Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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XIV

Der Seelenmensch hatte vor der Hand falsch prophezeit. Anderen Tages stand wieder eine schöne, klare Sonne am Himmel. Der Admiral jedoch schnarchte bis spät in den Morgen hinein. Im Traum befand er sich auf einem mächtigen Orlogschiff und wütete gegen sein eigenes Interesse, indem er sich alle Mühe gab, in frevelhafter Weise Hand an den schönen Fockmast zu legen. Die Säge schnarchte und stöhnte und fraß immer tiefer und tiefer. So gegen neun Uhr herum gab's denn auch ein infernalisches Racken und Brechen und dann ein Krachen, das sich anhörte, als hätten sämtliche Stücke Salve abgegeben – und siehe da: langsam legte sich der Mast mit der gesamten Takelage, mit Salings und Marsen auf die Seite, tat noch einen letzten, herzhaften Seufzer und war dann über Bord ins Wasser gefallen. Vor dem donnerähnlichen Geplumpse fuhr der Admiral aus der Traumwelt in das wirkliche Leben zurück, saß jetzt als veritabler Jan Bottertje, als Spezereiwarenhändler, Balbierer und Ferkel-Jonkheer auf der Bettkante und simulierte in seinem konfusen Schädel darüber nach, was ihm alles passiert war.

Herrgott, noch mal, war das gestern eine fidele Reise gewesen! – und wie so allmählich die verbaselten Lebensgeister klarsichtiger wurden und nicht mehr nötig hatten, jeden Laternenpfahl mitzunehmen, um noch eben Balance zu halten, da erinnerte sich auch Jan Bottertje der verschiedenen Einzelheiten und zählte bedachtsam an den Fingern herunter: »Erstens: Glatte Abfahrt von Sankt Anne ter Muiden nach Brügge. Schöne Morgenbeleuchtung. Im übrigen nichts zu erwähnen. Prompte Ankunft und Ablieferung der Kiste mit Gemälde im Packhof. Hierauf Geschäft, Einkauf en gros, laut Tütenpapier, bei Wilms und Söhne und Verpackung fraglicher Gegenstände in die leer gewordene Landkutsch. Einstellung von Amalie, Sophie und Doortje in eine unbekannte Destille am Quai de la Potterie. Zur Belohnung – erster Genever.«

Jan besann sich; dann nahm er wieder den Faden auf.

»Zum andern: Moritz schlägt vor – auf nach Valencia! – eine Redensart, die übrigens auch Mynheer vom Hövel in die Gewohnheit hat und die meist was Pläsierliches bedeutet. Schön! – wir also zur ›Schwarzen Katz‹, 'nem Lokal, wo ähnliche Leute wie Moritz verkehren: Maler, Bildhauer und solche, die's werden wollen, aber zurzeit noch in den Eierschalen sind. Im übrigen aber: alles pläsierliche Menschen, und daher – der zweite Genever. Moritz trinkt Brüderschaft mit fünfzehn Kunstgenossen und behauptet beim dritten Genever, Bernadintje sei das schönste Weib unter Sonne, und weil ihm keiner in der »Schwarzen Katz« das Gegenteil beweisen konnte, blieb es dabei, und ich, als Schwager von ihr, wurde gleichfalls fetiert, stelle beim dritten Genever Wilhelmintje auch in die richtige Beleuchtung, krieg's mit die Begeisterung und singe:

Zj zullen hem niet temmen.
Den fieren vlaemschen leeuw . . .

