Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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XIX

An diesem Abend war Moritz Dütz-Josum merkwürdig unruhig. Er setzte eine Pfeife Tabak in Brand, lehnte sich ins Fenster und sah den grauen Wolken nach, die straff und stetig über das eingedunkelte Land marschierten. Auf der nahen Station der Trambahn brannten bereits die Petroleumlampen. Das Licht einer Laterne flankierte den Eingang. Moritz hielt sich nicht länger. Es gibt Gedanken, die einen nicht loslassen, die immer wiederkommen wie Viehbremsen. Er klopfte die Pfeife aus und zündete sich eine Zigarre an, um doch etwas anderes zu haben. Auch das brachte das Gleichgewicht seines inneren Menschen nicht wieder. Heinrich vom Hövel blieb aus; von Brügge kam überhaupt keine Nachricht. »Die van Dornicks . . . na, ja – das ließ sich erklären, die wollten doch erst in einigen Tagen, aber Hans Behrend . . .

Moritz legte seine Zigarre beiseite. – Herrgott, noch mal! – der befand sich doch in einer ekelhaften Assiette. Wenn einem so was passierte . . .! – so was konnte einen ja in den Wahnsinn hineinfoltern und einem die Frage nahelegen, ob es nicht besser wäre . . . Unter Umständen gibt es eine Notwendigkeit der Selbstvernichtung. Der Mensch kann ein gerüttelt Maß voll Unglück und Seelenpein ertragen, aber was darüber hinausgeht . . .

Diese verfluchten Viehbremsengedanken! – Da pfiff er: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus . . .« hielt aber gleich nach den ersten Takten damit inne, weil er sich einredete, etwas Dummes gemacht und so eine Art von Anspielung gepfiffen zu haben. Na – denn was neues! – Er verfiel auf den Dessauer Marsch: »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage . . .« nahm Stock und Hut und begab sich zu Jan Bottertje. Dabei schlug er ein flirrendes Rädchen, das sich wie das Summeln einer fetten Hornisse anhörte.

»So leben wir, so leben wir . . .«

Auf diese Weise gelang's doch, die verflixten Grillen für eine kurze Zeit in die Wicken zu jagen; außerdem hoffte er, bei Jan und den Damen auch vom Hövel anzutreffen und auf vergnügtere Sinne zu kommen, denn so ein infames Alleinsein macht wirbelsinnig im Kopf und Gespenster sehen, die überhaupt gar nicht vorhanden sind. Also los denn dafür!

Den Rockkragen hochgeschlagen, pfiff er sich fidel an das khakifarbige Häuschen heran, hatte aber dabei das unbestimmte Gefühl, als wenn die lustige Melodie durch das scheußliche Gequiekse von Ratten begleitet würde – eine Ideenverbindung, die ihm plötzlich kam und immer da war, wenn eine große Sorge Kompanie mit ihm machte. Diese Biester! – also der Dessauer Marsch tat's auch nicht. Aber was tat's denn? – So blieb ihm nur noch sein zukünftiger Schwager übrig. Vielleicht hatte der Kerl vier Genever getrunken, war puppenmunter und ließ wieder die eisernen Brummers forsch über Deck rollen. Das gab doch zu lachen und konnte einen ordentlich aufmuntern.

Da lag schon das Häuschen. Der sture Wind nahm ihm fast die Tür aus der Hand. Die Damen saßen im Thronsaal unter der sanften Helle des japanischen Lampenschirms. Auch Jan war bei ihnen.

»Na, Kinder . . .

Moritz schlug einen jovialen Ton an. Mit gequälter Vergnügtheit rieb er die Hände zusammen. Er kam sich vor wie ein armseliger Komödiant, der lachenden Mundes zu mimen hat, obgleich er weiß, daß der Tod hinter ihm steht, ihn ständig belauert und bei der lustigsten Stelle in die Worte ausbricht: Schön, Männecken, man so weiter; das ist fein gemacht, le roi s'amuse – aber in vierzehn Tagen fahren wir deine Frau auf den Kirchhof. So was Ähnliches hatte auch Moritz an sich; trotzdem wollte er vergnügt sein. Gotts den Donner! – er wollte doch die ekelhaften Gedanken quitt werden.

