Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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IX

Wie sollte das enden . . .!

Still und weich, mit ruhigen Atemzügen ging ein großes Sehnen von Haus zu Haus. Es ging durch die einsamen Straßen, durch die nahen Felder, es verlangte nach der Seligkeit des Vergessens; es ging durch die Dünen und fügte mit emsiger Hand Baustein auf Baustein. Es gefiel sich in den herrlichsten Plänen, aber es achtete nicht darauf, ob der Baugrund auch der richtige wäre. Es sah nur in den Himmel hinein und nicht auf das Geriesel zu seinen Füßen, das erst Korn um Korn entsandte, um dann immer stärker zu werden. Es sagte zu ihm: »Lieben heißt vergessen,« und zu Anna van Dornick: »Vergessen heißt Liebe finden,« und da sahen sie nicht den unsicheren Grund, der unter ihren Füßen dahinglitt; hatten nicht acht darauf, daß sie sich auf Triebsand befanden. Ja, es war ein stilles Sehnen und Sinnen, aber wie die Tage kamen und gingen, wurde aus diesem stillen Sehnen ein hungriges Suchen und ein endliches Finden. Ein stummes Geheimnis, ein noch unausgesprochenes Glück hatte sich an sie geschlichen und ihnen die Schale des Taumels geboten. Und sie tranken sie gierig und mit durstigen Lippen. Sie wandelten nebeneinander her, ohne davon zu sprechen, was ihr Inneres bewegte; sie wurden von Schauern durchrüttelt, ohne es sich einzugestehen; sie sprachen von gleichgültigen Dingen, und dennoch hatte ihnen ein gütiges Geschick Offenbarungen verliehen, wie sie die Erde empfängt, wenn die ersten Frühlingsnächte mit weichen Flügelschlägen über sie fortrauschen.

Das war der Anfang . . .allein sie scheuten sich lange, das Siegel zu lösen, gerade wie der Frühling zaudert, mit ängstlichen Fingern die ersten Knospen auseinander zu legen. Sie waren gläubig bewegt, und dennoch fürchteten sie sich. Sie gingen durch helles Sonnenlicht und wähnten im Mondschein zu wandeln. Sie waren täglich zusammen und hatten den Mut nicht, sich selber zu finden. Da lag noch immer etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen; etwas Dumpfes, Beengendes hielt sie zurück, von dem sie sich keine Rechenschaft zu geben vermochten, etwas Ungewöhnliches mit verschleierten Augen . . . und diese Augen folgten ihnen und blickten in ihre Träume hinein – immer mit der nämlichen Starrheit und der nämlichen Ruhe. Aber da eines Tages verloren sie das Gebieterische und Zwingende und alles, was an geheimer Macht in ihnen lag, und da fühlten sich auch die beiden Menschenherzen freier und glaubten, die beengende Fessel verloren zu haben.

War das die Höhe des Glückes?

Ja, es war die Höhe des Glückes – aber bald darauf rannen die unheimlichen Sandkörner immer stärker. Unter ihren Füßen lief ein stetes Geschiebe, das Kreise und Trichter zog, ein Vorwärtsdrängen, ein ewiges Nachgeben . . . Sie gingen auf Triebsand. –

