Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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XXI

Am dritten Tage wurde Hans Behrend beerdigt. Es war eine stille und einfache Feier. Ein heimliches Regen zog über den kleinen Gottesacker, als die Leidtragenden mit der schlichten Lade, auf der nur ein Lorbeerzweig ruhte, über die schmalen Sandwege gingen. Die alten Bäume der Priesterkoppel rauschten traurig auf, ein Grasmückchen saß im Gebüsch und dämmerte seine anspruchslose Strophe in den Abend hinein. Die halbe Einwohnerschaft von Sankt Anne ter Muiden stand an der frischgeworfenen Grube. Auch der Seelenmensch hatte es sich nicht nehmen lassen, dem Dahingeschiedenen die letzte Ehre zu erweisen. Er hatte das, was sterblich von ihm war, den Armen des Meeres genommen, jetzt wollte er auch sehen, wie ihn die Erde zudeckte. Mit borkigen Händen grapste er an seiner Schirmmütze herum, während die verwaschenen Augen über die Stätte des Todes gespensterten. Dann fuhr er mit der rechten Hand bedächtig und langsam durch die Luft, gerade so, als wenn die Seele des Verstorbenen neben ihm stände, und er sie streicheln müsse.

Wilhelmintje und Bernadintje waren in Schwarz. Sie mußten sich gegenseitig stützen. Heinrich vom Hövel und Moritz standen dicht bei der aufgetürmten Erde. Als erste ließen sie die duftenden Schollen niederfallen, dann gingen sie unter die nahgelegenen Bäume, um ihren Schmerz zu verbeißen. Sie wollten nicht weinen.

Ein großer Seevogel revierte hoch in den Lüften. Unermüdlich zog er Kreise um Kreise. Ab und zu stieß er einen heiseren Schrei aus.

Das weite Land dunkelte ein. Gegen sieben Uhr war alles vorüber. –

An demselben Abend waren die vereinsamten Menschen zusammen. Sie saßen im Thronsaal. Eine Flasche Burgunder stand vor ihnen. Jan Bottertje war eitel Würde und Weihe. Mit verschnittenen Polkahaaren und glattrasiertem Gesicht schenkte er ein. Es ging ihm schwer von der Hand. Es wollte ihm nun einmal nicht in den Kopf hinein, daß der deutsche Schriftgelehrte nicht mehr unter ihnen weilte.

»Wie'n seebefahrener Held auf 'nem Orlogschiff ist er untergegangen,« dachte er für sich und schluckte energisch seine Trauer hinter die Halsbinde.

Endlich war er mit seiner Arbeit fertig geworden. »Aber forsch war's doch,« setzte er leise hinzu.

Da erhob sich Heinrich vom Hövel und sagte: »Er ist von uns gegangen, weil seine Liebe zu groß war. Sein Tod bezwang die irdische Liebe. Ein stilles Glas dem abgeschiedenen Freunde.«

»Dem Meister,« fiel Moritz so ganz verloren dazwischen und hob die Hand und ließ sie dumpf auf den Tisch fallen.

»Dem lieben Menschen,« sagte Bernadintje. Sie mußte an sich halten, um Herr über ihre Stimme zu bleiben.

»Gott habe ihn selig.«

Wilhelmintje hatte gesprochen.

Und da sahen sie sich alle an und tranken. – Klaas Buhle aber stand in später Nacht an der Reling. Neben ihm befanden sich fünfunddreißig brennende Kerzen. Sie leuchteten so regungslos wie im Zimmer. Kein Windhauch erschreckte die matten Flämmchen. Am Strande von Heyst und Blankenberghe glitzerten die Lichtketten. Ein großer Ostindienfahrer zog am tiefen Horizont mit erhellten Luken vorüber. Wie eine unendliche Sehnsucht fuhr das einsame Schiff in das Land des ewigen Friedens.

Myriaden von Sternen! – und die Feuer von Knocke und Walcheren flogen ruhig über das schaukelnde Meer hin. –

Vom Kirchturm von Sankt Anne aus sieht man sie leuchten – und zu seinen Füßen und ihm hoch zu Häupten werden viele Stimmen lebendig, die nur die verstehen, die mit wehem Herzen der Geschichte von Hans Behrend und der schönen Anna-Maria gefolgt sind. Die alten Bäume erzählen davon, die Gräser flüstern es, die schwermütigen Glocken rufen es weiter: Nun ruhen sie beide unter dem kühlen Rasen und horchen auf die verlorene Sprache des Windes, der vom Meere heraufweht: sie an der tiefblauen Flut, die Capri umspielt, nicht weit von den Faraglioni entfernt, wo allabendlich die sonore Männerstimme singt: O dolce Napoli . . . – und er auf dem grauen, kleinen Kirchhof von Sankt Anne ter Muiden. An ihrer großen Liebe gingen sie und die dritte zugrunde. Anna-Maria! – Was sollte Sie noch? – Von ihrem großen Reichtum der Seele, von all ihrem Kämpfen und Ringen war ihr nur die Erinnerung und ein schmerzliches Lächeln übrig geblieben. Ihre Mission nahte sich dem Ende. Sie brauchte hienieden nicht mehr zu schaffen; sie hatte nur noch die Hände zu falten und auf die Barmherzigkeit Gottes zu warten.