und zwar so forsch, daß die Kunstgenossen vor lauter Anerkennung drei Bierlagen spendieren. Der Ferkel-Jonlheer soll leben und Moritz daneben! – worauf der Oberste von Moritz seinen neuen Duzbrüdern auf den Einfall kommt, der Blissinger Estaminet unsere Aufwartung zu machen – ein Vorschlag zur Güte – ganz meine Meinung – Moritz ist der nämlichen Ansicht . . . Also zum dritten: Auf nach die Blissinger Estaminet! – um die nächste Ecke herum – auf die erste Etage . . . und siehe da: ein ähnliches Lokal wie die »Schwarze Katz«, nur mit dem Unterschied, daß alles verräucherter ist, die Kunstgenossen lange Tonpfeifen rauchen, allerhand aufgetakeltes Schiffswerk von der Decke herabbammelt und einem größere Gläser anpräsentiert werden. Auch hier lauter pläsierliche Menschen, und da ging das nicht anders – der vierte Genever, und – weiß der Deuwel warum! – ich kommandiere das Ganze, steige als Admiral de Runter auf Deck, lasse honorig vier Bierlagen anfahren, kann des schweren Seegangs wegen nur schlecht mein Beinwerk regieren, will aufs Heck, vertu' mich aber und segle die Fallreeptreppe herunter . . . komme aber mit heilen Knochen davon, und da nehmen uns der Oberste von die »Schwarze Katz« und der von die Vlissinger Estaminet mit allen Kunstgenossen ins Schlepptau, verstauen uns bei der Destille am Quai de la Potterie in die Landkutsch und rufen noch: Wiederkommen! – Wiederkommen! – Jawoll! schreit Moritz und schwenkt seinen Zylinder. Wir also los mit Amalie, Sophie und Doortje. Unterwegs schwerer Seegang, aber schöne Abendbeleuchtung. Im übrigen nichts zu bemerken. Nur Moritz behauptet, so in Höhe von Damme herum sei einer von die beiden Zuckerhüte, von wegen schlechter Verfrachtung, über Bord gegangen. Kann immer passieren, aber das weiß ich selber: miserable Einfahrt gehabt – aufgestuckert – ein zweiter Zuckerhut zum Deuwel – Mann über Bord – die Kaffeebohnen fliegen man so . . . und dann Triumphzug in den Thronsaal: ich und der Freund van de Koning van Preußen. Aber fidel war's doch! – wäre nur das nicht mit die verteufelten Brummers . . .«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirne, warf sich gemächlich in Velvethose und Weste, lächelte bittersüß und begab sich, nicht ohne Sorge, Madam Wilhelmintje vor Augen zu treten, erst auf den Hofraum, sah mit lautem Geräusch nach der Wirtschaft, kommandierte in den Schweineställen herum, erzählte hierauf seinem Nachbar, daß er gestern ein großartiges Geschäft in Brügge gemacht habe, log dieselbe Geschichte noch einmal vor seiner eigenen Haustür einem Kunden vor, der soeben den Laden verlassen hatte, aber so lungenkräftig, daß ein Toter davon hätte aufwachen können, und das alles nur, um den Dummen zu spielen und seine hundserbärmliche Angst in die Wicken zu jagen – und dann erst, nachdem er auf diese Art den Boden vorbereitet, gab er Hals her und steuerte in die Höhle der Löwin. Aber wie das so oft im Leben passiert: wo die Not am größten ist, legen die Hühner die dicksten Eier . . . denn als Jan den Thronsaal beehrte, war Moritz schon anwesend, erzählte Wilhelmintje, die noch immer fuchsteufelswild war, eine lange Geschichte über die Erlebnisse des gestrigen Tages, setzte des weiteren auseinander, daß Jan sich nur pro gloria et patria aufgeopfert habe, denn so 'ne kleine Kneiperei wäre Mode, wenn ein Bild, das mal berufen sei, die ganze Familie honorig zu machen, an die königlich preußische Kunstausstellung in Berlin geschickt würde, und es könne äußerst übel vermerkt werden, und zwar an allerhöchster Stelle, falls man die ganze Kunstaffäre vorher nicht gründlich eingeseift hätte. Das sei nun geschehen, und Jan wäre ihm dabei ein treuer Bundesgenosse gewesen, habe sich überhaupt als Gentleman gezeigt, und er könne dem lieben Gott nur aus tiefster Seele für die Gnade danken, ihm einen solchen Schwager gegeben zu haben. Dabei schilderte Moritz in so glänzenden Farben, lobte die Fähigkeiten und den trinkfesten Opfermut seines Reisegefährten derart in den Himmel hinein, daß Wilhelmintje schließlich mit leuchtenden Augen auf Jan sah und sich die bittersten Vorwürfe machte, ein solches Exemplar von einem Helden und Menschen bis dato nicht richtig taxiert zu haben. Ja – als später die Bambocciade wirklich Furore machte, erzählte sie noch nach Jahren davon, daß eigentlich das Glück des Bildes durch die Bravour ihres Mannes, betätigt in der ›Schwarzen Katz‹ und der Vlissinger Estaminet, begründet worden sei – und das war ihr Mann, ihr angetraut vor Gott und den Menschen . . .