»Na, Jan – Ferkel-Jonkheer, Admiral de Ruyter . . .

Er scharwenzte um Bernadintje herum und drückte ihr einen herzhaften Kuß auf, er tat noch ein übriges und ging soweit, Heinrich vom Hövel und Hans Behrend als ganz kleine, allerliebste Suitiers hinzustellen, die sich in Ostende und Blankenberghe amüsierten, denen es nicht darauf ankam, eine Hand voll blanker Goldfüchse über den grünen Tisch springen zu lassen – und das alles nur, um einen anderen Dreh in die miserable Stimmung zu bringen. Aber nichts wollte anschlagen. Bei den Bottertjes war dieselbe Geschichte, dieselbe Verstörtheit. Auch hier hing etwas in der Luft, etwas Unausgesprochenes, etwas, was greifbar nahe lag, das man aber nicht zu berühren wagte, aus purer Angst, die Wirklichkeit könnte sich noch schlimmer als das Befürchtete herausstellen.

Die beiden Frauen saßen mit gefalteten Händen und hörten auf die näselnde Stimme der Lampe. Jan war der verkörperte Denker, aber ein schwermütiger, der, sozusagen mit einem Trauerflor um den Hut und mit schwarzen Baumwollhandschuhen ausstaffiert, sich den tiefsinnigsten Betrachtungen hingab, ab und zu an seiner Tonpfeife saugte, ständig in sich hineinsimulierte und zur Kräftigung seiner Denktätigkeit den Rauchwölkchen nachsah, die in länglichen Kringeln zur Decke stiegen. Warum – das wußte er selbst nicht, aber all seine Grübeleien hatten lange Beine und liefen dem Winde konträr nach den Dünen – und so kam es denn schließlich, daß er die Stimmung mit diesen und dem Meere in Verbindung brachte und die Fülle seiner Gedanken nicht mehr in sich aufzuspeichern vermochte. Er mußte sie an den Mann bringen. Unruhig rutschte er auf seinem Binsenstuhl herum.

»Was los?« fragte Moritz.

»Je,« meinte Jan, »wenn jetzt einer auf See ist, bei diesem schweren Wetter auf See ist, und wenn dann das graue Wasser kommt, und wenn dann so einer etwas verzweifelt im Kopf ist – Moritz, der kann auch den richtigen Schlaf nicht finden.«

»Aber, Schwager – du willst ein seebefahrener Mensch sein, so'ne Art von Admiral de Ruyter . . . Ne, mein Junge, da habe ich doch mehr Kurasch in den Knochen. So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage . . . Mann Gottes, laß dich auslachen.«

»Wenn auch,« replizierte Jan und zuckte mit den Schultern. »Ich sage bloß, wenn jetzt einer auf See schwimmt . . .«

»Herr Jeses!« legte sich nun Wilhelmintje ins Mittel, »du willst doch hier keine Behauptungen aufstellen?!«

»Ich sage bloß, wenn jetzt einer auf See schwimmt . . .«

»Du willst uns doch hier nicht wie der Seelenmensch kommen?!«

»Wilhelmintje, ich sage bloß . . .«

»Dann sag' was, aber Gnade dir Gott, wenn's von die Heyster Bucht ist.«

»Jawoll,« platzte er los, »das von die Heyster Bucht wollte ich sagen.«

»Christus . . .!« rief Wilhelmintje, »Dämels seid ihr alle zwei beide.«

»Wer?«

»Du und Klaas Buhle.«

»Gottverdomie noch mal!« meinte er giftig und schlug auf den Tisch, »Weib, ich kann meine eigenen Gedanken doch haben!«

