Thomas Edward Lawrence
Aufstand in der Wüste
Thomas Edward Lawrence

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35. Einzug in Damaskus

Unser Krieg war zu Ende – wenngleich wir die letzte Nacht noch draußen in Kiswe lagern mußten; denn die Araber hatten uns berichtet, auf den Straßen wäre es gefährlich, und wir verspürten keine Lust, unmittelbar vor den Toren von Damaskus etwa ruhmlos im Dunkeln unser Leben zu lassen. Die sportgewohnten Australier betrachteten diesen Feldzug gegen Damaskus mehr als eine Art Wettrennen, bei dem es für sie nur darauf ankam, den ersten Preis zu ergattern. Aber alle Heeresteile hatten sich der Gesamtleistung Allenbys einzufügen, und der Sieg war einzig und allein das logische Ergebnis seines Genies und der methodischen Arbeit Bartholomews, seines Generalstabschefs.

Allenbys Operationsplan gemäß sollten die Australier die Gegend nördlich und westlich von Damaskus samt den Eisenbahnen besetzen und ausdrücklich abwarten, bis die südliche Kolonne der Engländer die Stadt erreicht hatte. Und wir selbst, die Führer der Araber, hatten beim Vorgehen auf Damaskus auf die bedeutend langsamer marschierenden Engländer gewartet, gewiß auch im Sinne Allenbys.

Er hoffte, wir würden bei dem Einzug zugegen sein, zum Teil weil er wußte, wieviel mehr als eine bloße Siegesbeute den Arabern Damaskus bedeutete, zum Teil aber auch aus rein sachlichen Gründen: denn dank der von Faisal geführten arabischen Bewegung begegnete die Bevölkerung den Engländern freundschaftlich auf ihrem Vormarsch durch Feindesland, so daß sich ihre Transporte ohne Bedeckung auf den Straßen bewegen und Städte ohne militärische Besatzung verwaltet werden konnten. Bei ihrer voreiligen Einkreisung von Damaskus konnten die Australier, entgegen ausdrücklichem Befehl, gezwungen werden, in die Stadt einzudringen. Trafen sie dann auf Widerstand von irgendeiner Seite, so konnte das möglicherweise alle unsere Zukunftspläne zunichte machen. In dieser letzten Nacht vor einem möglichen Sturm auf die Stadt mußten wir also den Versuch machen, die Damaszener zu veranlassen, die englischen Armeen als ihre Verbündeten zu empfangen.

Nun hatte das Damaskus-Komitee Faisals schon seit Monaten im stillen alle Vorbereitungen getroffen, um bei einem türkischen Zusammenbruch die Zügel in die Hand zu nehmen. Wir brauchten daher nur mit ihnen in Fühlung zu treten, um ihnen die Bewegungen der Verbündeten mitzuteilen und was zunächst zu tun sei. So sandte denn Nasir, als es völlig dunkel geworden war, die Rualla-Scheikhs in die Stadt. Sie sollten Ali Riza, den Vorsitzenden unseres Komitees, oder Schukhri el Ayubi, den zweiten Vorsitzenden, aufsuchen und ihnen mitteilen, daß am nächsten Morgen eine Schonung der Stadt möglich sein würde, falls sie sofort eine Regierung bildeten. Tatsächlich war das bereits, noch vor unserem Eingreifen, um vier Uhr nachmittags geschehen. Ali Riza war nicht in der Stadt anwesend – im letzten Augenblick hatten ihm die Türken ein Kommando bei ihrer aus Galiläa zurückgehenden Armee übertragen – Schukhri aber hatte unerwartet Unterstützung bei den beiden Algeriern, den Brüdern Mohammed Said und Abd el Kader, gefunden. Mit Hilfe ihrer Anhänger in der Stadt war noch vor Sonnenuntergang die arabische Flagge auf dem Stadthaus gehißt worden, während die letzten Staffeln der Deutschen und Türken daran vorüberzogen. Man erzählte sich, der letzte General habe die Flagge ironisch salutiert.

Ich riet Nasir entschieden ab, schon jetzt die Stadt zu betreten: es würde dort nur eine Nacht der Verwirrung geben, und es wäre seiner Würde angemessener, wenn er morgen in der Frühe feierlich einzöge. Er und Nuri Schaalan hatten ohne mein Wissen die zweite Gruppe der Rualla-Kamelreiter, die mit mir am Morgen von Deráa vormarschiert war, nach Damaskus den Ruallascheikhs zu Hilfe geschickt. Somit hatten wir gegen Mitternacht, als wir zur Ruhe kamen, viertausend unserer Bewaffneten in der Stadt.

Ich wollte ein paar Stunden schlafen, denn morgen stand mir viel bevor, aber ich konnte es nicht. Damaskus war der Brennpunkt unserer Gedanken gewesen, das uns stets vorschwebende Ziel in diesen zwei Jahren schwankender Ungewißheit; und mein Hirn war noch voll von all dem Wust der Ideen und Pläne, die während dieser Zeit verwirklicht oder verworfen worden waren. Zudem war Kiswe schwül von den Dünsten zu vieler Bäume, zu vieler Pflanzen, zu vieler Menschen: ein kleiner Ableger gleichsam der wimmelnden Welt da vor uns.