Wilhelmintje drehte sich um und um. Das ging ja über alle Begriffe! – und als Moritz hierauf noch so einen feierlichen Diener machte und ein Nelkensträußchen, das er bislang auf dem Rücken verborgen gehalten, hervorholte und ihr anpräsentierte, da war's alle mit Wilhelmintje. Mit klopfendem Busen ging sie auf Jan und Moritz gleichzeitig los, drückte beide an ihre Brust und konnte im Überschwange der Gefühle keine Worte mehr finden. Als dann noch Bernadintje erschien, sich noch einmal die Sache referieren ließ, war auch sie mit allem einverstanden und sanktionierte in aller Feier und Form die gestrige Reise. Jetzt erst wurde der letzte Nagel in die Versöhnungskiste geschlagen, was Wilhelmintje wiederum veranlaßte, eine Flasche Morgenwein zu traktieren, um auch äußerlich das gute Einverständnis zu bezeugen. Moritz war denn auch gleich bei der Sache, klingte an und sagte: »Es gibt höhere Pflichten als die Pflichten des Herzens – Pflichten, die an die Männerrippen klopfen, Pflichten, die dem Manne gebieten, im Dienste der Menschheit, im Dienste der Kunst und der höheren Lebensauffassung sich ein Gläschen über den Durst zu genehmigen. Was wollen dagegen ein geplatzter Kaffeesack, ein zertöpperter und ein verlorener Zuckerhut besagen?! – Wo die höchsten Dinge des Volkes auf dem Spiele stehen, darf man auf Bagatellen nicht sehen. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Mögen sie fallen! – Das haben die Damen auch eingesehen. Sie haben einen ehrlichen und glorreichen Frieden geschlossen – und daher: es lebe der Damenfriede von Sankt Anne ter Muiden!«

»Brav so,« nickte Jan Bottertje. Durch die Redensarten seines Schwagers geriet er derart aus dem Häuschen, daß er nicht mehr imstande war, Dichtung und Wahrheit auseinander zu halten, infolgedessen er sich kurzweg auf die Seite der Dichtung schlug, alles für bare Münze hinnahm, was Moritz aufgetischt hatte, sich für einen Ausbund von Welterlöser hielt und auch in dem Glauben selig gestorben ist, seinen Schwager zu einer Berühmtheit allerersten Ranges gemacht zu haben.

»Also – der Damenfriede von Sankt Anne ter Muiden . . .

»Hoch und abermals hoch!« riefen die Damen.

Bernadintje hörte die Engel im Himmel musizieren.

»Auch reden kann er,« meinte sie glücklich. »Herrgott, was kann Moritz nicht alles!« und sie machte dazu ein Gesicht, als wenn es jetzt die allerhöchste Zeit wäre, ihren Verlobten in die erste Kammer der Generalstaaten wählen zu lassen, wenn das holländische Volk nicht seines besten Vertreters und Sprechers beraubt werden sollte. Besonders das mit dem »Damenfrieden« gefiel ihr. Immer nobel gegen die Damen! – eine Devise, die Hand und Fuß hatte und ihr verriet, daß bei Moritz das Herz auf dem richtigen Fleck saß . . . und so, unter dem Damenfrieden von Sankt Anne ter Muiden stehend, verlebten die ehelichen und bräutlichen Menschen nur glückliche Tage, voller Lerchenschlag und Sonnenschein, Tage, von denen man sagen konnte: Sie gefallen mir, und wer sie lieb hat, der hat das Leben lieb; wer sie fleißig suchet, wird große Freude haben – und sie hätten die seligen Tage auch bis zur Neige ausgekostet, wäre nicht wieder der graue Schatten von früher aufgetaucht, der sich von neuem reckte und streckte, vor dem Häuschen mit den Oleanderbäumen stehen blieb und in die erste Etage hineinsah. Und es waren häßliche, lauernde Augen, mit welchen er in die geöffneten Fenster hineinsah, ähnlich denen eines fernen Wetters, das murrend am tiefen Horizont liegt, ab und zu die alten, tückischen Lichter aufreißt und heraufkommen möchte.