»Gewiß,« sagte Moritz, »das kannst du,« und legte ihm die Hand begütigend auf die Polkahaare, aber alle empfanden in diesem Augenblick, daß Jan nur das ausgesprochen hatte, was sie selber in Unruhe versetzte, und da rückten sie näher zusammen, sahen sich an und sprachen von Anna van Tornick, dem deutschen Schriftgelehrten und dem vornehmen Menschen, der nur gekommen war, um alles auseinander zu bringen, nannten die Dinge beim richtigen Namen, um dann wieder Vermutungen auszusprechen, die im Bereich des Unmöglichen lagen. Wilhelmintje wollte sogar die arme Herzogin von Burgund für die traurige Sache verantwortlich machen. Steif sah sie ins Licht. Ihre Hände gerieten in eine nervöse Bewegung.

»Nur von der kommt's her,« sagte sie, »nur von dem schönen Fraumensch in Brügge. Sie sieht akkurat aus wie die Predigertochter; und was er ist: er lief immer dahin und machte komische Anstalten in die Kirche. Dasselbe wird wohl mit dem andern passiert sein: auch verliebt in das schöne Fraumensch in Brügge und in Fräulein van Tornick – na, und wenn zwei die nämliche Liebe gleichzeitig haben, 'ne tote und 'ne lebendige Liebe, da geht das nicht anders – da springt immer Malör 'raus.«

»O Gott! – O Gott . . .!« seufzte Bernadintje und horchte auf den Wind, der an den Fensterkreuzen herumfingerte, sich an den Schlüssellöchern zu schaffen machte und leise im Hausflur fiedelte, als müsse er dem Gespräch auch die richtige Begleitung zukommen lassen.

»Stimmt,« sagte Jan Bottertje, »denn wenn jetzt einer auf See schwimmt – ne, der kann auch nicht mehr schlafen.«

Draußen gingen Schritte.

»Aber jetzt . . .« sagte Moritz. Kurzentschlossen verließ er das Zimmer, ohne sich um die andern zu kümmern, die klopfenden Herzens zurückblieben.

Er sah Heinrich vom Hövel vor sich und las ihm die Frage von den verstörten Zügen.

»Nein, Heinrich, er ist noch immer nicht da.«

Da mußte sich Heinrich vom Hövel am Türpfosten halten.

»Moritz, komm mit nach oben,« sagte er verloren vor sich hin. »Die hier unten erfahren es noch früh genug. Die müssen noch warten.«

»Also – du glaubst . . .

»Ja, der geht an seiner Liebe zugrunde, und es liegt schwer auf mir, daß ich es war, der ihm den Zipfel des schwarzen Tuches anbot.«

Moritz wähnte die Auslassungen eines Verrückten zu hören.

»Um Himmelswillen . . .

»Und das erdrückt mich,« ergänzte Heinrich vom Hövel, und da gingen sie hinauf und zündeten Licht an, und als die Lampe ihren freundlichen Schein durch die Stube warf, als Moritz mit bangen Augen an den Lippen seines Freundes hing, da umgriff dieser die Tischkante und erzählte alles, was er inzwischen erlebt hatte. »Ja,« sagte er endlich, und die Worte kamen ihm eng und gepreßt vom Munde, »daß er nicht hier ist, daß er meinen letzten Zuspruch nicht abgewartet hat, läßt mir alles möglich erscheinen. Wolle Gott, daß ich mich irre, aber ich kann den Gedanken nicht los werden: er hat das Theaterspielen satt und läßt den Vorhang herunter. Moritz,« brach es in ihm los, »wie ein Hund bin ich von Pontius zu Pilatus gelaufen. Erst zu ihm – nach der Katastrophe – und habe ihm das Versprechen abgenommen, auf mich zu warten und keine Dummheit zu machen. Dann zu ihr und dann wieder zu ihm, aber er hatte sein Wort nicht gehalten, und da sagte ich mir: Es geht um Leben und Sterben. Was treibt er jetzt? Was wird er morgen beginnen? Das begriff auch sie, als ich ihr das vorstellte, als ich ihr das auseinandersetzte – und aus dieser Stimmung heraus gab sie mir dies offene Schreiben. Wie im Wahnsinn, von einem Zweifel in den anderen geworfen, vertraute sie die schnell hingekritzelten Zeilen dem Papier an, unbekümmert darum, was nun kommen würde. – »Moritz!« – und er packte den Arm des vor ihm stehenden Mannes, der selber meinte, ihm würde ein Totenhemd über die Ohren gezogen: »Moritz, ich glaube, der Brief ist an einen gerichtet, der es nicht mehr nötig hat, sich in seinen Inhalt zu vertiefen. Der hört auch diesen Verzweiflungsschrei nicht mehr.«

