Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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XV

Was wollte überhaupt die furchtbare Welle! . . . Nichts, gar nichts! – sie wollte nur Umschau halten, sich ein bißchen amüsieren, dann fiel sie zurück und hatte eine andere mit in die Tiefe gerissen. Was suchte auch das Meer in Sankt Anne ter Muiden? Rein gar nichts! – Klaas Buhle blieb nun einmal, was er war: ein übersinniger Prophet und Gespensterseher, der nur die Leute verdreht machte und ihnen allerlei Raupen in die Köpfe hineinfingerte. Hier gab's keine seebefahrenen Menschen, die ihr Leben für das tägliche Brot aufs Spiel setzen mußten, um Weib und Kind über Wasser zu halten; nein – von hier aus stach keiner in See, ausgenommen Jan Bottertje, aber auch dann nur, wenn er den vierten Genever hinter sich hatte und sich berufen fühlte, den Admiral de Ruyter zu spielen. Die übrigen waren alle landeingesessene Leute, die sich auf Fennen und Koppeln zu schaffen machten, ihren kleinen Handel betrieben, der Viehzucht oblagen und sich glücklich schätzten, nicht als Garnelen- und Schollenfischer in die Boote zu müssen. So ließen sie denn auch ruhig Gottes Wasser über Gottes Sand und Dünen laufen, freuten sich ihres Lebens und nahmen die Dinge eben hin, wie sie waren, gerade wie Moritz es tat, der ums Abendläuten in dem traulichen Häuschen vorsprach, um noch vor Schlafengehen ein gemütliches Liebes- und Plauderstündchen mit Bernadintje zu halten.

Es war pudelbehaglich in der niedlichen Stube; der porzellanene Kanarienvogel sah äußerst pläsierlich durch die Messingtraljen, während die beiden Zeiger der Standuhr langsam auf dem mit ziegelroten Nelken bemalten Zifferblatt vorrückten, und der schwere Perpendikel jeden Hingang einer Sekunde mit lautem Tacken markierte.

Aber den Glücklichen schlug keine Stunde. Dicht nebeneinander gerückt, fühlten sie den Abend kommen und horchten auf das Seufzen des Windes, der an den Fensterläden herumrappelte, allerhand konfuses Zeug erzählte und durch die Ofenröhre näselte, als wenn er auf einer Schweinsblase dudelte.

Einzelne Leute gingen schattenhaft am Fenster vorüber. Mit vorgebeugtem Oberkörper steuerten sie gegen den Wind an. Bald mußte auch der Postbote kommen.

Moritz hatte sich ein Pfeifchen angebrannt. Den rechten Arm um die stattliche Taille Bernadintjes gelegt, gab er sich angemessenen Betrachtungen hin, die alle darauf hinausliefen, bald Hochzeit zu machen und sich einen eigenen Hausstand zu gründen. Nichts störte ihn bei seinem Sinnen und Denken. Nur ab und zu drang der heisere Schrei eines verschlagenen Seevogels herunter, der hoch durch die Lüfte fuhr.

Innig an seine Brust geschmiegt, setzte Bernadintje so recht verliebte und kregele Äugelchen auf, drängelte sich näher an ihn heran und sagte, indem sie ihm mit dem Zeigefinger in die kurzen Rippen tippte: »Moritz, du simulierst über 'ne schöne Geschichte.«

»Ach, Bernadintje . . .

»Du meinst also . . .

Natürlich meinte Moritz.

»Und ob!« rief er zärtlich und drückte ihr einen herzhaften Kuß auf, »denn sieh mal: wir haben zwar verabredet, erst im Frühjahr zu heiraten – aber wenn ich das so überdenke, dann ist es mir gerade, als sollten wir zuerst nach dem Mond reisen, bevor wir so recht gemütlich . . . und da habe ich mir denn überlegt, Bernadintje . . .«

Sie hatte sich noch näher gedrängelt.

»Was hast du dir denn überlegt?« fragte sie mit verschämtem Lächeln.