Noch achtete niemand auf ihn. Unbeobachtet ging er einsame Wege, über stille Felder, die schon in der Stoppel standen. Er machte sich noch nicht breit genug, um deutlich gesehen zu werden. Sein Gang war heimlich und tagscheu. Er ging wie auf Socken und schwebte wie auf Fledermausflügeln. Er war ein unheimlicher Gast, der ruhig die Entwicklung der Dinge verfolgt, scheinbar ohne Teilnahme dasitzt, kein Lächeln findet und mit insichgekehrten, regungslosen Zügen wartet und wartet, um schließlich die kalte, dürre Hand mit einem höhnischen Lachen über den Tisch der Freude zu strecken. Und wenn er sie ausstreckt . . . Noch war es nicht so weit, aber das sollte bald kommen. –

Im stillen Austausch von Gedanken und Plänen gingen den Liebenden die Tage hin. Sichtlich erholte sich Anna van Dornick. Mit jedem neuen Morgen, der über Sankt Anne kam, wachten in ihr neue Wunder auf. Anfangs hatte sie vor ihnen gebangt, aus Furcht, ihr Glück stände auf tönernen Füßen und über Nacht könnte sich alles in Scherben wandeln. Sie hatte die Stunden gezählt, die nach ihrer Berechnung verfließen mußten, um das abgesandte Schreiben in seine Hände zu legen. Sie verfolgte es über die vlämische Ebene, über das graue, weite Meer. Sie verfolgte es bis zur deutschen Botschaft in London. Jetzt war es in seinem Besitz. Jetzt mußte er handeln, wenn es überhaupt in seiner Absicht lag, sich ihr gegenüber für verpflichtet zu halten. Und sollte er wirklich gesonnen sein, seine Rechte geltend zu machen – der Morgen erschien, der ihr die gefürchtete Antwort ins Haus bringen konnte. Aber sieben lange und bange Tage vergingen – und die Antwort kam nicht. Er hatte sich also gefügt und konnte vergessen; vielleicht fesselte ihn eine anderweitige Neigung. Ach, wenn es so wäre . . .! – und, indem sie ihre unausgesprochenen Gedanken als Tatsache hinnahm, fiel es ihr mit Bergeslasten von der Seele herunter. Mochte er glücklich werden! – Sie wollte ja beten für ihn – beten, immer nur beten . . .! – aber er durfte ihre eigene Liebe nicht stören, das Meer mußte zwischen ihnen bleiben – groß, tief und unendlich. Ein sieghaftes Bewußtsein war in ihr. Noch nie waren ihr die Tage an der vlämischen Küste so strahlend erschienen. Jetzt erst glaubte sie an den Stern ihres Lebens. Sie schmückte sich wieder und wählte Farben mit freudiger Stimmung. Reich wie eine Königin kam sie sich vor in ihrer Liebe; sie befand sich in einer Welt voll jubelnder Helle; die mißfarbigen Töne des Alltags berührten sie kaum noch. Was sie bewegte, bewegte auch ihn. Ein Blick ihrer Augen genügte, ihn wonnetrunken zu machen. Was früher geschehn war, erwähnte er mit keinem Wort. Nur seinem Freunde vom Hövel gegenüber hatte er sich in bangen Stunden ausgesprochen. Der zarte Schmelz ihrer Flügel war nicht verloren gegangen. Sie blieb eine Heilige für ihn. Er kam über ihre Vergangenheit hinweg, wie ein Vogel das Meer überfliegt, um sich auf einem fernen paradiesischen Eiland niederzulassen. Sie lebten wie auf einer glücklichen Insel, und wenn er kam, und sie sich in seine Arme hineinwarf, wenn sie am Strande weilten, das Wasser aufrauschte und ihnen erzählte, daß sie sich hier zwischen den Dünen gefunden hatten, wenn sie dann die stolzen Schiffe sahen, die so still und ruhig wie ihre eigenen Wünsche dahinfuhren – dann fühlten sie sich losgelöst von allem Irdischen, berauscht in sich und überflutet von der Welle einer glücklichen Zukunft. So vergingen Tage um Tage – und die Antwort kam nicht. Immer schöner blühte sie an seiner Seite auf, immer wieder verschob er seine dringliche Reise nach Deutschland, so schwer wurde es ihm, sich von dem Zauber des herrlichen Weibes zu trennen, denn die Spätsommertage waren so köstlich und die dunklen Abende so voll glänzender Sterne . . .! – An einem solchen Abend war es auch, wo er ihr endlich gestand, daß er fort müsse. Dabei hatte er ihre Haare gelöst und sein Antlitz in die goldigen Wellen vergraben. Sie standen auf der nämlichen Düne, und die Feuer von Walcheren lagen gigantisch unter dem sternbesäten Himmel. Gottes Hand hatte ihnen die Liebesfackel entzündet; es war ein Schimmern und Zucken und ein Leuchten voller Reinheit. In glitzernden Fäden wehten ihre Haare gegen das Licht an.