Hastig entfaltete er das Schreiben und las mit zeitweilig stockendem Atem: »So darfst Du nicht fort. Unter keiner Bedingung. Bevor alles aus ist, muß ich Dich noch einmal sprechen. Versteh mich doch: ich war nicht Herr über mein Denken. Es klang wie Sterbeglocken in mir – auch jetzt noch. Ich muß Dir alles bestimmter und genauer erklären. Ich muß Dir die Hand aufs Herz legen und Dir sagen, wie ich noch immer um eine verlorene Liebe bettle. Sei doch stark, vielleicht wird alles dann besser. Tu keinen unbesonnenen Schritt. Möglich, daß noch eine größere Not über mich kommt. Wer soll mir dann helfen? Ich fürchte, ich verliere den Verstand. Wenn Du Dich beruhigt hast, komme ich nach dort; wenn angängig morgen schon. Bis dahin halte wenigstens aus. Gehe nicht wie ein Verzweifelter aus dem Leben. Mein Schicksal ist härter. Schleiche Dich nicht heimlich fort. Du hast ja noch immer meine Seele. Sei stark und tue nichts, was ich hier und im Jenseits nicht mehr los werden könnte. Ich küsse Dich . . .«

Das Blatt sank ihm am Leibe herunter.

»Moritz, das schrieb sie. Dann war ihre Kraft zu Ende. Ich vergesse die Stunde nicht. Ich vergesse die Ärmste nicht. Sie warf Anker um Anker, aber keiner wollte Boden fassen. Ich sah, wie das Schicksal aus dem Abend heraufstieg. Brügge ist eine tote Stadt; in ihr wird der Tod geboren. Unwillkürlich drängte sich mir dieser Gedanke auf. Dann wieder trat mir Sankt Anne in den Sinn. Ihn hier zu finden, war meine letzte Hoffnung. Auch die ist dahin gegangen. Was jetzt kommen soll? – ich weiß es nicht. Heute ist nichts mehr zu machen. Vielleicht morgen; aber ich glaube . . .«

Er sprach nicht mehr. Still setzte er sich zu Moritz, der wie ein Betrunkener zum Sofa gewankt war und sich dort niedergelassen hatte. Es hielt ihn nicht lange. Unruhig erhob er sich wieder.

»Also bis morgen,« meinte er mit flackeriger Stimme.

»Bis morgen,« sagte Moritz, ohne zu wissen, was er eigentlich sagte. Er hatte seine Fassung gänzlich verloren.

Dann trennten sie sich. Auch die anderen gingen bald auseinander. Verbrämte Wolken flogen unter dem Himmel, um zeitweilig eine plötzliche Mondhelle auftauchen zu lassen – nur für die Geschwindigkeit eines Gedankens, denn so eilig sie kam, so unvermittelt ging sie auch wieder. Die Bäume verflochten ängstlich ihre Kronen, die kleinen Häuser von Sankt Anne ter Muiden duckten sich unter dem Wind. Ab und zu schlug ein Hund an. Die Nacht hörte ihren eigenen Herzschlag, bedrängt durch verwunderliche, prophetische Stimmen zwischen Himmel und Erde und das graue, fliegende Wasser jenseit der Dünen, das sich aufbäumte, um wieder zusammenzufallen, das aufjauchzte, um bittere Tränen zu weinen, als erwecke es Reue und Leid über ein Unglück, das es angestellt hatte, schadenfroh und dennoch knirschend, unermeßlich, unerforschlich, gierig, lachend über sein Opfer – und doch eine zärtliche Mutter, um es wie ein Kind in ihren starken Armen zu wiegen. Ja – die Nacht hörte ihren eigenen Herzschlag; sie schlief nicht, sie ruhte nicht, sie brachte den Menschen keine Erlösung und reihte Stunden an Stunden, die sich lendenlahm fortschleppten und Gesichter hatten wie die elende Sorge und vertrocknete Blätter.