Moritz und Bernadintje hingegen hatten tiefgründigen, kompakten Boden unter den Schuhen, der schon ein ordentliches Zukunftsschlößchen vertrug, das sich sehn lassen konnte. Sie bauten es denn auch als niedliches Knusperhäuschen aus, stellten die Wege von Nimweger Moppen her, machten den Estrich von Amsterdamer Spekulatiusmännchen, setzten klare Kandiszuckerscheiben in die Fensterrahmen hinein, bedeckten das Dach mit leckeren Lebkuchenherzen und besteckten es zudem noch mit dicken Tulpen, Sommerlevkojen und dunkelroten Rosen, um dem Ganzen auch einen duftigen Anstrich zu geben. Rechts und links vom Eingang placierten sie je ein schöngeschliffenes Likörglas, füllten die Gläser mit echtem Genever und ließen sie allabendlich als Liebesflambeaus in alle Ferne hinausleuchten. Das Knusperhäuschen verschönten sie noch durch einen weitverzweigten und verschnörkelten Liebesgarten mit versteckten Lauben und Ecken, spazierten darin mit ihren Zukunftsplänen umher und sogen den köstlichen Hauch ein, der ihnen von allen Rabatten entgegenwehte. Das mußte schließlich auffallen – und so kam es denn, daß sie ihre große Heimlichkeit nicht mehr voll halten konnten. Als dann noch die Menschen die Köpfe zusammensteckten, Lisbeth das Geschehnis von ihrem Hühnerstall herunterkrähte, und die Spatzen bereits die feinsten Details in alle Fenster hineinschilpten, da gab sich Moritz einen gehörigen Ruck und sagte: »Bernadintje, so geht das nicht weiter. Wir müssen uns offenkundig benehmen, wenn wir nicht wollen, daß wir uns in die Nesseln der Lästerzungen hineinposamentieren.« Und Bernadintje nickte dazu und sagte: »Wie du meinst, lieber Moritz,« und da bügelte Moritz seinen lustigen Gehrock auf und steckte sich eine schöne Rose ins Knopfloch. Sie aber zog ihr Damastenes an, schmückte sich mit ihrer goldenen Blechhaube und tat eine extrafeine Spitzenholle darüber – und so ausstaffiert gingen die beiden feierlich und mit dem ganzen Anstand eines regelrechten Brautpaares durch die sommerlichen Straßen von Sankt Anne ter Muiden.

Als Erasmus van Dornick sie sah, meinte er, indem sich ein feiner Zug um seine Mundwinkel legte: »Gott mit euch, ihr braven Menschen!« Als Heinrich vom Hövel sie sah, lachte er herzlich auf: »Na, Moritz, das hättest du dir nicht träumen lassen!« – und dabei schlug er ihm auf die Schulter, daß es einen ordentlichen Knall gab, aber Anna van Dornick schenkte ihr ein Bukett von selbstgepflückten Feldblumen, und da drückte Bernadintje sie an ihr überreiches Herz, wuschelte über ihre goldenen Haare und flüsterte unter heißen Tränen: »Freule, nu müssen sie aber auch Ihre traurigen Augen verlieren . . .« Ja – so ging das von Mund zu Mund, und es war wohl kein Mensch in Sankt Anne, der nicht erstaunt vor dem soliden Knusperhäuschen stand, sich in Gedanken die Nimweger Moppen und die Amsterdamer Spekulatiusmännchen zu Gemüte führte, ein bißchen an den Kandiszuckerscheiben herumschleckte und die beiden Schnapsgläschen betrachtete, die allabendlich so still und sinnig mit ihrem Geneverlicht in die einsamen Wunder der träumenden Gotteswelt hinausleuchteten. Nur der Ferkel-Jonkheer schien anderer Ansicht zu sein. Er war verschnupft und konnte sich mit der vorliegenden Tatsache nicht abfinden, denn wenn Bernadintje auch rechtlich geschieden war, und Basilius sich anderweitig amüsierte, so war sie doch einmal die Frau seines Bruders gewesen, und wenn er auch mit Moritz Dütz-Josum, der aparten Modellsteherei wegen, regelrecht Bruderschaft getrunken hatte, so ging es ihm doch gegen den Strich, den ›Onderdaan van de Koning van Preußen‹ in dem khakifarbigen Häuschen zu wissen, wo sein Windhund von Bruder mal gelebt und balbiert, geliebt und Ferkel abgestochen hatte. Einsichtige Leute meinten freilich, Jan Bottertje wäre ein Dämel, er würde sich mit der Zeit wohl begeben, denn die Zeit rüttle auch die widerborstigsten Köpfe zusammen. Sie sollten recht behalten. Der Ferkel-Jonkheer lenkte schließlich ein und wurde mit den kommenden Tagen der beste Kumpan und der größte Verehrer von Moritz.