»Daß wir schon so um Niklas herum . . . Weißt du: da ist so ein recht knuspriges Wetter, und die feinsten Ehen werden im Winter geschlossen.«

Und nun legte Moritz los und schilderte die Vorzüge des Winters in den gewagtesten Redewendungen. Herrgott – sollte das ein Leben und eine Hochzeit werden! Selbstverständlich wurde im Thronsaal gefeiert – und das mit allen Schikanen. Außerdem mußte Jan sein Fuhrwerk hergeben, um eine kleine Hochzeitsreise machen zu können. Und wenn dann Weihnachten kam, die Kälte bissig durch die Schlüssellöcher vigilierte, und die Sterne im kalten Mondschein erfrieren wollten – und wenn dann die ganz kleinen Wachslichtchen am Tannenbaum brannten, und ein schöner, harziger Winterduft in die Nasen kribbelte, dann saßen sie so recht bedachtsam am Kamin und sangen dazu: Stille Nacht, heilige Nacht . . .! – und sie knackten Walnüsse und Mandeln hinterher und tranken dazu Punsch aus einer großen Suppenterrine. Das war überhaupt gar nicht auszudenken – die Sache!

»Was, Bernadintje?!« rief Moritz und wartete darauf, was sein Bräutchen zu all den geschilderten Herrlichkeiten sagen würde.

Aber Bernadintje sagte überhaupt gar nichts. Beide Arme um Moritz' Nacken geschlungen, ruhte sie wie ein kleines Mädchen an seiner Brust, das in einen großen Guckkasten hineinsah und all die schönen Bilder bewunderte, die in stetiger Folge an den glücklichsten Augen vorbeizogen.

Moritz hatte noch viele Dutzend solcher Bilder auf Lager. Er war gerade dabei, eins der niedlichsten vor die Augenlinse zu schieben – ein Bild, das vom kommenden Frühling, von Primeln und blauen Veilchen erzählte, als der Bote am Fenster vorbeikam und dem Hausflur zusteuerte.

»Was da für uns?« fragte Moritz, indem er die Flurtür öffnete.

Der Briefträger blätterte in seiner Ledertasche zwischen den Postsachen herum.

»Nix, Mynheer,« sagte er endlich, »aber 'ne eingeschriebene Sache für Fräulein van Dornick.«

Gemächlich ging er den eingedunkelten Hausflur entlang und stieg dann nach oben.

Nochmals ließ sich der heisere Schrei des verschlagenen Seevogels hören. Er schwebte jetzt genau über dem kleinen Häuschen, aber tiefer, viel tiefer . . .

Unbewußt horchten die beiden auf den einsamen Flieger.

Moritz hatte sich wieder an die Seite Bernadintjes begeben. Es war mittlerweile so dunkel geworden, daß sie kaum die einzelnen Gegenstände im Zimmer zu unterscheiden vermochten. Nur das Fenster stand mit seinen weißen Gardinen fleckartig in der grauen Umgebung. Einem Liebeslaternchen nicht unähnlich, leuchtete der glimmende Tabak aus der Sofaecke heraus und tänzelte dort auf und nieder, je nachdem sich der Kopf der kleinen Pfeife bewegte.

»Herrgott, Bernadintje . . .

Immer neue Bilder! Moritz half nach. Seine Palette schien unerschöpflich geworden. Die feinsten Kulören setzte er in das Liebesidyll und in die Frühlingslandschaft hinein. Bernadintje spürte ordentlich den Duft von Primeln und Veilchen. Auch Gänseblümchen und Waldanemonen waren dazwischen. Pfingstrosen erhoben ihre strotzigen Köpfe, Akelei und Jelängerjelieber blühten auf schön abgezirkelten Rabatten; sie brauchte nur zuzugreifen, um all die lieblichen Frühlingskinder zu einem Strauß zu vereinen . . .

»Herrgott, Bernadintje . . .! – und wenn dann der Deckel von der piekfeinen Ehekiste zugemacht ist, dann wird in Sankt Anne geblieben, so 'n nettes Atelierchen wird angebaut, und du brauchst nur die Schürze aufzuhalten, um den Mammon mit 'nem schönen Knicks in Empfang zu nehmen. Hosianna – uns Menschenkindern!«

Glückstrahlend hob er das propere Weibchen in die Höhe.

»Du erdrückst mir! – ich kann ja keinen Atem mehr kriegen . . .! Aber schön ist's doch!« – und da standen die beiden Leutchen in der umdüsterten Stube, hatten nur sich, dachten nur an sich, ließen den Sturm brausen und achteten nicht darauf, daß die Tonpfeife am Boden zerschellt war, und die glimmenden Tabakspartikelchen sich wie Glühwürmchen in die Binsenmatte eingelegt hatten.