»Also morgen . . .« sagte er zärtlich.

Erst sah sie ihn erschrocken an, dann aber lag sie plötzlich an seiner Brust, die Hände fest um seinen Nacken geschlungen.

»Wenn du gehen mußt, so gehe,« sagte sie schluchzend, »aber bleibe nicht lange.«

»Anna-Maria . . .

»Geliebter . . .

»Liebst du mich, Anna-Maria?«

»Mehr als mein Leben!«

Da küßte er ihre schimmernden Augen.

»Mein Weib, mein Weib!«

»Ewig die deine!«

Weithin klang es über das Meer fort. Die Lichter von Heyst und Blankenberghe taten ihre Perlenschnüre aus; die Flut rauschte stärker und lieh dem Abend ihre ewige Stimme.

Die seligen Menschen . . .! – und dennoch war es für sie der letzte glückliche Abend am Strand und unter diesem Himmel gewesen. Anderen Tages lag alles verödet. Dichte Nebel hüllten das Wasser ein. Ein feiner Regen sprühte über die Landschaft; alles gab sich Grau in Grau – und da war für sie der Abschied gekommen. –

Anna van Dornick, der Prediger und Heinrich vom Hövel gaben ihm das Geleit bis nach Brügge. Als sie dort ankamen, ging bereits die schwarze Beghine durch die eingedunkelten Straßen. Sie kam vom Quai du Rosaire und schwebte an den Hallen vorüber. Sie querte die Spanische und die Flandrische Straße. Sie hatte die Augen wie immer geschlossen. Auf ihrem bleichen Wachsstock stand ein zuckendes Flämmchen. Brügge war tot. Die Laternen brannten, als wenn sie hinter Kreppschleiern ständen. Die gestaute Flut in den Kanälen schien noch unheimlicher denn an sonstigen Tagen; langsam seufzte sie an den hängenden Weiden vorüber. Hinter den Fenstern aber saß das Grauen und sah mit glanzlosen Augen durch die matten Scheiben, und da wurde das Leben zum Schlaf, der Schlaf zum Tod – und Trauerflore wehten über die vereinsamte Stadt hin.

Noch einen letzten Blick warf Hans Behrend auf die verschwommenen Umrisse der Liebfrauenkirche, deren Turmspitze ungewiß in den nächtigen Himmel emporstieg. Sein Denken war dort. Es kam ihm schwer an, von der geweihten Stätte Abschied zu nehmen.

»Die Liebfrauenkirche . . .!« sagte er leise und drückte zärtlich den Arm der Geliebten, die schweigend neben ihm herschritt.

Er beugte sich nieder und küßte ihre Stirn. Sie aber hielt ihm die Lippen hin; da fanden sie sich noch einmal im Leben.

»Komme bald wieder,« sagte sie flehend und von banger Ahnung gepeinigt.

Schweigend gingen sie weiter.

So waren sie bis zum Bahnhof gekommen. Erasmus und Heinrich vom Hövel wandelten bereits unter der großen Halle auf und nieder.

Es mochte auf neun gehn.

Sie stand dicht neben ihm. Eine beklemmende Unruhe war zwischen ihnen. Kurze, bange Minuten, die sich selber zur Last fielen. Sie verfolgte die feurigen Schienenstränge, die sich im Ungewissen verloren. Von dorther mußte er kommen, der ihn forttragen sollte.

Sie sagte etwas, aber der Wind verwehte die einzelnen Worte.

Punkt neun Uhr brauste von Ostende der Berliner Expreß ein.

»Schon so früh!« sagte sie schmerzlich.

Tränen verdunkelten ihre Blicke.

Ein letztes Abschiednehmen. Sie wußte nicht warum, aber alle Zuversicht war aus ihrem schönen Antlitz gewichen.

»Lebe wohl!« hauchte sie tonlos und preßte ihr Taschentuch gegen die Lippen.

Auch Heinrich vom Hövel war ernst und schweigsam wider Willen geworden.

»Aber, Kind!« sagte Erasmus, »du weinst ja, als wenn dir jemand das Herz abstoßen wollte.«

Es sollte heiter gemeint sein, um über die erste Trennung hinwegzuhelfen, und dennoch lag auch ihm ein tiefer Schmerz in der Kehle.

»Fertig . . .