So schwamm denn der früher so armselige Moritz Dütz-Josum in einem wahren Meer von eitel Lust und Glückseligkeit. Er vergaß die klebrigen Rattenschwänze, das monotone Gewuchte der Webelade, das ekelhafte Gequiekse der Nager mit den blutroten Augen, ja, er vergaß sogar den leeren Brotschrank, den er so oft in seiner Jugend hungrig angestiert hatte, kurz, er fühlte sich glücklich, und in diesem Rausch spielte er seine höchsten Kunsttrümpfe aus. Jetzt war das tagtäglich ein fröhliches Schaffen! Mit Freuden erkannte er, daß die Bambocciade, die der Vollendung entgegenreifte, ihn taumelig und wonnetrunken machte. Die kirmestolle Zeit eines Frans Hals jauchzte durch seine Seele, drängte sich von der Palette in die Pinsel hinein und von hier auf die Leinwand, erfüllte alles um ihn her mit heiterem Gekicher und Karussellgedudel, mit Geneverduft und übermütigem Ferkelgequiekse. Heinrich vom Hövel hatte schon den Nagel auf den Kopf getroffen. Früher – Herrgott, noch mal! – war das ein erbärmliches Spintisieren gewesen! Da hatte so ein durchsichtiges Wesen mit hektischen Wangen hinter ihm gestanden, blutleer, ein kraftloser Schemen, mit einem Kranz im Haar, der nicht Wald- und Wiesenduft ausströmte, vielmehr an verstaubte künstliche Blumen erinnerte, die sich auf langen Drahtstengeln wiegten. Jetzt war das anders geworden. Mit herzerquickendem Lachen beugte sich ein dralles Weibsbild über ihn, das Holzschuhe und eine vlämische Klöppelhaube trug, weizenfarbige Flechten hatte, sich kräftig in den Hüften wiegte und ein Mündchen besaß, dessen Kuß bis in die Zehenspitzen hineinkribbelte. Holzschuhgeklapper und ein niederländisches Frauenzimmer . . .! – das animierte und ließ ihn die Welt mit Ausnahme Bernadintjes vergessen. »Moritz, man weiter,« sagte die vlämische Kunst und kitzelte ihn mit Akelei und Tausendschönchen im Nacken, und da arbeitete er vom frischen Morgen bis in den müden Abend hinein und kannte kein Aufhören. Zitronengelbe Falter gaukelten an dem indigoblauen Häuschen vorüber, tänzelten vor dem geöffneten Fenster, berührten sich liebestrunken mit den tausend und abertausend schimmernden Fleckchen ihrer zierlichen Flügel, stäubten eine Prise von Goldstaub ins Zimmer hinein und lockten ins Freie – aber Moritz hatte der verliebten Schmetterlinge nicht acht, dachte nur an Bernadintje und malte. Und wäre feurige Lohe vom Himmel gezüngelt, wäre Sankt Anne einer Katastrophe entgegengegangen – Moritz hätte nur an Bernadintje gedacht und weiter gemalt, denn das dralle, rundliche Weibsbild hinter ihm ließ nicht von ihm ab, munterte ihn auf, zeigte ihm alle Höhen und Tiefen des menschlichen Wissens, bis es ihn schließlich in den richtigen Kunsttempel führte, wo nur wirkliche Könner auf einer Kegelbahn saßen und rauchten. Jetzt war Moritz mitten unter ihnen. Ohne lange Fisematenten zu machen, nahm er die erste beste Kugel, spuckte in die Hände und schrie: »Gut Holz!« – Dann schob er und warf ›alle Neune‹.

Da trat ein ernster Mann auf ihn zu, der ein schwarzes Wams trug und einen feingezwirnten Spitzenkragen umgelegt hatte.

»Gut gemacht, Moritz,« sagte dieser, »ich heiße Frans Hals.«

Dann kam ein zweiter, der wie ein Zahnbrecher aussah. Quer über die Stirne und von hier bis zum linken Ohrläppchen lief ihm eine kaum vernarbte Schmarre, die noch blutrünstig flammte. Möglich, daß er sie bei einer Keilerei davongetragen hatte.

»Ich bin meines Zeichens Schilderer in der Sankt Lukasgilde,« sagte er heiser. »Mir gleich, ob gemalt oder geprügelt wird, aber ich gratuliere dir, Moritz. Mein Name ist Adrian Brouwer. Punktum, streu Sand drauf.«

Hierauf setzte er sich und spuckte über den Tisch fort.

Ein dritter kam. Der balancierte einen Falbelhut auf dem kurzverschnittenen Haar; in der linken Mundecke steckte ihm eine Gaudaer Tonpfeife. Er schwankte mit fidelen Äugelchen, eine mechelsche Kanne im Arm, auf Moritz los. Nachdem er ihm zugetrunken und den Bierkrug wieder beiseite gestellt hatte, sagte er lustig: »Mein Name ist Jan Steen; ich bin Maler und Zapfwirt in Leiden und bilde mir auf meine Hochzeit zu Kana und das Bohnenkönigsfest etwas ein, aber was du gemacht hast, Moritz . . . Moritz, deine Sankt Anner Kirmes soll leben!«

»Desgleichen die Bottertjes!« lachte Adrian Brouwer.