Bernadintje wollte vor innerer Seligkeit aufjubeln, hätte es auch wirklich getan, wäre da nicht plötzlich eine unliebsame Störung gekommen. Eiskalt lief es ihr über den Rücken.

»Moritz, da draußen . . .

Mit hartem Knöchel wurde gegen die Scheiben getrommelt – und dann eine Stimme: »Herzensjunge, Mensch, du veritabler Glückspilz . . .

Es klang so, als riefe eine Donnerstimme gegen den Wind an.

Die beiden im Zimmer standen sprachlos.

›Der veritable Glückspilz‹ wiederholte sich noch etliche Male in derselben Stärke: erst draußen, dann im Hausflur, hierauf zwischen Tür und Angel – und dann präsentierte sich Heinrich vom Hövel, den Hut auf dem Kopf und mit einer zusammengeknifften voluminösen Zeitung hin- und hergestikulierend.

»Was los?!« rief Moritz, aber so verdutzt, als wäre sein Freund direkt aus den Wolken gefallen.

»Kommt noch!« replizierte dieser, »aber erst Licht, Licht, Licht – Bernadintje!«

Ungeduldig schlug er mit dem gefalzten Zeitungsblatt auf den Tisch.

Bernadintje konnte zuerst die Streichhölzer nicht finden. Der Schreck war ihr in die Glieder gefahren, – Endlich! – jetzt blitzte ein helles Licht auf, jetzt brannte die Lampe – und da stand Heinrich vom Hövel schon da wie einer, der einen Herzogsmantel zu vergeben hatte. Die Zeitung auseinandergespreitet, begann er: »Gut Holz, Moritz! – Moritz, du hast ›alle Neune‹ geschoben! – Honnör über Honnör! – Von A bis Z ein einziger Dithyrambus, eine Hymne, eine Psalmodie mit Pauken und Harfen! – Aufgepaßt . . .!« – und dann gab er stoßweise etliche herausgegriffene Sätze und Schlagwörter der ausführlichen Besprechung zum besten. »Also! – Keine unreifen Pubertätssentimentalitäten . . .! – In Parenthese: wörtlich, mein Junge. – Entfernt von abgegrasten Chausseegräben wandelt er seine eigenen Pfade. Keine schmutzige Spekulation auf Verblüffung des Kunstpöbels . . . Alles mit festen Strichen niedergelegt. Das lacht, wiehert und jubelt einem entgegen. Hic Rhodus, hic salta – aber wie tanzt der Mensch auch! – Keine gangbare Alltagsware, kein trostloser Zopf, keine gequälten Allegorien . . . Geschaute Natur bis in die Zehenspitzen hinein, und das mit einem Können hingepinselt . . .«

»Herrjeses!« rief Moritz.

»Abwarten! – es kommt immer noch besser,« gab der Vorleser zurück und ließ den Rücken seiner rechten Hand auf das Papier knallen. Dann schöpfte er tief Atem, gleichsam um das, was noch zu sagen war, mit der richtigen Verve vorlesen zu können. »Also weiter im Text! – Der ganze Farbenauftrag: pastos, schummrig . . . Eine prachtvolle Fanfare altniederländischen Behagens und grotesken Humors . . . Kompagnie Jan Steen und Moritz Dütz-Josum . . . Endlich mal eine bodenständige Kunst . . . Hut ab! – ein Apostel der Zukunft und eines neuen Evangeliums ist mit diesem Meister in die Erscheinung getreten . . .«

»Hör' auf!« fiel ihm Moritz ins Wort. »Mit den Lorbeerblättern kann man ja fünfundzwanzig Sauerbraten frisieren und garnieren.«

»Aber schön ist's doch,« schmunzelte Bernadintje in sich hinein und schob den rechten Arm in den ihres Geliebten.

»Es kommt immer noch besser . . .

»Dann man weiter,« sagte Bernadintje und stand so siegesgewiß und geehrt da, als sei der Oberzeremonienmeister der Königin von Holland mit dem Auftrag erschienen, sie müsse sofort ihr Bestes anziehn und mit nach dem Haag kommen, denn ›Ons Wilhelmintje‹ könne ohne sie absolut nicht mehr fertig werden und wolle sie partout zur ersten Hofdame machen. Erwartungsvoll und mit glücklichen Augen sah sie auf Heinrich vom Hövel.

