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Dresden, Prag, Wien. 1881-1882

Neben mehr als genügender Beschäftigung in Berlin brachte mir der Winter 1881-82 viele Konzerte und nebst London noch Gastspiele in Danzig, Prag, Dresden und Wien. Dresden, an das ich nie geglaubt haben würde, da man bei einem Gastspiel auf Engagement meine Schwester dort recht schlecht behandelte, wo es bei jeder Rolle hieß: »Die singt Frau Schuch, jene ist eine zu gute Partie von ihr«, so daß Riezl nur die wenigst dankbaren übrig blieben und das Engagement dadurch ins Wasser fiel. Nun sollte ich für Frau Schuch – die » on family way« – singen, so oft es meine Zeit erlaubte. Da Hülsen mir den Urlaub bewilligte, sobald es ohne Störung für Berlin zu ermöglichen war, hatte ich mit Intendant, Graf Platen, abgemacht, daß ich jeden Sonnabend, nach Feststellung des Repertoires, meine freien Tage nach Dresden telegraphierte, und mir von dort die zu singende Rolle zurücktelegraphiert wurde. Zuletzt überließ man mir auch diese Wahl, und es bedurfte keiner weiteren Antwort. Nun sang ich dort alles, was ich zu singen wünschte, pendelte vorerst fünf Monate lang zwischen Dresden und Berlin hin und her, worüber Hülsen mich eines Abends interpellierte: »Aber, liebe Lehmann, Sie singen ja fortwährend in Dresden, davon weiß ich ja gar nichts?« Er hatte unsre Abmachung vergessen, und ich pendelte ruhig weiter. Das Dresdner Gastspiel machte mich direkt glücklich und das Theater ein brillantes Geschäft. Kein Wunder, daß wir es beide nach Kräften ausnützten, und ich dort unter anderen Rollen die Carmen achtmal sang, die ich für mich fein ausgearbeitet und bereits in Danzig als Gast mit großem Glück gesungen hatte. Alles freute sich auf die animierten Vorstellungen, wie sie es mit beliebten Gästen immer sind, in denen Schuch und ich manchmal Tempi anschlugen, die nicht von schlechten Eltern waren. Als ich eines Abends wieder als Carmen auftrete, durchfährt mich aber ein furchtbarer Schreck, denn ich sehe anstatt Schuch Hofkapellmeister Wüllner am Dirigentenpult stehen, den ich als Musiker und Mensch gleich hoch verehrte, mit dem ich die Oper aber nie gemacht hatte. Was war denn um Gottes willen geschehen? Die Oper war, entgegen aller Gewohnheit, den Abend eine halbe Stunde früher angegangen, weil der König sie sehen wollte und für denselben Abend noch Einladungen hatte ergehen lassen. Schuch hatte darauf vergessen, war, als es anfangen sollte, nicht da, auch nicht zu finden, und Wüllner als rettender Engel eingesprungen. Das erfuhr ich aber erst, als ich meinen Schreck weg hatte und mitten in der Habanera Schuch wie Bankos Geist aus der Versenkung neben Wüllner auf- und Wüllner neben Schuch untertauchen sah. Wo eins gefällt, da wird ihm auch der Hof gemacht, und ich kann wohl sagen, daß ich vom Intendanten, seiner Gattin, Schuch, Wüllner, dem ganzen Personal und last not least vom Publikum auf den Händen getragen wurde, das mir bis auf den heutigen Tag treu blieb. Wie aber ging man auch auf in seinem Beruf, seinen Aufgaben unter der Leitung eines so glänzenden Gesang-Kapellmeisters, wie Ernst Schuch, der zu heben verstand, mit dem man fliegen konnte; der mit seinen Armen nicht zentnerschwer am Dirigentenpult klebte, sondern mit dem Sänger fühlte und atmete, ihm nach dem Munde sah, anstatt in seine Partitur. Den Geist der Kunst ließ Schuch über den Kunstwerken schweben und unterband dem Künstler nicht mit Blei die Schwingen, die ihn trugen. Wie lustig konnte es aber auch neben allem Ernste zugehen, z. B. in den lustigen Weibern, wo Degele, der beste aller Beckmesser, als Fluth in komischer Raserei seiner Eifersucht nicht Herr zu werden vermochte, oder ich – Buls und Erl im »Wildschütz« vor dem da capo-Sang des Quartetts: »Unschuldig sind wir alle« – meine großen Lorbeerkränze, die mir eben zugeworfen waren, um den Hals hing. Auch erinnere ich mich, wie Heldentenor Riese als Manrico, während Luna-Buls seinen Rachegelüsten im I. Akt Ausdruck lieh, zu mir herantrat und mir ziemlich laut, so, daß man es in den ersten Parquetreihen hören konnte, zurief: »Fürchte Dich nicht, Lilli, er darf Dir gar nichts tun!« Da ich Riese damals kaum kannte, war ich ob der Komik in der ernsten Szene ganz paff. Riese war ein ausgezeichneter Sänger, aber so klein, daß ich mich als Leonore nur auf zwei Meter Entfernung an ihn schmiegen konnte.