»Amalie, Sophie und Doortje nicht zu vergessen,« sagte Frans Hals.

»Moritz, gib mir 'nen Kuß!« rief Jan Steen, und er küßte ihn herzlich.

Hierauf schrien sie alle: »Gut Holz und Hurra!« – und Moritz nickte »Merci« und abermals »Merci«, schüttelte ihnen die Hände und schwebte wie Elias in den siebenten Himmel hinein. Es ging etwas wie eine große Verheißung, wie ein befreiendes, unendliches Licht über ihn fort. Der vermickerte Hohlspiegelmann mit dem großen Können unter der Weste glaubte die lieben Engel im Himmel pfeifen zu hören, und als eines Tages Heinrich vom Hövel ins Zimmer trat, das fertige Bild vor Augen bekam, erst stutzte und, wie angewurzelt, von Bodenständigkeit, Gemüt, Eigenart und Sehspezialität redete, etwas von Düsseldorfer und Berliner Ausstellung hinwarf, das Bild immer wieder betrachtete und sich nicht losreißen konnte, dann aber die Arme breitete und mit seiner mächtigen Stimme »Gut Holz!« rief, daß es aus dem indigoblauen Tempel bis weit in die wogenden Ährenfelder hinausklang – da glaubte Moritz selber, daß er mit den alten Niederländern auf der Kegelbahn gewesen sei, daß er forsch auf die Kugel gespuckt und ›alle Neune‹ geschoben habe.

Und so war es.

Moritz Dütz-Josum hatte wirklich ›alle Neune‹ geschoben.

Große Tränen liefen über seine eingefallenen Wangen. Mit seinen Spinnefingern wischte er sie fort. Hierauf tastete er nach der Hand seines Freundes, drückte sie innig und sagte: »Ich danke dir, Heinrich.«

Und da standen die beiden, wie sie damals gestanden hatten, als Jan Bottertje auszog, um die Bettstelle mit seiner Landkutsch zu holen. Auch heute umgab sie eine heilige Stille. Hochaufgerichtet sahen sie aus dem niedrigen Fenster in die weite, flache Landschaft hinaus, wo sich alles so feierlich und sonntägig anließ, daß kaum die Bäume es wagten, ihre silbergrauen Blätter auf die Seite zu legen. Sie wollten nicht stören und durften nicht stören. Aber plötzlich . . . Gingen da nicht ferne, weltverlorene Töne über die Erde?!

Die beiden horchten auf.

Waren es die Glocken von Brügge, oder waren es Glockentöne, die nur die Seelen verstanden?

Es schienen Töne zu sein, die nur die Seelen verstanden. –

Zwei Wochen waren ins Land gegangen, vierzehn lange, sonnige Sommertage, während welcher Erasmus van Dornick sein Werk über Hans Memling druckfertig gemacht und sich mit einem hervorragenden deutschen Verleger in Verbindung gesetzt hatte. Nur noch geringfügige Details, einzelne Daten waren nachzutragen, die er in der Brügger Bibliothek zu finden hoffte. So entschloß man sich im Kreise der Freunde, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, einen Ausflug nach Blankenberghe zu machen und noch selbigen Tages nach dem toten Brügge zu fahren, um das Erforderliche zu erledigen und sich von dem Zauber der geheimnisvollen Stadt umwehen zu lassen.

In Blankenberghe befanden sie sich in einer anderen Welt. Ziellos schritten sie an dem belebten Strande auf und nieder, sahen auf das stille, ruhige Meer, das im Morgenlicht strahlte, als wäre der helle Glanz von abertausend elektrischen Lampen auf die spiegelnde Fläche gefallen. Wie träumende Gedanken zogen die Schiffe am tiefen Horizont vorüber. In den Cafés herrschte ein reges Leben. Vom Seesteg her tönten die Weisen einer ungarischen Zigeunerkapelle, über der Promenade lagerte eine Duftwolke von Oppopanax, Heliotrop und Parmaveilchen. Eine welt- und farbenfreudige Eleganz schob sich bunt durcheinander, ließ das Wasser kostbarer Halsgeschmeide aufleuchten und berauschte sich an dem aufdringlichen Patschuligeruch des Demimondänen. In der Nähe des Kursaals nahm das Bild einen berückenden Glanz an. Alles weltmännisch und in Frühlingsfarbe getaucht. Die Damen durchweg in großer Toilette, die Herren im Frack, die unvermeidliche weiße Nelke im Knopfloch. Plaudernd bewegten sich die Menschen in ihrem bunten Sprachengemisch; englische, deutsche und französische Stimmen waren dazwischen – und dabei lag das Meer so unermeßlich und feierlich da, achtete nicht auf das parfümierte Treiben am Strande und redete still und besonnen seine ewige Sprache, die in ihrer sinnberückenden Größe und Schönheit alles hinter sich läßt, was sich wichtig dünkt zwischen Himmel und Erde.