Bei dem harten Zuschlagen der Türe wähnte sie die Pforte ihres Lebens für immer geschlossen.

Da stand sie und sah mit verweinten Augen dem Zug nach, der langsam in die Nacht hinauspolterte. Immer ferner tönte die monotone, dumpfe Musik, immer ferner und ferner. Dann verstummte sie gänzlich. Die freigewordenen, regenfeuchten Schienenstränge blitzten von neuem auf. Die Menschen verloren sich; sie aber konnte den Ausgang nicht finden. Minuten um Minuten vergingen. Insichgekehrt verharrte sie auf derselben Stelle. Das arme Herz wollte zerspringen.

Jetzt fühlte sie ihre Schulter berührt.

»Komm,« sagte ihr Vater.

Da drückte sie ihr Taschentuch fester gegen die Lippen.

Als sie die Halle verließen, traten sie in einen fließenden Nebel. Sie gingen dem Tram zu.

Es fröstelte sie; immer neue Kreppschleier zogen über die tote, verwunschene Stadt hin. –.

Öde, trostlose Tage folgten. Ein stetiger Wind kam von Westen her. Der grapste in die Bäume hinein und wirbelte überständige Blätter zu Boden. Ab und zu wurde hoher Seegang gemeldet. An den Molen von Hoek van Holland war ein stolzer Gaffelschoner in die Tiefe gegangen. So geschah es auch einem Dreimastvollschiff, das in die Scheidemündung hineinwollte. Einundzwanzig Menschen sahen dabei den Tag nicht wieder; der Kapitän war der letzte gewesen. Da kam Trauer nach dem benachbarten Sluis; der Verunglückte war dort geboren und war mit Jan Bottertje und Klaus Buhle in die Schule gegangen. Das brachte große Not ins Land. Auch Wilhelmintje und Bernadintje steckten ängstlich die Köpfe zusammen, denn sie mußten unwillkürlich an die Heyster Bucht denken und an die unheimlichen Geschichten, die ihnen damals vom Seelenmenschen erzählt worden waren. Er selber ließ sich nur wenig blicken. Mehr denn sonst hatte das Feuerschiff seine Mannschaft vonnöten. Es strammte die verrosteten Ketten; immer waren die Mastkörbe hoch; See auf See holte über, und in nächtigen Stunden war sein Licht wie ein gequälter Geist, der keine Ruhe mehr hatte, sich wie ein Hund auf das graue, wüste Wasser duckte, um dann wieder siegreich und wie eine blutigrote Brandrakete gen Himmel zu fliegen. Die Feuer von Knocke und Walcheren taten dasselbe. Tag und Nacht das ewige Schaukeln, das Poltern und Stampfen. Wie verfolgte Schemen kamen und verschwanden einzelne Schiffe. Nur die Sturmsegel hoch . . .! – Bugspriet und Vordersteven bäumten auf und sanken dann wieder. So ging das seit Tagen.

In den Wanten war ein böses Gesause.

Der Kapitän mit dem Punschgesicht kam aus der Kajüte gekrochen. Er guckte über das weite, wütige Meer fort.

»Goddam!« sagte er knurrig, »erst September und schon Wasser auf Großdeck.«

»Je,« meinte Klaas Buhle. »Hoek van Holland hat's schon gehabt, desgleichen dito die Vlissinger. Jetzt ist's in der Heyster Bucht fällig geworden.«

»Was ist fällig geworden?«

»'ne Seele.«

»Dann laß sie endlich vorwärts machen,« sagte der kurzbeinige Mensch, »daß wir Ruhe bekommen.«

Damit zog er sich die Mütze mit dem Sturmriemen tief über die Ohren.

»Man soll keine Seele berufen,« trumpfte Klaas Buhle auf, »die kommt von alleine.«

»All right!« sagte der Kapitän, ließ eine schwere See über sich fortgehn und zog wieder nach achtern.

Klaas Buhle streckte die Faust hinter ihm her.

»Der Mensch will Seelen berufen,« meinte er heftig, »und hat keine Andacht im Herzen! Wenn's man seine nicht ist, die bald in der Heyster Bucht 'rum schwimmt und in die Kajüte 'rein will.«

Er lachte grimmig auf.

»Ne, keine Andacht im Herzen; aber Rum und Arrak – die hat er und ein großes Maulwerk dazu. Aber wenn sie 'rein will, wenn seine Seele 'rein will – laß sie man kommen . . .«

Er mußte sich an der Reling festhalten, so trotzte das Schiff auf.