Da am 1. April mein Extraurlaub begann, reisten Mama und ich nach Wien über Prag, wo ich als Carmen ein Gastspiel eröffnete. Seit Beginn meiner theatralischen Laufbahn war ich nicht wieder in Prag gewesen und wurde mit offenen Armen empfangen. Am 17. April 1882 begann ich in Wien ein – ich darf wohl sagen – lebenslängliches Gastspiel, denn wenn ich auch nicht immer dem verlockenden Rufe Folge leisten konnte, man rief mich immer, und ich kam, so oft ich konnte. Wien stand einem so hoch; sofern man wußte, was dort verlangt wurde, wie schwer Publikum und Kritik zu befriedigen waren. Ich siegte aber als Königin in den Hugenotten und hatte von dem Tage an in Wien eine zweite musikalische Heimat gefunden. Es folgten: die Widerspenstige, Frau Fluth, Isabella, Philine, Donna Elvira, Adalgisa, Blondchen, Königin der Nacht, Venus und Marzelline, die, verschiedentlich wiederholt, sich auf 15 Gastspielabende in zwei Monaten beliefen. Es waren gar viele Rollen der Lucca darunter, also keine Kleinigkeit, darin zu gefallen, und wenn mich auch ihr Genie vorderhand noch in den Schatten stellte, durfte ich gleichwohl zufrieden sein mit dem sich immer steigernden Erfolge. Im Don Juan sang Frau Marie Wilt die Donna Anna; ich hörte diese außerordentliche Sängerin hier zum ersten Male, war überrascht von der jugendfrischen Stimme und gleichzeitig erschrocken über den Mangel jedweden körperlichen Reizes. Nicht selten lachte das ihr so herzlich gewogene Wiener Publikum bei ihrem Auftreten, verstummte aber vor dem seltenen Stimmzauber und der außergewöhnlichen Gesangstechnik dieser Frau. Sie leistete sich manchmal das Experiment, die Prinzessin und Alice im Robert, die nie gleichzeitig beschäftigt, oder auch die Valentine und Königin in den Hugenotten an einem Abend zusammen zu singen, was ihrer Kraft und Künstlerschaft als Sängerin nur eine Spielerei bedeutete. Welch merkwürdige Frau! Zur Klavierspielerin ausgebildet, ward ihre Stimme spät entdeckt, und erst mit 30 Jahren, glaube ich, betrat sie die Bühne. Obwohl sie viel verdiente, arbeitete sie im Hause alles allein und war nicht wenig stolz darauf, früh die »Schaffel« zu reiben und abends die Königin der Nacht zu singen. Als ich einmal die Prinzessin im Robert und sie die Alice sang, kam sie auf mich zu, um mir zu sagen: »Schau, jetzt kann ich sie nimmer singen nach Dir.« Sie duzte mich, ohne mich je gesehen zu haben, und auf ihren Ausspruch durfte ich mir was einbilden, da sie jungen Sängerinnen sonst gern am Zeuge flickte und sich kein Blatt vor den Mund nahm. Ihre prachtvolle Höhe, ihre gesangliche Kunstfertigkeit gestatteten ihr die Kleinigkeit einer dramatischen und Koloratur-Sängerin gleichzeitig. Schauspielerisch strengte sie sich freilich niemals an, aber was sie als Sängerin bot, steht wohl einzig in der Geschichte der Gesangskunst. Daß sie unschön war, wußte sie besser als andere, denn als ich ihr später einmal vor dem Maskenterzett – sie Anna, ich Elvira, Walter Octavio – sagte, sie solle doch bei der wahnsinnigen Hitze die Maske abnehmen, da noch so viel Zeit wäre, antwortete sie mir einfach: »die Leut' san froh, wenn's mich nicht sehen brauchen.