Mechanisch ging Anna van Dornick neben Hans Behrend. Die farbigen Bilder um sie her lösten sich auf und flatterten über die leuchtende See fort. Es lag wie ein Schleier vor ihren Augen. Kaum vermochte sie die Unterhaltung aufrecht zu halten, und dennoch waren ihre Gedanken bei dem, der neben ihr ging, der dieselbe Luft atmete wie sie, dem sie zum erstenmal begegnet war in der verschwiegenen Kirche, mit dem sie auf der einsamen Düne gestanden hatte, als der Abend vom hohen Meere heraufkam und ihre Seelen sich bei den Händen nahmen und küßten. In männlicher Schönheit, das markante Gesicht mit dem kurzverschnittenen Spitzbart von der Sommersonne gebräunt, geleitete er sie. Sie fühlte das Selbstherrliche, das Bedeutende in ihm, das Zwingende, das jedem großen Manne innewohnt, selbst dann, wenn der Wurm des Leides sein Inneres verzehrt und ihm gebietet, den Nacken tiefer zu beugen. Sie dachte nicht mehr an den andern. Er war so fern, so fern. Sein Bild schrumpfte zusammen – das Erinnern an ihn und die sündige Stunde von damals. Sie hatte nur mit dem Manne zu schaffen, der neben ihr herschritt.

Jetzt hörte sie seinen Namen tuscheln.

Als sie die Blicke hob, sah sie, daß die Menschen auf ihn aufmerksam wurden. Einer raunte es dem andern zu. Ein sieghafter Frauenstolz beherrschte sie. Also auch hier kannten sie ihn. Sie wähnte das Rauschen seines gefeierten Namens zu hören, der die Flügel spannte und sie mit mächtigen Schwingen umkreiste.

Eine Glutwelle ging über sie hin. Selbstquälerisch horchte sie auf dieses Klingen und Rauschen. Sie hörte es noch, als sie sich den Dünen näherten und die Menschenmenge verschwand. Nur noch weich und gedämpft kamen die Klänge der Zigeunerkapelle herüber. Möwenschwärme gaukelten über den Wassern. Mit ihren Flügelspitzen berührten sie die unendliche Fläche.

Erasmus und Heinrich vom Hövel waren weit zurückgeblieben.

Die Promenade verlor sich.

Sie waren allein.

Die alte Sehnsucht kam wieder und gebot ihm, die Stunde auszunutzen. Das entscheidende Wort mußte von den Lippen herunter. Unwillkürlich hielt er den Fuß an. Eine hohe, blonde Göttin, die dem Meere entstiegen, stand sie neben ihm. Sie wußten, sie hatten das bestimmte Gefühl, daß sie zueinandergehörten, daß sie gerade in dieser Stunde zueinandergehörten.

Jetzt wollte er sprechen. Als er aber ihre kalten Hände berührte, als er sie ansah, begegnete er ihren stummen, traurigen Blicken und der großen Not, die in ihnen lag – und er sprach nicht.

Ein heiserer Schrei war in diesem Augenblick in hoher Luft, und eine lichtweiße Möwe ruderte seewärts. –

Bald darauf fuhren sie von Blankenberghe nach Brügge. Gegen fünf Uhr kamen sie dort an. Bei den Hallen trennten sie sich. Der Prediger und Heinrich vom Hövel suchten die Bibliothek auf, während Anna van Dornick vorgab, in der Heiligen Geist-Straße vorsprechen zu müssen. Ums Abendläuten wollten sie in der Liebfrauenkirche zusammentreffen, um von hier aus die Heimfahrt anzutreten. So schied man.