Bei ihrem Abmarsch sprengten die Deutschen die Material- und Munitionsdepots in die Luft, so daß wir alle paar Minuten aufgeschreckt wurden vom Krachen der Explosionen, deren erste gleich den Himmel weithin in Flammen setzte. Bei jedem dieser Schläge schien die Erde zu beben, und wenn wir nach Norden blickten, sahen wir den fahlen Nachthimmel durchsprüht von Garben heller Punkte: den Granaten, die, aus den gesprengten Magazinen mit ungeheurer Gewalt hoch in die Luft geschleudert, wie Raketenschwärme barsten. Ich wandte mich zu Stirling und sagte leise: »Damaskus brennt«, ganz krank bei dem Gedanken, die große Stadt in Asche zu finden als Preis für ihre Freiheit.

Als der Morgen graute, fuhren wir auf den Höhenrücken, der die Oase der Stadt südlich umgrenzt; wir getrauten uns kaum nach Norden hinzuschauen, aus Angst, nur eine Trümmerstätte zu sehen. Aber anstatt Ruinen lagen da stille Gärten in prangendem Grün, überdunstet vom frühen Nebel des Flusses, und durch seine Schleier hindurch schimmerte die Stadt, herrlich wie je, gleich einer Perle in der Morgensonne. Vom Aufruhr der Nacht war nichts mehr zu sehen als eine träge, hohe Rauchsäule, die in mürrischer Schwärze aus dem Speichergelände bei Kadem aufstieg, der Kopfstation der Hedjas-Bahn.

Wir fuhren die gerade, eingedämmte Straße durch die bewässerten Felder hinunter, wo Bauern eben ihr Tagwerk begannen. Ein Reiter kam uns entgegengaloppiert. Als er unsere arabischen Kopftücher im Wagen erblickte, hielt er an und streckte uns mit fröhlichem Gruß eine gelb leuchtende Weintraube entgegen: »Gute Nachricht«, rief er. »Damaskus heißt euch willkommen.« Er war von Schukhri el Ayubi gesandt.

Nasir war gerade hinter uns; wir überbrachten ihm die Botschaft, denn ihm, dem Kämpfer in fünfzig Schlachten, gebührte die Ehre, zuerst seinen Einzug in die Stadt zu halten. Er und Nuri Schaalan an seiner Seite setzten ihre Pferde in einen letzten Galopp der Stadt zu und verschwanden die lange Straße hinunter in einer Staubwolke, die zögernd zwischen den Berieselungskanälen in der Luft hängenblieb. Stirling und ich wollten ihm genügend Vorsprung lassen, und an einem kleinen Wasserlauf, kühl in der Tiefe einer steilen Rinne, hielten wir an, um uns zu waschen und zu rasieren.

Eine kleine Abteilung indischer Truppen blickte mißtrauisch musternd nach uns und unserm Auto und unserm Wagenführer in zerlumpter Militärhose und Waffenrock. Ich war ganz als Araber gekleidet; Stirling, außer dem Kopftuch, in der Uniform des englischen Stabsoffiziers. Der indische Unteroffizier, ein beschränkter und mißlauniger Mann, glaubte, hier wären Gefangene zu machen. Als wir dann aus der Haft befreit waren, hielten wir es an der Zeit, Nasir zu folgen.

In aller Ruhe fuhren wir die langgezogene Straße hinunter, die zu dem Regierungsgebäude am Ufer der Barada führt. Sie war umlagert von Menschen: auf ihr, neben ihr, an den Fenstern, auf den Balkonen und Dächern standen sie dichtgedrängt. Viele weinten, hier und da ertönten schwache Hochrufe, einzelne der Kühneren riefen uns bei Namen, die meisten aber standen nur und schauten – schauten, und die Freude leuchtete aus ihren Augen. Es war, als ginge es wie ein langer Seufzer durch die Reihen, uns geleitend vom Tor bis ins Herz der Stadt.

Am Rathaus sah es anders aus. Seine Stufen und Treppen waren dichtbesetzt von einer jauchzenden Menge, die schrie, sich umarmte, sang und tanzte. Man bahnte uns einen Weg in das Vorzimmer, wo der strahlende Nasir und Nuri Schaalan saßen. Rechts und links von ihnen standen die Algerier: Abd el Kader, mein alter Feind, und Mohammed Said, sein Bruder. Ich war stumm vor Staunen. Mohammed Said sprang vor und schrie, daß sie beide, die Enkelsöhne Abd el Kaders, des Emirs, zusammen mit Schukhri el Ayubi aus dem Hause Saladins, gestern die Regierung gebildet und Hussein zum »König der Araber« ausgerufen hätten vor den Ohren der gedemütigten Türken und Deutschen.