« Sie war auch sonst sehr ungeniert, denn als wir Drei auf den bekannten historischen drei Maskenstühlen saßen und Walter über die Hitze klagte, meinte sie, daß ihr das Wasser nur so herunterliefe, griff gleichzeitig in ihren Busen, reicht Walter etwas, was sie darin bewahrte und frug ihn: »Magst' a Zuckerl?« – Unsere Stimmen paßten, als sie die Norma, ich Adalgisa sang, prächtig zusammen; es war schon ein Genuß, mit ihr zu singen, die Freude wurde mir Gottlob recht oft zu teil. – Auch Mar. Brandt kam noch zum Gastspiel, dann war Wilt – Anna, Brandt – Elvira, ich – Zerline. Meist dirigierte Jahn oder auch Hans Richter; dazu das Prachtorchester, der herrliche Chor, das warme impulsive Publikum, das wundervoll akustische Haus! Glück, Freude und Ehren bedeuteten die Wiener Gastspiele stets für mich. Als ich mich hier und allerorten so aufgenommen sah, unterlag es für mich keinem Zweifel mehr, daß ich künstlerisch auch in Berlin berechtigte Ansprüche machen dürfe.

Mein Wiener Gastspiel erfuhr eine achttägige Unterbrechung, indem mich meine Verpflichtung zum Niederrheinischen Musikfest nach Aachen rief, das Franz Wüllner leitete. Nicht nur die herrliche Reise von Wien über Salzburg an den Rhein, den ich in aller Frühe sich entschleiern, die Berge und Burgen im Morgenglanze baden sah, war's, was mir das Herz höher schlagen machte. Am ersten Abend sang ich Josua, am zweiten die große Szene der Armida mit der Furie des Hasses, und am dritten Isoldens Liebestod, den wir wiederholen mußten. Mit diesen beiden letzten Szenen verwirklichte sich der jungen Künstlerin ein oft ersehnter Traum, gewährte ihrem Streben Befriedigung und stärkte ihr den Mut, dem höchsten Ziele entgegenzureifen. –

Noch eine reizende Erinnerung knüpft sich an jenes Künstlerkonzert. Hans von Bülow, der meine Schwester schon begleitet hatte, sie sehr verehrte, so daß er nicht ohne sie in Leipzig konzertieren wollte, kam mit seiner Tochter Daniela in einer Probe mit den Worten an mich heran: »Guten Tag, Fräulein Lehmann, Ihre Schwester kenne und verehre ich sehr; Sie kenne ich noch nicht und weiß nicht, ob ich Sie auch so verehren werde!