Jan Bottertje wälzte sich in den Kissen und horchte auf die Sprache des Kirchturms.

Zwölf Uhr; dann ging es auf Morgen: ein Uhr, zwei Uhr . . . bald darauf hallte die dritte Morgenstunde herüber.

»Gottverdomie, ich kann meine eigenen Gedanken doch haben! – Wenn jetzt einer auf See schwimmt . . .«

Da erhob sich Jan Bottertje, kleidete sich notdürftig an, nahm eine Kerze und tappte unruhig und ohne Zweck und Ziel durch die einzelnen Zimmer. Langsam ging es über Treppen und Stiegen. Sein Schatten zog mit, machte drollige Männchen und flegelte sich übermütig über das schmale Geländer, während er selbst vor lauter Angst und Sorge kaum noch aus und ein wußte. Vor einer niedrigen Tür machte er halt, horchte einige Zeit und klopfte dann an. Niemand gab Antwort. Er wußte genau, daß keiner »herein« rufen würde, daß niemand da war – und trotzdem mußte er anklopfen. Als keine Antwort erfolgte, klinkte er die Tür auf und leuchtete in die Stube, die sonst von Hans Behrend bewohnt war. Ein kalter Luftzug schlug ihm entgegen. Er fühlte eine eisige, schmale Hand auf der Stirne . . . Da machte er kehrt und stieg zur kleinen Giebelkammer hinauf, die nach Nordwesten lag und über das Vorland hinwegsehen konnte. Er stellte das Licht beiseite und lehnte sich zum Fenster hinaus. Ab und zu ein fliegendes Leuchten, dann wieder greifbares Dunkel . . . Die Bäume rauschten stärker; unter ihrem Rauschen wurden die Nebel geboren, die gleich Schlangen am Boden krochen, sich wie weißes Gewürm untereinander mischten, sich lautlos entwirrten, um geheimnisvoll in die nahen Wiesen zu gleiten. Über ihm zogen wandernde Tücher. Alle gingen landeinwärts. Scharf nach Nordwest flammte ein Schein auf. Weiter zur Linken ein zweiter. Er sah sie erst jetzt, obgleich sie jeden Abend dort standen und ums Morgengrauen erloschen. Es waren die Feuer von Walcheren und Knocke. Er konnte sich von den Feuern nicht trennen. Immer sah er darauf – stundenlang und mit klopfendem Herzen. Sie erschienen ihm wie ungeheure Kerzen, wie Totenlampen, die weithin das Meer absuchten.

Er hörte die Uhren schlagen, die von Sluis und Sankt Anne ter Muiden.

Fünf Uhr, sechs Uhr . . .

Die hellen Scheine waren schon lange vergangen. Grau in grau lag die Landschaft. Er konnte sich nicht vom Fenster losreißen. Mit übernächtigen Augen verfolgte er den Weg, der dem Meere zuführte, während die Krähenvögel schon auf der Koppel rumorten. Der erste Morgenfrühzug stampfte von Knocke durch die vorgelagerten Polder auf Sankt Anne zu. Wiederum vergingen lange Minuten, Alle bewegten sich schwerfällig. Jan harrte noch immer auf das Schicksal des anderen. Es war ein vergebliches Harren. Allmählich wurde ihm klar, ja – er fühlte es deutlich: auf den er wartete, den er herbeisehnte, der dachte an keine Heimkehr mehr, oder aber er hatte das Wiederkommen vergessen; da ging er und drückte das hinter ihm stehende Licht aus.