Indes er noch weiterprahlte, wandte ich mich an Schukhri, der kein Staatsmann war, aber von allen geliebt, ja, fast ein Märtyrer in den Augen des Volks um dessentwillen, was er von Djemal Pascha erduldet hatte. Er erzählte mir, daß die beiden Algerier, als die einzigen in Damaskus, zu den Türken gehalten hätten, bis sie sahen, daß sie davonzulaufen begannen. Dann wären sie mit ihren algerischen Anhängern in das Haus eingedrungen, wo das Komitee Faisals im geheimen tagte, und hätten gewaltsam die Leitung an sich gerissen.

Sie waren beide Fanatiker, deren Ideen von religiösen Motiven bestimmt wurden, nicht von der Vernunft; ich wandte mich daher an Nasir, um ihn zu bewegen, von Anfang an ihrer Frechheit einen Riegel vorzuschieben. Doch da ereignete sich ein Zwischenfall. Das lärmende Gedränge um uns her teilte sich plötzlich, als wäre eine Ramme hineingetrieben worden, Menschen flogen rechts und links auseinander, stürzten mitsamt zerkrachenden Tischen und Stühlen zu Boden, indes das gewaltige Gedröhn einer mir bekannten Stimme alles übertönte und zum Schweigen brachte.

In dem entstandenen freien Raum sah man jetzt Scheikh Auda abu Tayi in wilder Rauferei mit Sultan el Atrasch, dem Oberhaupt der Drusen. Die beiderseitigen Anhänger gingen schon gegeneinander los, während ich, um sie zu trennen, rasch hinzusprang und dabei mit Mohammed el Dheilan zusammenprallte, den die gleiche Absicht bewegte. Mit vereinten Kräften gelang es dann, die beiden Kampfhähne auseinanderzubringen; Auda wurde einen Schritt zurückgedrängt, während Hussein el Atrasch den leichteren Sultan rasch in die Menge schob und mit ihm in einen Nebenraum entwich. Dann sah ich mich nach Nasir und Abd el Kader um, um nunmehr die Regierung ordnungsgemäß einzusetzen. Sie waren fort. Die beiden Algerier hatten Nasir in ihr Haus zu einer Erfrischung eingeladen. Das traf sich gut, denn es gab jetzt Dringenderes zu erledigen. Wir mußten der Öffentlichkeit zeigen, daß die alte Zeit endgültig vorbei und eine Regierung aus dem Lande selbst schon an der Macht war: und dafür war Schukhri, als bereits regierender Präsident, mein bestes Werkzeug. So machten wir uns denn in unserem Wagen auf, um uns mit Schukhri in der Stadt zu zeigen: sein Anblick in so erhöhter Machtstellung mußte für die Bürgerschaft gleichsam das Wahrzeichen der vollzogenen Umwälzung selbst bedeuten.

Als wir einzogen, hatten uns viele Hunderte von Menschen begrüßt; jetzt aber waren aus jedem Hundert Tausende geworden. Alles: Männer, Frauen, Kinder, die Viertelmillion dieser Stadt, schien in den Straßen zu sein und nur darauf zu warten, daß unser Erscheinen den Funken der Begeisterung in ihre Herzen würfe. Damaskus wurde toll vor Freude. Die Männer schleuderten jubelschreiend ihre Tarbuschs in die Luft, die Frauen rissen ihre Schleier vom Gesicht. Die Hausbesitzer streuten Blumen, breiteten Teppiche und Vorhänge vor uns auf den Weg; ihre Frauen lehnten sich, schreiend vor Lachen, durch die Gitterfenster und überschütteten uns mit ganzen Eimern von Wohlgerüchen.

Die Derwische gaben die Läufer ab vor und neben unserm Wagen, heulten und stachen sich mit Messern in wilder Raserei. Und über dem allgemeinen Geschrei der Menge und dem Kreischen der Frauen dröhnte wie in rhythmischem Gesang der Ruf tiefer Männerstimmen: »Faisal, Nasir, Schukhri, Urens«. Wie eine Welle hub es an bei uns, rollte über die Plätze, den Markt, die langen Straßen hinunter zum Osttor, rund um die Stadtmauer, kam vom Medina-Tor wieder zurück und wuchs bei der Zitadelle wie eine Mauer von Rufen um uns empor.

Es wurde mir berichtet, Chauvel, der Führer der englischen Truppen, wäre soeben angekommen. Unsere Wagen trafen sich in der südlichen Vorstadt. Ich beschrieb ihm die Erregung in der Stadt, und daß die neue Regierung einen geregelten Verwaltungsdienst nicht vor dem morgigen Tag garantieren könnte; alsdann wolle ich mit ihm zusammenkommen, um alle für uns und die englischen Truppen notwendigen Maßnahmen zu besprechen. Bis dahin stände ich persönlich für die öffentliche Ordnung ein, bäte ihn aber nur, die englischen Truppen vorläufig noch außerhalb der Stadt zu belassen. Denn die Nacht würde innerhalb der Mauern einen Karneval sehen, wie ihn die Stadt seit sechshundert Jahren nicht mehr gefeiert hätte, und das könnte denn doch die Disziplin der Truppen gefährden.


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