zwischen dem Tyrannen und der Vertrauten der Merope an; hierauf begegnet diese Vertraute, ich weiß selbst nicht wie, dem jungen Aegisth und beredet ihn, sich in dem Vorhause zur Ruhe zu begeben, damit, wenn er eingeschlafen wäre, ihn die Königin mit aller Gemächlichkeit umbringen könne. Er schläft auch wirklich ein, so wie er es versprochen hat. O schön! und die Königin kömmt zum zweiten Male, mit einer Axt in der Hand, um den jungen Menschen umzubringen, der ausdrücklich deswegen schläft. Diese nämliche Situation, zweimal wiederholt verrät die äußerste Unfruchtbarkeit; und dieser Schlaf des jungen Menschen ist so lächerlich, daß in der Welt nichts lächerlicher sein kann.« Aber ist es denn auch wahr, daß ihn die Vertraute zu diesem Schlafe beredet? Das lügt Lindelle.Und der Herr von Voltaire gleichfalls. Denn nicht allein Lindelle sagt: Ensuite cette suivante rencontre le jeune Egiste, je ne sais comment, et lui persuade de se reposer dans le vestibule, afin que, quand il sera endormi, la reine puisse le tuer tout à son aise, sondern auch der Hr. von Voltaire selbst: La confidente de Mérope engage le jeune Egiste à dormir sur la scène, afin de donner le temps à la reine de venir l'y assassiner. Was aus dieser Übereinstimmung zu schließen ist, brauche ich nicht erst zu sagen. Selten stimmt ein Lügner mit sich selbst überein; und wenn zwei Lügner miteinander übereinstimmen, so ist es gewiß abgeredete Karte. Aegisth trifft die Vertraute an und bittet sie, ihm doch die Ursache zu entdecken, warum die Königin so ergrimmt auf ihn sei. Die Vertraute antwortet, sie wolle ihm gern alles sagen; aber ein wichtiges Geschäfte rufe sie itzt woanders hin; er solle einen Augenblick hier verziehen; sie wolle gleich wieder bei ihm sein. Allerdings hat die Vertraute die Absicht, ihn der Königin in die Hände zu liefern; sie beredet ihn, zu bleiben, aber nicht zu schlafen; und Aegisth, welcher seinem Versprechen nach bleibet, schläft, nicht seinem Versprechen nach, sondern schläft, weil er müde ist, weil es Nacht ist, weil er nicht siehet, wo er die Nacht sonst werde zubringen können als hier.Egi. Mà di tanto furor, di tanto affanno
    Qual' ebbe mai cagion? – –
Ism. Il tutto
    Scoprirti io non ricuso; mà egli è d'uopo
    Che qui t'arresti per brev' ora: urgente
    Cura or mi chiama altrove.
Egi. Io volontieri
    T'attendo quanto vuoi. Ism. Mà non partire
    E non far sì, ch' io quà ritorni indarno.
Egi. Mia fè dò in pegno; e dove gir dovrei? –
– Die zweite Lüge des Lindelle ist von eben dem Schlage. »Merope«, sagt er, »nachdem sie der alte Polydor an der Ermordung ihres Sohnes verhindert, fragt ihn, was für eine Belohnung er dafür verlange; und der alte Narr bittet sie, ihn zu verjüngen.« Bittet sie, ihn zu verjüngen? »Die Belohnung meines Dienstes«, antwortet der Alte, »ist dieser Dienst selbst; ist dieses, daß ich dich vergnügt sehe. Was könntest du mir auch geben? Ich brauche nichts, ich verlange nichts. Eines möchte ich mir wünschen, aber das stehet weder in deiner; noch in irgendeines Sterblichen Gewalt, mir zu gewähren; daß mir die Last meiner Jahre, unter welcher ich erliege, erleichtert würde usw.«Mer. Ma quale, ô mio fedel, qual potrò io
    Darti già mai mercè, che i merti agguagli?
Pol. Il mio stesso servir fu premio; ed ora
    M'è, il vederti contenta, ampia mercede.
    Che vuoi tu darmi? io nulla bramo: caro
    Sol mi saria ciò, ch' altri dar non puote;
    Che scemato mi fosse il grave incarco
    De gli anni, che mi stà su'l capo, e à terra
    Il curva, e prime sì, che parmi un monte. –
Heißt das: Erleichtere du mir diese Last? Gib du mir Stärke und Jugend wieder? Ich will gar nicht sagen, daß eine solche Klage über die Ungemächlichkeiten des Alters hier an dem schicklichsten Orte stehe, ob sie schon vollkommen in dem Charakter des Polydors ist. Aber ist denn jede Unschicklichkeit Wahnwitz? Und mußten nicht Polydor und sein Dichter im eigentlichsten Verstande wahnwitzig sein, wenn dieser jenem die Bitte wirklich in den Mund legte, die Lindelle ihnen anlügt? – Anlügt! Lügen! Verdienen solche Kleinigkeiten wohl so harte Worte? – Kleinigkeiten? Was dem Lindelle wichtig genug war, darum zu lügen, soll das einem dritten nicht wichtig genug sein, ihm zu sagen, daß er gelogen hat? –


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