Sieben Uhr . . .

Gleichzeitig schlugen die Uhren von Sluis und Sankt Anne ter Muiden. Ruhig wie vorhin hallten die einzelnen Schläge über die noch immer eintönige Ebene, die kein Licht finden konnte. Aber es war Morgen geworden. Die Welt dachte an Arbeit. Auch Jan dachte daran.

Unter ihm gingen Schritte.

Heinrich vom Hövel mußte schon auf sein. Auch das Haus wurde rege.

Jan wollte gerade zur Treppe, als ihm der Atem aussetzte.

Ein heulender Ton zerteilte die naßgraue Luft; es klang so, als wenn ein Tier geheult hätte.

Er taumelte vorwärts.

»Ist jemand unten?« rief er in den Flur hinab.

In unartikulierten Lauten antwortete eine heisere Stimme durch die offene Haustür. Eine quälende Stille folgte.

»Da soll doch . . .«

Als er unten ankam und auf die Straße hinausstürzte, waren Wilhelmintje und Heinrich vom Hövel schon da. Vor ihnen stand der Seelenmensch mit verwehten Haaren und einem Gesicht, in welchem Tang und Seegras klebten.

Neugierige drängten sich in die gegenüberliegenden Fenster. Auch sie hatten den heulenden, tierischen Ton gehört, wie die meisten es gehört haben mußten, die in der Umgegend wohnten. Sprachlos sahen sie auf den Ankömmling, dessen Züge eckiger wurden, dessen Mundwinkel sich einzogen, dessen Zunge stumm war; aber sie mußte bald sprechen – das erkannten alle.

In banger Gewißheit trat Heinrich vom Hövel näher.

Da warf Klaas Buhle beide Hände aufwärts, um sie gleich darauf wieder fallen zu lassen.

»Mynheer vom Hövel,« sagte er ruhig und deutete mit dem breiten Daumen über die Schulter, »all right! – der hat kein Logis mehr. An der großen Düne – da liegt er.«

»Aber, Seelenmensch . . .

Der kniff die Lippen schmal und spreizte die Finger.

»Nix to beschaffen, Mynheer,« sagte er grausig, »er ist tot.«

Da war es Heinrich vom Hövel, als würde er niedergeschlagen.

Alle schrieen auf. Es war ein einziger Aufschrei.

»Jawoll,« erhob nun auch Klaas Buhle seine kranke Stimme, »nix mehr to beschaffen, und seine Seele – die kommt bald.«

Wilhelmintje war in die Knie gesunken. Der Seelenmensch trat auf sie zu, sah sie mit hartem Ausdruck an, als wenn er sie an alte Worte erinnern müßte. Dann streckte er die Rechte – mächtig, gebietend, fast drohend . . .

»Was, Wilhelmintje . . .! – Was ich gesagt hab': wenn die Feuer auf Backbordseite erst fliegen! – dann kostet's was, und wenn's eine Seele von Sankt Anne sein müßte. Na, und ist's keine Seele von Sankt Anne gewesen?«

Seine glasigen Blicke flammten auf.

»Ja, ja, ja!« stöhnte Wilhelmintje und warf sich die Schürze über die Augen.

Da lief eine wilde Not von einem zum andern und preßte die Herzen zusammen. Auch Heinrich vom Hövel war bleich wie die gekalkte Wand und meinte: »Und an der großen Düne – da liegt er?«

»All right,« sagte der Seelenmensch, »und die Frage ist nur, ob er nach hier soll, ob er bei die Bottertjes in das weiße Laken hinein soll . . .«