»Und somit zum Schluß,« sagte dieser. »Nochmals in Parenthese: alles wörtlich, mein Junge. – Was andere nicht konnten, er hat's fertig gebracht. In seiner ungestümen, burlesken Schöpfungskraft verhilft er uns zu einem allbefreienden Lachen. Endlich die Kunst der Erlösung . . .! – Was wollen die Neueren gegen ihn? – Adolf Schrödter in seiner Dulzinea Toboso? Nicht übel – man lächelt. Hasenclever in seiner Jobsiade? Desgleichen – man kichert. Aber Moritz Dütz-Josum . . .? – Wer kannte bis heute Moritz Dütz-Josum?! – Wallfahrtet zu ihm! – Pilgert nach seiner Bambocciade, und ihr werdet´s mir zu danken wissen. Beim Anblick dieses saftig vlämischen Bildes kommt man nicht in die Verlegenheit, entweder lächeln oder schmunzeln zu müssen. Von diesem Erzeugnis geht eben ein kategorisches Muß aus, und daher: man schwankt mit offenem Munde, man wälzt sich und wird erschüttert unter einem eruptiven Gewieher. Kurzum – das Ganze ist mit einer Selbstherrlichkeit und gleichsam aus einer treffsicheren Pistole auf die farbenfreudige Leinwand geschossen, und somit kann es nicht wundernehmen, daß sogar die Dreimalheiligen einer königlichen Nationalgalerie sich bemüßigt fühlen dürften, die Finger zu strecken, wenn sie nicht wollen, daß irgendein Dollarbanause . . . Das Werk dieses Genies muß eben im Lande bleiben. Es wäre sonst ein trostloser Zustand. Und dieses Genie . . .«

Heinrich vom Hövel hielt sich nicht länger.

»Gratulor, Moritz . . .! – Kegelkönig . . .! – Moritz, du hast ›alle Neune‹ geschoben!«

»Marasmus!« schrie Moritz und lag an der Brust seines Freundes. »Und das heißt . . .?« fragte er, nachdem er einigermaßen aufatmen konnte.

»Daß du ein Kerl bist.«

»Menschenskind, das hab' ich dir zu verdanken!« brach es aus ihm heraus.

»Nein – du, aber deinem verteufelten Können.«

»Die Landkutsch ist es gewesen!«

»Meinetwegen, mit Inbegriff von Amalie, Sophie und Doortje!«

»Und der da!« rief Moritz, machte sich frei und faßte Bernadintje rund um die Taille.

»Ach, Gott – ich!« sagte diese und wischte sich mit ihrem Schürzenzipfel über die Augen. Sie wagte den Gefeierten kaum anzusehn, so überirdisch kam er ihr vor. Sie hatte schon Angst, Moritz wäre zu gut für sie und die profane Erde, er würde kleine, goldene Flügel bekommen, um in seiner ganzen Herrlichkeit aufwärts zu fahren – aber Moritz dachte gar nicht ans Fortfliegen, er stand so ruhig und sinnig da, wie er damals gestanden hatte, als Jan Bottertje auszog, um die Bettstelle aus Brügge zu holen. Auch jetzt horchte er auf weltverlorene Töne, nickte seinem Freunde zu und meinte: »Ich danke dir, Heinrich.«

Die hellste Lebensfreude überzog sein armseliges Gesicht.

Auch dieses Glück ging vorüber. Lautlos und auf Strümpfen hatte es sich aus der Türe geschlichen. Die drei sahen sich plötzlich und wie auf Verabredung an, denn über ihnen wurden heftige und erregte Männerschritte hörbar. Alle kannten die Art und Weise des Predigers, aber in einer solchen nervösen Hast war er noch niemals auf- und niedergegangen. Es war ein unheimliches Gehen und Schreiten. Ab und zu verstummte es, um dann wieder mit erneuter Heftigkeit zu ertönen. Vereinzelte, kurz herausgestoßene Worte drangen nach unten, die trotz des Unverständlichen, was sie an sich hatten, doch eine tiefe und schwere Erregung verrieten.

Bernadintje schaute ängstlich zur Decke.

»Da muß was passiert sein,« sagte sie kleinlaut, indem sie Heinrich vom Hövel ansah. Der aber schwieg und tat so, als höre er auf das Winseln des Sturmes, das immer beklommener wurde.

Auch das harte Gehen verlor sich. Eine qualvolle Stille folgte, die jäh durch einen wehen Schrei zerrissen wurde.