Hans Behrend jedoch hatte nichts zu besorgen und nichts zu beschaffen. Ruhelos irrte er durch die verschwiegenen Gassen und Winkel. Einsamkeit wehte ihn an. Er hatte kein Ziel, doch eine innere Gewalt zog ihn weiter und weiter: zum Hof der Beghinen, wo die alten Bäume von vergessenen Zeiten rauschten und die verträumte Stätte ihn anmutete, als wäre er in einer Kirche, dann zur Kapelle des Heiligen Blutes, zum Palast des ›Freien von Brügge‹, zum Minnewater, wo seufzende Weiden ihr langes Haar strählten und mit grünen Fingerspitzen das weiße Gefieder einsamer Schwäne berührten, aber so scheu und zaghaft, als wären sie mit schwimmenden Geistern in nähere Verbindung gekommen. In tiefem Sinnen gurgelte das schwarze Wasser vorüber.

Auf der Flandrischen Straße begegnete ihm Klaas Buhle, der Seelenmensch. Er kam aus einem Kramladen. Seine mattblauen Augen standen in ernster Verzückung. Um den Hals trug er eine sonderbare Kette. Sie bestand aus fünfzig Talgkerzen, deren Dochte mit einer Hanfschnur verknüpft waren. Mit leisem Geräusch klapperten sie gegeneinander. Er nickte gnädig und würdevoll. Die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, verschwand er bald darauf in der zunächst gelegenen Straße. Nur der Teergeruch, der langsam hinter ihm herzog, war übrig geblieben.

War das wirklich Klaas Buhle?

Und was sollten die Lichter bedeuten?

Wem gehörten sie?

Waren es traurige oder fröhliche Lichter?

Hatte er überhaupt richtig gesehen?

Es stimmte schon alles. Aus diesem Hause mit der vergoldeten Messingkugel über der Türe, aus diesem Kram- und Kerzenzieherladen war der Seelenmensch wirklich und wahrhaft auf die Straße getreten, hatte noch gnädig und herablassend gegrüßt, um dann mit seinem latschigen Gang und seinen Kanasterwölkchen um die erste Ecke zu biegen.

»Komische Menschen!« sagte Hans Behrend und ging weiter.

Der Nachmittag zwinkerte bereits, als er die Liebfrauenkirche betrat, und die langen Schatten der hohen Kreuzgewölbe über ihn fortgingen. Er befand sich allein in der Kirche; nur der salbungsvolle Küster mit dem Weihrauch- und Buchsbaumgeruch machte sich an einem der kleinen Seitenaltäre zu schaffen, kam ihm aber bei den ersten Schritten geräuschlos und auf weichen Filzpantoffeln entgegen. Der engbrüstige Mann mit dem glattrasierten Komödiantengesicht kannte ihn wieder. Ohne nach seinen Wünschen zu fragen, machte er dieselbe Geste wie früher, setzte sich stumm in Bewegung, glitt gespenstisch über den Estrich, indem er Richtung auf die Seitenkapelle nahm, wo die Herzogin von Burgund ihren ewigen Schlaf hielt.

Mit großer Umständlichkeit schloß er die Tür auf.

»Wenn der Herr Erklärungen wünscht . . .«

Der Mann fragte so ruhig, als wenn er mit einem Sargdeckel spräche. Dabei hatte er die sanften Blicke ergebungsvoll niedergeschlagen.

»Ich möchte allein sein.«

»Das dachte ich mir,« sagte der Küster. Hierauf nahm er wieder seine Beschäftigung auf, nachdem ihm Hans Behrend ein Geldstück in die halbgeöffnete Hand gedrückt hatte.

Ein leises Hüsteln zeigte den Weg an, den er einschlug. Er ging zum Altar der ›Sieben Schmerzen Mariä‹, den er für den morgigen Tag ausschmücken wollte. Er störte nicht mehr; nur ein Teil des Duftes nach Weihrauch und Buchsbaum, der ihm anhaftete, war in die matterhellte Seitenkapelle gedrungen . . .