* * *

Ganz allmählich ging es dem Spätherbst zu. Wetterkundige Leute prophezeiten einen harten Winter. Früher denn sonst schüttelten die Bäume ihre Blätter herunter. Wildgänse und Seevögel kamen zeitig vom hohen Norden und fielen in die Heyster Bucht ein. Bis weit ins Land hin tönte ihr helles Trompeten. Astern und Levkojen, die in den Vorgärtchen standen, ließen die Köpfe hängen und fielen auf die Rabatten zurück. Dann hing es wie von Eisnadeln in der Luft. Die Zeit war nicht mehr fern, wo Sinter Klaas sein Rößlein schirrte, um durch das vlämische Land zu reiten.

Die Kinder von Sankt Anne machten schon große Augen, und ihre Näschen glühten vor eitel Erwartung und Freude wie blanke Köhlchen.

Moritz war kein Kind von Sankt Anne ter Muiden; dennoch hatte er die größten Augen und die rötesten Backen. Ein schöner, warmer Sonnenstrahl fiel in das khakifarbige Häuschen, und da war der heilige Mann gekommen und hatte ihm sein Bernadintje ans Herz gelegt. Da ging eine stille, selige Freude über sein Antlitz, die mehr erzählte denn ein ganzer Band Liebesgedichte.

»Ach, Moritz . . .

»Ach, Bernadintje . . .

Erasmus und Anna van Dornick fehlten allerdings bei der einfachen Feier. Nur ein schlichtes Briefchen lag von ihr vor; darin schrieb sie: »Gott grüß' Euch, Ihr guten Menschen! Werdet so glücklich, wie ich unglücklich wurde und haltet lieb Eure Anna van Dornick.« Der Prediger aus dem benachbarten Sluis besorgte die Trauung. Heinrich vom Hövel war Zeuge, fuhr aber anderen Tages in die Kunststadt am Niederrhein, um, wie er versicherte, bei der Rückkehr der Schwalben wieder seinen Einzug zu halten. Sein Herz hing nun einmal an Sankt Anne ter Muiden, wo der Strandhafer sprachekundig ist, und ihn jedes Fleckchen Erde daran erinnerte, was groß und schön und heilig war und dann in voller Blüte absterben mußte.

Am Hochzeitstage selber paradierte Moritz in einem funkelnagelneuen Zylinder. Bernadintje hatte ihr Damastenes an und klingelte lieblich mit ihren goldenen Ohrgehängen herum, als müsse sie mit ihnen wie mit Schneeglöckchen den Frühling ihres Lebens einläuten. Aber diese Schneeglöckchen hörte nur Moritz. Da wollte auch er ein übriges tun und legte ein blankes, rundes Ding auf den Tisch, das wie eine geschlagene Münze aussah. Ein heiterer Sonnenstrahl, der durch die weißen Gardinen äugelte, weckte seinen Schmelz und ließ es hell aufleuchten.

»Was ist das?« erstaunte sich Bernadintje.

»Die goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft,« erwiderte Moritz, aber er sagte es sacht und bescheiden und nicht mit der Wichtigtuerei derjenigen, die ihr eigenes Lob als pompöse Affiche zum Fenster hinaushängen.

Da bekam auch Jan einen gewaltigen Respekt vor seinem Schwager. Er ähnelte einem spitzbäuchigen Kommerzienrat, dem bei der Bilanz eine fünfundzwanzigprozentige Dividende vor Augen tanzt.

»Van de Konink van Preußen?« fragte er aufgekratzt.

»Ja,« lächelte Moritz, und sein Geist tauchte unter in die Glückseligkeiten der kommenden Tage. –

Und die Erde schneite ein und grünte dann wieder. Als die Haselkätzchen darauf ihren goldenen Puder verstäubten, kam Anna van Dornick mit verweinten Augen herüber und pflanzte einen Rosenstock auf den Hügel des stillen Mannes, dem sie nicht angehören sollte im Leben. Ums Osterläuten ging ein heimliches Verwundern über die Erde, denn noch einmal fiel Flocke bei Flocke, und sie legten eine helle Spreite über die aufgewachten Narzissensterne und über alles, was grünen und blühen wollte. Die alten Giebeldächer in Brügge trugen lichte Schleier, wie sie die Beghinen tragen, wenn sie zum Tisch des Herrn gehn, und sahen mit ernsten Gesichtern in das dunkle Wasser, das langsam vorbeigurgelte.

Es war ums Abenddämmern. Das schwarze Nönnchen hatte bereits seinen Rundgang aufgenommen. Vom Turm der Hallen aus begleitete der Glockenspieler die siebente Stunde mit getragenen Klängen. Durch das Schneewehen drangen sie leise und gedämpft herüber.