« Damit ging er, um sich in die Reihen der Zuhörer zu mischen. Am andern Tag, im Künstlerkonzert – ich hatte schon die zweite Arie aus der Schöpfung gesungen – saß ich zwischen Pulten versteckt auf dem Podium, um meine zweite Piece abzuwarten. Inzwischen hatte Bülow ein Klavierkonzert zu spielen. Ich saß am untersten Ende des Flügels, hörte Bülow zum erstenmal, konnte ihn auf diese Weise scharf beobachten, ja gerade ins Gesicht sehen. Das tat ich denn auch unaufhörlich und zwang Bülow dadurch, mich ebenfalls zu beachten. Je wärmer er spielte, je heißer wurde es ihm in dem ohnehin schon heißen Raume. Ich hörte ihn sein Spiel mit verhaltenen Wut- oder Kraftauslassungen begleiten und lächelte ihn ruhig überlegen an, sobald sein Blick den meinen traf. Als er geendet – er hatte wundervoll gespielt – ging er, sich die Stirne trocknend, dicht an mir vorbei und sagte laut: »Donnerwetter, in der Fräulein Lehmann ihrem Schatten ist's aber furchtbar heiß!« Von dieser Stunde an war er die Liebenswürdigkeit selber. Bei Karl Klindworth und dessen Engelsgattin traf ich mit ihm beim Diner zusammen, wo er geradezu ausgelassen übermütig, sich an echten Berliner Redensarten gar nicht genugtun konnte, und mir zum Andenken eine ganze Sammlung davon in Buchform schickte. Was waren wir doch lustig mit dem oft sonderbaren Manne! Eine ganze Weile vor diesem Zusammentreffen erhielt ich öfter prächtige Blumen von komischen Versen begleitet, die mit »Caligula Seidenschwanz« unterzeichnet waren. Mir fehlte jeder Anhalt, das Rätsel zu lösen, bis mir Daniela ihren Vater verriet. Bülow hatte über eine Prophetenvorstellung im königl. Opernhause die Worte: »Zirkus Hülsen« in einem seiner Symphoniekonzerte gebraucht und war bei seinem nächsten Besuch dafür aus der Oper gewiesen worden. Daraufhin veröffentlichte Bülow einen bösen Artikel in einer Berliner Zeitung, den er mit »Caligula Seidenschwanz« unterzeichnete.

Von Aachen eilte ich nochmals nach Wien, wohin Niemann nun auch zum Gastspiel gekommen war, das er mit dem Tannhäuser begann, worin ich Venus sang. Dann sollte Fidelio sein mit ihm als Florestan, Marianne Brandt – Leonore, Frau Dillner – Marzelline. An diesem Tage war ich frei und ging mit dem einst Geschirr abtrocknenden Baß, Carl Èech, der aus Prag gekommen war, Beethovens Grab aufzusuchen. Als wir eben nach Besichtigung der teueren Stätte ergriffen unsere Schritte heimwärts lenkten, begegnete uns Frau Dillners Gatte, Herr Schütz, ein Prager, der uns erzählte, daß seine Frau krank, am Abend nicht singen könnte. Gegen 2 Uhr war ich zu Hause, wo mir Mamachen mitteilte, daß Jahn schon mehrere Male nach mir gesandt habe, ich möge sofort aufs Bureau kommen. Jahn bestürmte mich, für Frau Dillner am Abend die Marzelline zu singen, die er niemand anvertrauen möge außer mir. Obwohl ich ihm zu bedenken gab, daß es doch keine Gastspielrolle sei, bearbeitete er mich doch so lange, bis ich ja sagte. Das Publikum zeichnete mich denn auch bei der kleinsten Gelegenheit aus, und Hanslick schrieb, daß der erste und schönste Lorbeerkranz der Marzelline, Fräulein Lehmann, gebühre. Es war ein würdiger Abschluß zu meinem Besuch an Beethovens Grab.