Da nahte sie wieder: die verkörperte Sehnsucht, das unsagbare Leid, das herrliche Wesen, das in seine Träume eindrang und ihm die Tage zur Qual und zur Freude machte. Unter der ehernen Hülle des vor ihm liegenden Weibes war das Leben nicht tot; es schlief nur. Unauffällig drang es in die Fingerspitzen der gefalteten Hände. Er wähnte die halbgeöffneten Lippen sprechen und das Herz unter dem schwergewirkten Kleide klopfen zu hören. Was er geliebt hatte und noch liebte, Vergangenes und Gegenwärtiges, lag in diesen friedlichen Zügen verkörpert. Er brauchte nur die Arme zu strecken, um das tote Leben an sich zu reißen und von starren Lippen den Rausch lebendiger Liebe zu trinken. Eine Goldlinie, die sich stetig erweiterte, fiel über ihr Antlitz. Sie gab ihm den Ausdruck überirdischer Freude und stiller Verklärung.

Hans Behrend hatte die gefalteten Hände in die seinen genommen. Er spürte ihren leisen Pulsschlag; er hatte die klare Empfindung davon, daß ihre zierlich geformte Brust sich auf und nieder bewegte. Die eherne Hülle, die darüber lag, schien zu einem fast durchsichtigen Linnengewebe zu werden, das sich bis zu den schmalen Füßen erstreckte. Er sah den wunderseligen Reiz des Körpers und die schöne Seele, die in diesem Körper wohnte.

Er atmete tief und schwer auf.

Die Kirchenluft strich ihm mit kühler Hand über die Stirne. Vom hohen Chor kam der dumpfe Pendelschlag der großen Uhr in regelmäßigen Intervallen herüber.

Im langsamen Sichverlieren des Geistes nahm das Bildnis vor ihm eine zwingende Macht an. Die weiche Linie des Körpers streckte sich unter dem fließenden Webwerk. Wie das Licht eines grünlichen Seidenfadens flimmerte es zwischen ihren halbgeöffneten Lidern. Lebte das Bildnis . . .?

Er konnte sich nicht mehr losreißen, und, so in Betrachtung versunken, dachte er an die Auferstehung der Toten. Er dachte an Ostern und die ersten Himmelsschlüssel, die hoffnungsfreudig die erwachende Erde begrüßen.

Da hatte er plötzlich die dunkle Empfindung, als wenn jemand hinter ihm stände. Er war sich klar bewußt, daß nichts ihn berührte, und dennoch berührte ihn etwas.

Da wandte er sich.

Sie stand vor ihm, als wäre sie dem Grabmal entstiegen.

Kein Laut drang über seine Lippen, denn jedes gesprochene Wort hätte in diesem Augenblick den seligen Traum verflüchtet – und er glaubte zu träumen.

Auch sie sprach kein Wort; auch sie wagte es nicht, die stille Feier und das Geheimnis des Ortes zu stören. Ruhig begegnete sie seinen hungrigen Blicken. Es war keine Trennung mehr zwischen ihnen. Sie dachten gar nicht mehr darüber nach, warum sie hier standen. Die Notwendigkeit des Geschehens handelte nach folgerichtigen Gesetzen. Niemand entrinnt seinem Schicksal. Alles auf dieser Erde geht seiner Bestimmung entgegen. Willenlos hing sie an seinen Zügen. Es lag ein tiefes Leid darin, unendlich tief und doch von männlicher Stärke. Sie beugte sich vor der Größe dieses Leides und vergaß beinahe, daß sie selber des Trostes bedürftig war, mehr denn alle übrigen Menschen.

In dem einfallenden Abendlicht funkelte ihr Haar, als wäre es aus vergoldetem Mariengarn gesponnen. Die Qual, die Marter, die aus seinem Wesen heraus brachen, berührten sie übermächtig – und dennoch sah sie ihn an, als wenn sie sagen wollte: »Was tust du hier . . .

Sein Blick umdüsterte sich.

Verstört trat er einen Schritt zurück.

Er hatte verstanden und ihr die Worte vom Munde genommen.

»Was ich hier tue?« fragte er unsicher.

Sein Herzblut kochte auf. Sein Gesicht stand dicht vor dem ihren. Mit geballter Faust schlug er auf die Marmorlade, unter der die Herzogin ruhte. Der Sarkophag gab einen dumpfen Laut von sich, der weithin die Kirche durchhallte.

»Was ich hier tue?« fragte er wieder. Es war Schmerz und Lachen darin. – »Den Frieden suche ich,« gab er sich selber die Antwort. »Ich suche sie, die hier schläft, die ich verloren habe. Ich suche die, die gestorben ist, und die ich wieder erwecken muß zu neuem Leben.«

Er redete mit irren Lauten.

Sie verstand ihn nicht.