Erasmus saß an diesem Abend am Fenster seiner Wohnung in der Heiligen Geist-Straße. Mit zusammengelegten Händen und gesenkten Hauptes folgte er den weichen Flocken, die stetig niederfielen. Die Fenster der gegenüberliegenden Häuser hellten allmählich auf, und die weißen Musselingardinen bekamen eine vergoldete Färbung. Erasmus saß wie im Traum. Vor ihm lagen die Korrekturbogen seines Werkes über Hans Memling. Ein beschriebenes Stück Papier ruhte daneben. Darauf standen die Worte verzeichnet: »So mich der Herr vorzeitig abberufen sollte, bitte ich meinen Freund Heinrich vom Hövel sich meiner Lebens- und Lieblingsidee getreulich anzunehmen, das Buch zu fördern und es zu einem glücklichen Abschluß zu bringen. So wird die Erinnerung an mich nicht ganz aus dem Gedächtnis der Menschen getilgt sein, und meine Tage sind nicht vergebens gewesen. Gott lohn's ihm und schenke ihm dereinstmals eine leichte und glückliche Stunde.

Brügge, am Tage, so der Herr einzog in Jerusalem.

Erasmus van Dornick.«

Und die weichen Flocken fielen stetig und immer.

Erasmus lächelte.

»Weiße Ostern,« sagte er mit einer Stimme, die fast das Jenseits berührte, und da war es ihm so, als wenn der Schnee über ihn käme, als wenn die glitzernden Sternchen dichter und dichter würden und ihn lautlos bedeckten.

»Weiße Ostern, selige Ostern . . .

Er tastete mit unsicheren Fingern über die Decke, die er über sich wähnte, die ihn warm und wohlig und wie ein Sterbelaken umhüllte. Noch einmal versuchte er die Hände zu falten, allein die Kräfte versagten.

»Herr, dein Wille geschehe . . .

In diesem Augenblick trat seine Tochter ins Zimmer – da sah sie: aus der weißen Schneedecke wuchsen bereits die Schatten des Todes.

Sie brach lautlos zusammen und barg ihr Antlitz in den Schoß ihres Vaters. Mit letzter Kraft legte er ihr die Hand auf den goldenen Scheitel.

»Lebe ihm und seinem Andenken . . .

Ein heiterer Abglanz flog über die verklärten Züge.

»Ostende nobis, Domine, misericordiam tuam,« sagte er mit gebrochenen Lauten.

Da konnte sie ihm die Augen zudrücken, denn sein ruhiges Antlitz war voller Frieden und Freude.

Unten aber – auf der dunklen Straße ging das schwarze Nönnchen mit brennender Kerze vorüber, und da lagerte sich auch über das verwunschene Brügge das Schweigen des Todes. –

Seinen letzten Aufzeichnungen gemäß wurde Erasmus neben Hans Behrend bestattet. – – –

Wandel und Wechsel! – Noch mehrere Male schneite die Erde ein und grünte dann wieder. Es waren Jahre vergangen. Moritz hatte schon längst das projektierte Atelier errichtet und sein Häuschen ausbauen lassen. Er war nicht mehr der arme Schlucker von früher. Pompös sah es bei ihm aus, und Bernadintje sorgte dafür, daß er mit jedem Tage seliger wurde. – über ihnen aber wohnte ein lieber Gast, den sie nicht mehr missen konnten.

Es war Anna van Dornick. Ihren Hausstand hatte sie in Brügge aufgelöst und war für immer nach Sankt Anne gezogen. Hier lebte sie nur seinem Gedächtnis und der geweihten Stätte, wo er die ersehnte Ruhe – endlich die ersehnte Ruhe gefunden hatte. Hier konnte sie am besten die Schwingen seines Geistes und seiner Liebe verfolgen, und wenn sie durch die Felder und die einsamen Straßen schritt, dann grüßten die Leute sie ehrerbietig, zerdrückten auch wohl eine Träne und flüsterten verstohlen: »Da geht die schöne Frau, die den deutschen Schriftgelehrten betrauert.« Am meisten aber war sie auf den Dünen zu finden, auf den weltverlorenen, einsamen Dünen – und sah den Schiffen nach, die vorüberzogen. – – –

Ich habe sie öfters gesehen. – Vornehmlich wenn das Meer weithin ins Land ruft, zwischen Dämmer und Abend, wenn die Leuchtfeuer anfangen zu blinken – geht ihre hohe Gestalt allein über Wiesen und Deiche. Und dann streckt sie traurig ihre Hände, ihre schneeweißen Hände; ihre Augen stehen in überirdischem Licht, und ihr schwarzer Schleier weht Himmel und Meer an.

So geht sie seit Jahren, so wird sie gehen, bis sie neben ihm ruht auf dem kleinen Kirchhof von Sankt Anne ter Muiden, wo der Strandhafer flüstert . . .

Arme Anna-Maria! – Der Friede sei mit dir!

 


 


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