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1.

Unser Kinderhimmelreich lag in den »Drei Kronen« am Eiermarkt in Prag. Das alte Vorderhaus, in welchem unser Hausherr Lederer residierte, hatte Lauben nach dem Markte zu, worin sich Läden befanden. Ein großer, langer Hof wurde von zwei neuen Seitenflügeln gebildet. Im linksseitigen Flügel hatten wir eine kleine Wohnung inne, die aus einem großen Zimmer und einer Küche bestand. Ein altes Hinterhaus – alles soll einmal Kloster gewesen sein – schloß den Hof ab und war durch eine neue Stiege mit dem unseren verbunden. Sämtliche Gebäude waren zweistöckig. In allen Parterreräumen waren Geschäfte, im Hinterhause, von beiden Seiten der Müllgrube, zwei große Gewölbe. Im ersten Stock des alten Hinterhauses eine große Wohnung, durch eine Diele verbunden, die im zweiten Stock eine Galerie bildete, auf welche wieder eine Menge kleiner Wohnungen liefen, deren Fenster teilweise wieder auf einen zweiten, schmalen, gartenartigen Hof – den Klosterkirchhof – gingen. Meine angenehmsten Erinnerungen haften an dem einen großen Gewölbe des Hinterhauses, in dem die Kolonialvorräte des Kaufmanns Klein aufgespeichert lagen, der uns Kinder oft einlud, in diese oder jene Tonne zu fassen, um Rosinen, Mandeln und Nüsse zu langen, oder auch an einem rinnenden Syrupfaß zu lecken. Als ich aber einmal – »ungeladen« – nach einem scheinbar mit Syrup gefüllten Glase langte, das überlief und mir Hand und Arm verbrannte, weil der Syrup Vitriol war, wurde mir das Schlaraffenland für immer verschlossen.

Im zweiten Stock hielt Fräulein Blowsky einen Kindergarten, den nur Kinder erster Familien besuchten. Kaum hatte sich Mamachen eingerichtet, meine Schwester ihren zweiten Geburtstag gefeiert, so wurden wir beide morgens um 9 Uhr hingeführt und um 12 Uhr wieder abgeholt. Mama bezahlte nicht mit Geld, sondern gab den kleinen, alle nicht über sechs Jahre alten Wesen, dafür täglich eine Singstunde. »Komm lieber Mai« von Mozart, »Kommt ein Vogerl geflogen«, »Weißt du wieviel Sternlein stehen« und wie sie alle heißen, die reizenden Kinderlieber, zwitscherten wir Kinderchen mit Lust und Liebe, wozu Mamachen – wenn's recht gut ging – die zweite Stimme sang. Bei Fräulein Blowsky lernten wir deutsche und französische Gedichte, Gespräche, Buckerln machen, d. h. uns verbeugen, uns gerade halten; Perlen an Schnüren aufziehen und zählen; Ampeln aus Glasperlen anfertigen, mit denen Freunde und Verwandte beschenkt wurden und die gar nicht so billig waren, wie sie aussahen; kurz, alles, was zu einer guten Erziehung gehört und so kleine Kinder eben leisten können. Mit großer Liebe, unendlicher Geduld und einer gewissen Strenge behandelt – denn Fräulein Blowsky stellte uns in den Winkel oder ließ auch mal auf Erbsen knien – lernten wir so manches spielend. Glückliche Erinnerungen knüpfen sich an diese Lehrzeit und an alle die lieben Kinderchen, die mit uns groß wurden. Später studierte uns Mama sogar kleine Stücke ein, die wir entweder in der Schule selbst oder auch im Ursulinerinnenkloster spielten. Bis zu meinem zwölften Jahre blieb ich, mit fast allen meinen Mitschülerinnen vereint, bei Fräulein Blowsky, deren Kindergarten sich nach und nach zu einer höheren Töchterschule umgestaltete. Dann besuchte ich zwei Jahre lang das Institut von Monsieur und Madame Clottu, wo nur in französischer Sprache gelehrt und gesprochen wurde, und anderthalb Jahre die Ursulinerinnenschule. Die große, robuste Mater Präfekt, welche die Rechenstunde gab, hatte mich besonders ins Herz geschlossen und gab sich ehrliche Mühe mit mir, die ich schlecht lohnte. Über Regel de tri und Kettensatz brachte ich es nicht und stehe heute sogar tief unter dem Niveau dieser Rechenkünste, von denen mir einzig das Küchenrechnen noch gelingen will. Am liebsten besuchte ich die Zeichenstunden, die uns die schöne, junge Schwester Bernhardine erteilte; da aber mein Talent dafür zu unbedeutend war oder auch die Stunden nicht hinreichten, eine solche Kunst in mir zur Entfaltung zu bringen, brachte ich es auch hierin nicht weit. Von da an hatte ich nur noch einzelne Privatstunden. Französisch bei Monsieur Chaussieur, der das große Los gewann, und Schönschreibunterricht bei Herrn Nickel, einem armseligen, hageren alten Manne, dem der Hunger aus den Augen und all seinen Kleidern sah. Mama bezahlte ihm fünfzig Kreuzer pro Stunde und setzte ihm auch gut geschmierte und belegte Semmeln vor, die vielleicht seine einzige Mahlzeit im Tage bildeten. Meiner Schwester Handschrift sieht nicht nach Schönschreibstunden aus, und auch ich bin keine Kalligraphin geworden. Aber der arme alte Herr, den wir so gerne gleich Zeitworten konjugierten: » je nicle, tu nicles, il nicle, nous niclons, vous niclez, ils niclent« ist wirklich unschuldig daran; denn damals vermochten wir noch nicht das Unrecht einer schlechten Handschrift anderen gegenüber zu beurteilen und zu verdammen. Kann er von oben herab mich Buchstaben malen sehen, um ihm und seinen Lehren gerecht zu werden, und ahnt er, in wie herzlicher Reue ich seiner dabei gedenke, dann darf ich seiner Verzeihung sicher sein.

Ehe ich Fräulein Blowskys höhere Töchterschule verließ, hatte sie eine neue Pensionärin bei sich aufgenommen. Betty Wurm, ein hübsches, lustiges, zu tollen Streichen aufgelegtes Mädel, die sie einfädelte und wir ihr auszuführen halfen. Nach irgendeinem solchen »neckischen Streich« – es muß nichts Schlimmes gewesen sein, sonst würde ich's behalten haben – wurde das ganze Institut eines Morgens in ein Zimmer befohlen. Da niemand die Angeberin spielen wollte, sollte ein »Gottesgericht« die Schuldige demaskieren. Ein großer Marktkorb stand auf einem Escabeau, und wir wurden beordert, eine nach der anderen unsere rechte Hand unter den Deckel zu führen und damit den inneliegenden Gegenstand zu berühren. So geheimnisvoll wie dieses Gericht aussah, konnte es einen wirklich ängstigen; wußte man doch nicht einmal, was in dem Korbe war! Die meisten Mädels waren so dumm, den inliegenden Gegenstand wirklich zu berühren; nur ich, die Lunte roch, hütete mich davor. Während nun sämtliche Mitschülerinnen mit schwarzgefärbten Händen, durch das Gottesgericht gebrandmarkt, herauskamen, ging ich als weißgewaschene Unschuld aus der höchst verfänglichen Inquisitionsprobe hervor. Im Korbe saß nämlich eine große, lebendige, mit Ruß angeschwärzte Henne!!!


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