Nochmals deutete der vierschrötige Mensch über die Schulter. Da hing es wie Schwaden in der Luft, da war es, als käme der weiche, süßliche Weihrauchduft von Brügge herüber, als röche es nach Firnis und Wachskerzen, als würde ganz leise, kaum hörbar, aus weiter, verlorener Ferne die Totenglocke geläutet, und Heinrich vom Hövel beugte sich über Wilhelmintje, hob sie zu sich empor und fragte: »Ist es so recht, Wilhelmintje?«

»Aber, Mynheer . . .« sagte diese und wischte sich die Tränen herunter; und da waltete er seines traurigen Amtes, ordnete das Nötige an, schickte nach dem Küster und etlichen handfesten Leuten und sagte ihnen, daß sie sich nach einer Stunde an der Kirchentür einfinden sollten. Das weitere würden sie dort alles erfahren. Hierauf begab er sich selbst nach dem Postamt, aber er ging wie einer, der nach überstandener Krankheit, die ihn hart an den Rand des Grabes geführt hatte, seine ersten Gehversuche machte. Öfters mußte er den Fuß anhalten, um zu sich zu kommen. Als er die Depesche besorgt und wieder ins Freie hinaustrat, begegnete ihm Moritz Dütz-Josum, der bereits alles wußte und gerade zu ihm und den Bottertjes wollte.

Die beiden reichten sich stumm die Hände. Endlich sagte Heinrich vom Hövel: »Moritz, ich irrte mich, wenn ich mich unterfing, die schwere Last von ihm zu nehmen. Selbst die wundertätigen Hände konnten nicht helfen. Es ist schon richtig: niemand entgeht seinem Schicksal. Nun hat er das Geschlecht der Ruhelosen hinter sich gelassen – und das bringt Ruhe. Er hat sie sich selber gegeben.«

Moritz griff sich an die Stirne. Und wenn ihm gesagt worden wäre, er sei des Kopfes verlustig erklärt, könne sich aber durch ein einziges Wort vom Tode erretten – es wäre ungesprochen geblieben, denn obgleich er kein Unwissender war und der Überzeugung lebte, daß schon gestern abend nichts mehr zu hoffen übrig blieb, so machte ihn doch die schlichte Bestätigung durch den Mund seines Freundes sprachlos. Nein, Moritz Dütz-Josum hatte keine Worte mehr und konnte nichts sagen – und da stand der brave Mensch, der großzügige Künstler, der armselige Tropf, der in früheren Zeiten den Ratten die Brotschnitten abjagen mußte, um sein Leben zu fristen, so ganz bedrückt und beklommen unter dem Himmel und hörte das Meer rauschen und den Strandhafer und sah ein bleiches Gesicht und ein stilles Herz, das nicht mehr zu suchen und zu sorgen brauchte . . .

»Komm, Moritz . . .« und als sie zu den Bottertjes kamen, war Wilhelmintje damit beschäftigt, ihren großen Spiegel mit einem Tuch abzublenden. »Das wollen die Toten so haben,« sagte sie schmerzlich, dann zeigte sie auf die blanken Dielen: »Mynheer vom Hövel, hier kommt er zu liegen, hier in meinem Thronsaal, unter ›Ons Wilhelmintje‹. Besser kann's doch einer nicht haben.«

Heinrich vom Hövel drehte sich um.

»Moritz,« sagte er leise, »und da behaupten die Menschen: Nur der, den die Liebe ganz verlassen hat, sucht die Selbstvernichtung. Aber das stimmt nicht – wenigstens hier nicht.«

»Weiß Gott nicht!« versetzte Wilhelmintje. »Liebe – die hat er gehabt im Leben, mehr wie die anderen Menschen; die hat er auch jetzt noch. Daß er darüber sterben mußte – das ist eine andere Sache.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Ohrgehänge klingelten – traurig, ganz traurig, als wenn sich die Flitter von Rauschgold bewegten.

Sonst hörte man nichts mehr . . . und sie klingelten noch, als sich die Aufgebotenen am Kirchenportal versammelt hatten.

Keiner fehlte. Alle waren gekommen.

Da hob Klaas Buhle die Hand auf.

»Los denn dafür,« sagte er heimlich.

 


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