»Von wem sprechen Sie?« fragte sie ängstlich.

Ihre Blicke begegneten sich wieder.

Da stand sie vor ihm: das Weib seiner Jugendträume, das heiße Begehren schlafloser Nächte. Die halbgeöffneten Lippen konnten sich nicht mehr schließen. Ihre Arme hingen schlaff am Leibe herunter.

Sie stand unbeweglich.

Mit einem Satz war er bei ihr.

Im Taumel hatte er ihre Hände ergriffen.

Da kam ihr die Besinnung zurück. Ihr Inneres wehrte sich gegen ihn auf. Ihre Brust hob und senkte sich krampfhaft. Sie dachte an früher, an das, was gewesen war und noch seiner Auflösung harrte.

Gleichzeitig ließen sich Schritte vernehmen. Deutlich unterschied sie die Stimme ihres Vaters. Dann vernahm sie auch die des Küsters und die Heinrich vom Hövels.

»Nein, nein, nein . . .!« stöhnte sie jählings.

»Ich kann nicht mehr anders!« knirschte er zwischen den Zähnen.

Er war wie verzweifelt.

Wütend drückte er einen Kuß auf die schneeweißen Hände.

»Hier nicht!« keuchte sie auf. Sie wußte nicht mehr, was sie anfangen sollte.

»Aber ich muß!« sagte er abgehackt und zerrissen – ein Mann, der um sein Alles und Letztes kämpft.

Seine Augen flammten in ihre hinüber.

»Wo kann ich Sie sprechen?« hauchte er tonlos. »Am Meer?! – Zwischen den Dünen?! – Am Phare . . .?!«

Fester umschloß er ihre zuckenden Hände.

»Und das morgen . . .

»Ja,« nickte sie heftig.

»Am Abend?«

»Ja,« nickte sie wieder.

Da gab er sie frei, aber er tat einen Atemzug, als habe er das ewige Leben getrunken.

»Also morgen,« sagte er nochmals.

Sie schreckte zusammen. Als ihr Vater und Heinrich vom Hövel in Begleitung des stillen Küsters erschienen, stand sie so ruhig und gefaßt da, als hätte sie endlich den ersehnten Frieden gefunden.

Aber Heinrich vom Hövel ließ sich nicht täuschen.

Beim Verlassen der Liebfrauenkirche brach auch das schwarze Nönnchen vom Beghinenhof auf. Die Kerze brannte noch nicht. Trotzdem war es ruhiger denn an sonstigen Tagen in Brügge. Auch das Grauen sollte erst kommen, wenn sich das Schweigen ringsum fühlbarer machte. An den vier einsamen Menschen, denen noch der Weihrauchduft der Liebfrauenkirche anhaftete, schwebte die Beghine mit geschlossenen Augen vorüber. Sie sahen sie nicht, aber sie ahnten ihre aufdringliche Nähe. Sie gingen dem Tram zu.

Gemeinsam mit ihnen fuhr auch der Seelenmensch nach Sankt Anne ter Muiden. Er saß mit seinem Kerzenkranz ihnen schräg gegenüber; fröstelnd rieb er die Hände zusammen.

Zeitweilig sprach er auf sie ein, aber sie verstanden nicht, was er meinte und wollte. Seine Erzählung schien ein Gewirr von Tauknoten, das niemand auflösen konnte. Nur Einzelheiten verstanden sie. Er sprach von Basilius und der schönen Frau aus Lisseweghe; er erzählte eine konfuse Liebes- und Leidensgeschichte. Dabei deutete er geheimnisvoll auf die Kerzen, die er sich umgehängt hatte. Was er wohl haben mochte?

In Sankt Anne angekommen, ging er geraden Weges auf das Jan Bottertje'sche Anwesen los. In dem kleinen Laden verschwand er.

Die übrigen trennten sich bei den Oleanderbäumen. Sie trennten sich herzlich.

Als nunmehr die beiden Freunde allein waren und die Dorfstraße entlang schlenderten, sagte Heinrich vom Hövel: »Hans, ich verstehe – und gebe Gott, daß du dich nicht auch an der da verblutest. Werde glücklich.«

In den Zimmern, die Erasmus van Dornick mit seiner Tochter bewohnte, hellten die Fenster auf. Bald darauf hob sich das erste Viertel des Mondes über Sankt Anne, und leise, ganz leise bewegten sich die Malvenblüten im Abendwind.

 


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