»Hö! – und dann ist der Spiegel zum Deuwel! – dann ist der piekfeine Spiegel zum Deuwel . . .

Das Gesause in den Wanten verschlang seine Worte. Er hielt sich breitbeinig, um nicht auf Deck geschlagen zu werden. Vor ihm lief eine riesige Welle. Die reichte von Heyst bis zur Westerschelde. Da holte er ein Glas aus dem Ölrock und sah gegen Land an. Er sah alles wüst und leer und sah, wie die See gegen die Küste stürmte, sich verzweifelt festhielt und ihren grauweißen Geifer weit durch die Lüfte warf. Viele Herzschläge hindurch klammerte sie sich an die sandigen Rippen und stierte landeinwärts.

»Jetzt weiß ich's!« schrie der Seelenmensch, »die kuckt nach Sankt Anne! – Gotts den Donner, die kuckt nach Sankt Anne . . .

»Wer?!« rief der Knasterbart von Backbordseite her.

»Die See!«

»Wieso?!«

»Kann's nicht abwarten,« sagte Klaas Buhle und steckte das Glas wieder an Ort.

»Da muß einer wohl schwimmen?«

»Muß er!« ächzte der Seelenmensch und geisterte mit seinen gespenstischen Augen über die aufgewühlte Tiefe. »Wenn nicht heute – dann kommt's noch.«

»All right!« sagte der Knasterbart und torkelte näher. Es war ihm unheimlich auf Backbordseite geworden. »Hast du wen auf dem Kieker?«

»Jawoll,« sagte Klaas Buhle.

»Jemand vom Schiff?«

»Ne! – hab's zuerst gemeint, aber das stimmt nicht.«

Er deutete auf die mittelste Dünenreihe.

»Einer von dorther,« sagte er ruhig.

»Na, denn man zu,« damit gab sich der Knasterbart zufrieden und ging wieder auf Posten. »Wenn ich's nicht bin – mir kann's egal sein.«

»Mir auch,« sagte Klaas Buhle.

Seine Blicke waren stumpf und gläsern. Er dachte anders, wie er gesprochen hatte. Ja – er dachte ganz anders.

Fast gleichzeitig sank das gierige, wilde Wasser von den Dünen zurück und schluckte eine andere Welle auf, die in derselben Breite den Strand anrollte. Gischtfetzen wurden über die Tiefen geworfen.

Das gepeinigte Meer brüllte auf.

Bis in Sankt Anne hinein mußte man die Gewalt des Wetters und das Stöhnen und Ächzen der Schaumköpfe vernehmen.

Und so war es auch.

Sie hörten es dumpf und verworren in Sankt Anne ter Muiden. Sie hörten es, als käme jemand und schlüge mit harter Faust gegen die Fensterläden, um aufzutrumpfen.

Auch Erasmus van Dornick hörte es. Die letzten Tage war er nicht ausgegangen. Es war zu stürmisch und wetterwendisch gewesen. Dafür aber saß er stundenlang bei der Arbeit, eifrig damit beschäftigt, die Korrekturen in Schick und Richte zu bringen. Von befreundeter Seite gingen ihm schätzenswerte Anregungen zu, die ihn befähigten, auch den subtilsten Details seiner langjährigen Forschung Rechnung zu tragen. Gute Dienste leisteten ihm besonders die Ermittelungen Heinrich vom Hövels. Was dieser in der Bibliothek von Sankt Omer aufgetan hatte, gab zu denken und lenkte die Beurteilung über den großen Meister in ganz andere Bahnen. Die vorgelegten Auszüge und Notizen wurden von Erasmus erwogen und scharfsinnig begründet; was überholt und antiquiert erschien, zum alten Gerümpel geworfen. Die Druckbogen bedeckten sich mit enggeschriebenen Zusätzen. Er war im reinen mit allem. Sein Schaffen zeitigte eine gesegnete Fülle; die Nachlese war mehr wie ergiebig gewesen – und so, von innerer Befriedigung getragen, wuchs sein Lebenswerk über Hans Memling zu einem stattlichen Band aus. Er gönnte sich keine Ruhe. Die Arbeit erquickte ihn, aber bei seinem Sinnen und Denken vergaß er fast das Glück und die Bängnis seiner eigenen Tochter. Die graue Sorge saß bei ihr. Mit hämischer Freude raunte sie ihr Dinge ins Ohr, die sie immer haltloser machten. –