Einhundertundvierzigmal hatte ich nun in zehn Monaten gesungen. Rechnet man noch Reisen, Proben und Neugelerntes hinzu, alle Aufregungen, die diese begleiteten, darf man mich nicht faul schelten. Nachdem ich noch fünfmal in Prag gesungen und meine Schwester Prag verließ, um im August ihr Engagement an der Wiener Hofoper anzutreten, machten wir kurzen Prozeß, nahmen den Ranzen auf den Rücken und eilten ins Gebirge, um uns tüchtig auszulaufen. Zuerst durchs herrliche Gesäuse, wo wir am liebsten auf jeder Station tagelang sitzen geblieben wären, dann nach Klagenfurt über den Wörthersee nach Lienz aufs Glocknerhaus. Damals ein kleines Gebäude mit einem großen Schlafraum, worin 6-8 Betten standen, und einem kleinen Zimmer, in welchem wir schliefen. Es war eisig; da niemand weiter oben nächtigte, holten wir uns nachts eine Decke um die andere aus dem Nebenraum, bis wir warm genug lagen. Sehr früh ging's über die damals noch stark vereiste Pasterze, die heute nur noch Moräne ist, übers Kalser Thörl nach Kals hinunter, weil der Führer des Nebels wegen die Tour über das Kapruner Thörl fürchtete. In Kals sollten wir nach dieser und der langen Wanderung am Tage vorher einen Wagen finden. Als wir den Ort aber betraten, schwand bereits die luxuriöse Idee des alten Führers. Nach langem Suchen stellte man uns einen Pony, mit Damensattel, und einen hohen Ackergaul, mit Herrensattel, zur Verfügung. Diesen sollte meine Schwester reiten, deren Beine man dorthin warf, wohin sie gehörten. Das paßte ihr nun nicht, und wir entschlossen uns, zu Fuß weiter zu gehen, nahmen einen jungen Bauern als Träger, der mit mir voraus ging und mir viel Spaß machte. Er hatte nämlich ein Auge auf meine, hinter uns gehende, Schwester geworfen und wenn er mich etwas frug, z. B. ob ich französisch spräche, fügte er immer sofort hinzu: »Kann die da hinten dös a?« Kurz, »die da hinten« hatte es ihm angetan und spielte auf dem ganzen Wege für ihn eine große Rolle.

Von Lienz ging es weiter nach Bozen und Meran, wo wir nächtigten, über Eyers aufs Stilfser Joch nach Bormio. Spät und sehr ermüdet waren wir hier angekommen. Vom Korridor aus hörten wir einen Tenor sehr hübsch altitalienische Lieder singen, denen wir trotz aller Müdigkeit gerne bis zu Ende lauschten. Nun stürmte ein junger blonder eleganter Mann an uns vorbei, sah uns groß an und grüßte. An seiner Art, das Gebirgsgewand zu tragen, erkannte man, daß er »was Besseres«, obwohl er keck genug dreinschaute.

Am andern Morgen regnete es in Strömen. Alles saß bereits im Postwagen, wir im Mittelgehäuse, als uns zu Häupten, im Banquette, ein furchtbares Getrampel und Gestoße gegen unsre Wagenwände losging. Man machte einen Mordsspektakel: warum die alte Karrete sich nicht in Trab setze? Tief erbittert über die Ungezogenheit, die wir uns gar nicht erklären konnten, wollten wir eben Klage führen, als wir uns endlich in Bewegung setzten und die Beschwerden hinunterschluckten. Man schrie da oben lustig weiter, bis wir Mittagstation machten. Vergebens hatten wir die Köpfe unterwegs herausgesteckt, es war nichts zu sehen, zuerst vor Regen, dann vor Schnee. Unterdessen hatten wir aber Bekanntschaft gemacht mit unserem vis-à-vis, einem jungen, reizenden schottischen Landpastor-Ehepaar. Als wir in Le Prese ins Wirtshaus gingen, sahen wir denn auch den Spektakelmacher, der niemand anders als der blonde Tenor war, dessen Gesellschafter ein brünetter Herr und später von unsern braven Schotten als Halbbruder König Umbertos von Italien, d. h. natürlicher Sohn Victor Emanuels, bezeichnet wurde. Tatsächlich sah der junge Mann dem Bilde seines königl. Bruders, das im Wirtszimmer hing, zum