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2.

Vom zweiten Stock in den ersten zu gelangen, ist nicht schwierig, wenn man, wie wir Kinder, mehrere Stufen auf einmal zu nehmen gewohnt war. Am liebsten hätte ich den ganzen ersten Stock übersprungen. Dort hauste der Barbar, Cölestin Müller, in seinem Klavierinstitut, das er im Verein mit seiner Schwester mir zu einer wahren Hölle gestaltete. Kaum war ich sechs Jahre alt geworden, als sich meine Mutter um einen Freiplatz in dieser Anstalt bewarb, den ich nach einer Prüfung aus sechs Jahre erhielt. Mama ging unbarmherzig in ihrer Erziehungsmethode vor, die ihr allerdings mehr Unannehmlichkeiten einbrachte als uns, was wir Kinder aber gar nicht estimierten. Mama hatte, obwohl den größten Orchestermitgliedsgehalt, doch nur sechshundert Gulden jährlich. Neunzig Gulden kostete die Wohnung, und weniger als ein Zimmer und eine Küche konnte man doch nicht haben. Auch mußte Mama ihre Harfensaiten, die eine kleine Summe verschlangen, selbst stellen. Große, übersponnene Baßsaiten kosteten je zwei Gulden. Zum Glück sprangen diese nicht gar so oft, kam es aber vor, so gab es uns jedesmal einen Riß in Herz und Geldbeutel. Obwohl das Theater eine Harfe stellte, zog Mama es doch vor, ihr eigenes Instrument zu benützen, mit dessen wundervollem Klang sich das andere nicht messen konnte. Nur durch enharmonische Verwechslung, die Mama viel Umschreiberei und Studium kostete, machte sie es möglich, die schwierigen Orchesterparts auf der einfachen Pedalharfe zu bewältigen, die nur um einen halben Ton die diatonische Tonleiter und nicht, wie die spätere Doppelpedalharfe um zwei halbe Töne modulieren konnte. Um das wertvolle Instrument nicht täglichen Transporten in Wind und Wetter auszusetzen, ließ sich Mama im Theater ein Zimmer einrichten, wohin sie täglich zum Üben ging, also doppelte Wege machen mußte. Nie ließ sie einen Tag vorübergehen, ohne nicht mindestens 1-1½ Stunde geübt zu haben. Diese Unbequemlichkeit war hauptsächlich schuld, daß ich so spät anfing Harfe zu lernen, um es schon nach Jahresfrist aus demselben Grunde wieder aufzugeben.

Bei unserer Übersiedlung nach Prag brachten wir wohl Betten, Leib- und Hauswäsche, Silber und Garderobe mit – Luxusgegenstände, Nippes usw. waren bei Onkel Pauli in Kassel einstweilen untergebracht worden –, aber keine Möbel, die nun auch angeschafft werden mußten. Da Mama über große Barmittel nicht verfügte, mußte sparsam und vorsichtig vorgegangen werden. Unter solchen Umständen war an die Anschaffung eines Flügels, den uns C. Müller für 250 Gulden überlassen wollte, nicht zu denken. Üben mußte ich aber. Müller offerierte Mama in dieser Verlegenheit ein Klassenzimmer, worin ich jeden Morgen von 7-8 Uhr üben durfte. Im Winter ging Mama schon um 6 Uhr hinunter, um mit unserem Brennmaterial zu heizen, damit Lillichen warm saß. Die Rute lag auf dem Klavier, dessen erinnere ich mich sehr wohl, doch wurde sie nie ernstlich gebraucht.

Die Freiplätze, wie sie in allen Musikinstituten Prags eingerichtet waren, bezahlten Prager Aristokraten. Herr Müller ließ uns reichlich entgelten, was wir ihm – seiner Meinung nach – nicht einbrachten. Er ließ an Grobheiten nichts zu wünschen übrig. In von ihm erfundenen Fingernetzen mußten wir an stummen Klavieren Fingerübungen machen, die mich viele Tränen kosteten. Müllers spinöse Schwester war aber fast noch schlimmer. Hatten wir uns mal ein paar Minuten »schmu« gemacht, gleich hatte sie es ausgewittert und brachte uns zu den stummen Fingerübungen zurück. Ich mag ja wohl zeitweise faul gewesen sein, gewiß ist aber, daß ich nie einen Funken Liebe von dieser Seite empfing, also auch nie damit vergelten konnte. Mama aber zeigte sich der ganzen Familie weit über ihre Verhältnisse erkenntlich.

Viele Schüler, die sich Müllers Grobheiten nicht gefallen lassen wollten, traten aus; unter ihnen auch die sehr fleißige Tochter Römers. Als ich nach sechsjährigem Studium dem Institut den Rücken wenden durfte, war dies ein Freudenfest für mich. In dem Schülerkonzert, das auf der Sofieninsel öffentlich stattfand, spielte ich Chopin und gefiel – wohl meines netten Aussehens halber. Ein weißes Musselinkleidchen mit rosa Seidenschärpe und kleinem schwarzem Sammetmieder kleidete mich sehr gut.

Ich will mich nicht besser machen als ich bin, und muß der Wahrheit die Ehre geben, daß ich viel mehr hätte lernen und in den sechs Jahren viel fleißiger hätte sein können; denn ich konnte fleißig sein und war es manchmal auch.

Nach mehrjährigem Unterricht bei Müller hatte Onkel Künzle in Heidelberg Mama die Summe für das Klavier vorgestreckt, die sie nach Bequemlichkeit abzahlen konnte; und nun brauchte ich nicht mehr unten zu üben. Dafür kam nun Berta Römer, die auch kein Klavier hatte, Sommers und Winters schon um sieben Uhr morgens zum Üben zu uns, wenn wir Lehmanns-Kinder noch im Bette lagen oder eben erst aufstanden.


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