Seit dem traurigen Abschied war mehr denn eine Woche vergangen. Länger als beabsichtigt hielten Behrend die geschäftlichen Pflichten fern von Sankt Anne, aber er sprach in seinen letzten Briefen davon, daß er bald zurückkehren würde. Seine Zeilen waren voll inniger und jubelnder Freude, und dennoch . . . sie hatte keinen Anteil daran, vermochte es nicht, sich über ihre Ahnungen hinwegzusetzen; sie ging grübelnd umher und wußte mit ihren schweren Gedanken nichts anzufangen. Das kranke, bleierne Grau der Spätsommertage erdrückte sie.

Besonders heute.

Fahrig ging sie nach draußen. Ein steifer Wind hastete die Dorfstraße entlang.

Bernadintje stand an der Haustür und wartete auf Moritz Dütz-Josum.

Es war noch nicht Abend geworden.

»Von da kann man's sehn,« sagte Bernadintje und zeigte auf den schwerfälligen Kirchturm, der in seiner ganzen gedrungenen Wucht aus den schwankenden Baumkronen aufstieg.

»Was kann man sehen?« fragte Anna van Dornick.

»Das Meer; es will über die Dünen.«

»Aber, Bernadintje . . .

»Das wissen Sie nicht, Fräulein van Dornick? – Verschrecklich sieht es herüber und immer nach Sankt Anne ter Muiden . . . und der Seelenmensch sagt . . .«

Wiederum zog ein fernes, dumpfes Brausen landeinwärts.

Anna van Dornick ging weiter. Sie schlug den Weg ein, der zum Turm führte. Sie kannte den Eingang und war schon öfters auf der Plattform gewesen. Was wollte sie oben? Sie wußte es selbst nicht. Vielleicht fand sie Ruhe zwischen Himmel und Erde! – Als sie das Portal erreichte, trieb ihr ein Schauer abgerissener Blätter entgegen. Sie orientierte sich: erst über die Wendeltreppe, dann über die hölzernen Stiegen, die kein Geländer mehr hatten. Ihr Herz pochte unter dem hastigen Aufstieg. Endlich . . .! – Nur noch einige Stufen . . .! – In den Schalllöchern rumorte der Turmgeist und machte die Glocken leise erklingen. Die Töne folgten ihr mit summender Stimme; sie ließen erst von ihr ab, als sie die niedrige Ausgangstür erreichte.

Jetzt stand sie oben – frei zwischen Himmel und Erde. Der Sturmwind empfing sie mit seinen luftigen Schwingen. Herrisch wurde ihr Kleid über die Plattform getrieben. Kühl wehte es um ihre heißen Schläfen.

Ha! – wie das wohl tat.

Seitlich lag Brügge, tief in der unendlichen Ebene. Von dort aus war er von ihr gegangen.

Und vor ihr . . .

Ein blänkendes, ab und zu wechselndes Licht flog über die Gegend.

Deutlich konnte sie die vorgelagerten Dünen erkennen und mitten dazwischen eine grauweiße Kuppe . . . Sie kannte sie wieder. Dort hatte sie in ihrer glücklichsten Stunde gestanden, von dort aus hatte er sie talwärts getragen. Sie wies jede Täuschung von sich. Sie vermochte die Düne zu greifen.

Sehnsüchtig beugte sie sich vor und stierte ins Weite.

Es war genau um die Zeit, als der Seelenmensch auf Deck stand, und die große Welle gegen die starren Sandrippen anschlug. Just um dieselbe Stunde; keine Minute fehlte daran . . . Mit grauen, glasigen Augen sah die See über die Kuppe, als suchte sie etwas, als trüge sie Verlangen nach einem menschlichen Leben.

Ja – es war genau um dieselbe Stunde, da Klaas Buhle auf Deck war.

Und Anna van Dornick sah die gierige Welle.

Sie glaubte eine Stimme zu hören – die Stimme des Seelenmenschen.

»Hö!« schrie die entsetzliche Stimme. »Die kuckt nach Sankt Anne! – Gotts den Donner, die kuckt nach Sankt Anne . . .

Verstört wankte Anna van Dornick die Stiegen hinunter. Als sie unten ankam, war Bernadintje von der Haustür verschwunden.

Da straffte sie den Nacken und vergaß die häßliche Stimme, erwartete sie doch mit der Abendpost Nachricht aus Deutschland – von ihm.

 


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