Verwechseln ähnlich, nur daß eines seiner Augen unregelmäßig von dem andern abstach. Graf Mirafiore, wie er nach seiner Mutter hieß, machte einen sehr eleganten, ruhigen Eindruck, während der blonde Tenor sich wie aus Rand und Band gebärdete. Als wir nun sahen, daß die Scherze nur der Unterhaltung der Mitreisenden galten, lachten wir alle mit. Die beiden Herren schienen sehr bekannt zu sein; Wirt und Dienerschaft ließen sich alles gefallen. Niemand war vor ihren Einfällen sicher. In der Suppe lagen Blumen, im Bier eine silberne Zuckerdose, blaue Brillen im Compott; alles ward mit ansteckender Lustigkeit, der niemand widerstehen konnte, auf den Kopf gestellt. Das Wetter hatte sich aufgeklärt, der Tag wurde immer wärmer und schöner. Die beiden Herren gingen den Berg hinauf hinter unserem Wagen her. Weder Blumen noch Bäume wurden verschont, alles abgebrochen und mitgenommen; aber während eines kurzen Aufenthaltes, den wir alle zu machen gezwungen waren, näherte sich »der schwarze Prinz« mit einer Handvoll Alpenblümchen, die er gepflückt, unserm Wagen und überreichte sie mir galant, indem er sich uns als Graf Mirafiore vorstellte. Er sprach französisch. Ich hatte mir vorgenommen, weder meinen Namen noch Stand auf der Reise zu verraten, doch konnte ich dem einfachen, liebenswürdigen Manne gegenüber nicht anders, mußte mich also bequemen, mich zu nennen. Der blonde Tenor entpuppte sich als Baron E. aus Wien. Die Herren kamen aus Florenz, wollten auf die Bernina, und von hier über die Gletscher nach St. Moritz, wo Graf Mirafiore in seiner Villa den ganzen Sommer zubrachte. Von da an verließen die beiden Herren unsern Wagen nur, wenn es sehr schnell vorwärts ging. Sie hatten ihn bekränzt und ausgestattet wie zu einem Blumenkorso, und all mein Bitten, Blum' und Baum zu schonen, half mir nicht. Um 7 Uhr abends erreichten wir Poschiavo. Es gab nur ein Hotel, und schlecht genug war man für die Nacht untergebracht. Il conte Mirafiore hatte für alles Erdenkliche gesorgt; ihm standen zwei Führer, sein Kammerdiener und Koch zur Verfügung, und aufs liebenswürdigste wurden wir beide und unser schottisches Pastorenpaar von ihm eingeladen, sein Diner zu teilen. Am andern Morgen ging's um 5 Uhr weiter; Baron E. hatte seine glänzendste Laune wieder aufgesetzt und weckte das ganze Dorf, indem er laut durch die Straßen rief: » Poschiavi svegliatevi!« An jeder Türe wurde geklingelt, in jeden Garten gestiegen, für uns die schönsten Blumen zu stehlen. Unterwegs warf eine Frau dem Postillion drei Bund Lavendel aus dem Fenster, die er jemand mitnehmen sollte. Baron E. bemächtigte sich ihrer, übergab uns den einen, der Schottin den zweiten, und behielt den dritten für sich, weil, wie er sagte, »die alte häßliche Eigentümerin ihn nicht nötig hätte.« Die Herren hatten uns ihr Kupee eingeräumt, sie selbst saßen hinten auf, die Beiwagen waren zurückgeblieben. Je höher wir kamen, je kälter es wurde, desto mehr sangen beide und jauchzten; sie waren nicht tot zu kriegen. Der Graf sang den Aïdamarsch und Baron E. blies die Posaunen dazu; dann gab's alle italienischen und französischen Lieder und Arien, die man kannte, oder auch nicht kannte. Erst bei der vierten Cantoniera machte das Schneetreiben der Lustbarkeit ein Ende, und auf der Bernina kamen wir halberfroren an. Hier trennten sich unsre Wege. Wir sollten versprechen, die Diavolezzapartie mit ihnen zu machen, wozu ich mich nicht verstehen konnte, da ich ruhebedürftig war und wir die Herrlichkeiten des damaligen Pontresinas allein genießen wollten. Graf Mirafiore starb um 1891, ich bin ihm leider nie wieder begegnet.

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