»Mein Gott und mein Heiland!« rief Bernadintje.

»Moritz, was war das?« fragte Heinrich vom Hövel.

Auch er schien besorgt.

»Das war schon soeben,« erwiderte Moritz, »und kommt jetzt von der Priesterkoppel her. Der verschlagene Vogel kann nicht gegen das Meer an.«

»Ach, was!« sagte vom Hövel. Er riß einen Fensterflügel auf und horchte hinaus. »Nie und nimmer,« meinte er schließlich, »das kommt von hier oben.«

Mit dem war auch Klaartje ganz verstört ins Zimmer getreten.

»Was bedeutet das, Klaartje?«

»Mynheer,« sagte sie ängstlich, »ich weiß es ja selber nicht. Aber es hat da oben angefangen, seitdem der Briefträger fortging. Ich mußte die Postsachen 'reintragen. Auch 'ne Depesche war drunter. Und dann ist das Elend gekommen.«

Heinrich vom Hövel verfärbte sich. Ein dumpfes Empfinden kam über ihn. Er ahnte das Vorgefallene, allein seine Gedanken wurden wie steuerlahme Schiffe aus der Richtung geworfen.

Bernadintje legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Mynheer, wollen Sie nicht einmal 'raufgehn?«

Auch Moritz kam näher.

»Du kennst sie ja besser, als wir alle zusammengenommen . . .«

»Nein,« sagte Heinrich vom Hövel und machte eine abwehrende Bewegung. »Wo man nicht helfen kann, soll man Verblutende allein lassen.«

»Was willst du damit andeuten?« fragte Moritz Dütz-Josum. Er verstand nicht den Sinn der hingeworfenen Worte, aber soviel fühlte er doch heraus, daß sein Freund mehr wußte, als er zu sagen gewillt war.

Heinrich vom Hövel ergriff seine Hand.

»Du hörst später davon,« sagte er leise; dann trat er ins Freie.

Er ging dem Postamt zu. – Trübgraue Wolken räkelten sich über ihn fort; nur vereinzelte Steine waren dazwischen. Der Wind kam noch immer steif aus Westen, aber er war flauer geworden. Die wenigen Laternen in Sankt Anne warfen ein flackeriges Licht über die Straße. Trotz der vorgerückten Stunde tönte noch öfters die Klingel im Jan Bottertje'schen Anwesen. Leute kamen und gingen, um für den morgigen Tag ihre Einkäufe zu machen. Wilhelmintje hantierte hinter der Theke, wog Grießmehl und Kaffeebohnen ab und knüllte die Papiertüten zusammen. Alles ging ihr fingerfertig von den Händen herunter. Heinrich vom Hövel warf einen flüchtigen Blick in den Laden. Als er das kleine Haus hinter sich hatte, lief gerade der Tram ein, der Verbindung mit dem Ostender und Blankenbergher Express hielt. Es mochte auf neun gehn. Gleich darauf stampfte und polterte der Zug wieder durch den trübseligen Abend. Er fuhr über Westkapelle nach Knocke. Gleich einer Schlange glitt er vorüber. Heinrich vom Hövel konnte ihn lange verfolgen. Er sah es an den erleuchteten Bäumen, die mit dem Schienenstrang liefen. Lichte Funken wurden aus der Maschine gen Himmel geschleudert. Noch lange gellte das Stampfen in seinen Ohren nach.

Beim Postamt begegneten ihm die Passagiere des eben abgefahrenen Zuges. Es waren nur wenige Leute, die schwerfällig gegen den Seewind ankämpften. Er kannte niemanden von ihnen. Was kümmerten ihn auch die wildfremden Menschen ? – aber da was es ihm plötzlich, als wenn sein Puls aussetzen wollte. Wie aus dem Nebel eines Traumes erwachend, stand ein scharfumrissenes Stück Vergangenheit vor ihm, aber so deutlich, daß er es mit den Händen greifen konnte. Unter dem Licht der letzten Straßenlaterne traten ihm bekannte Augen gegenüber. Und diese Augen . . . Blitzartig flogen sie in die seinen und schienen ihn festzuhalten.

Die beiden Männer, die vor langen Jahren mal die nämliche Schulbank gedrückt und Freundschaft geschlossen hatten, erkannten sich wieder. Keine drei Schritte trennten sie auf vlämischer Erde – aber Heinrich vom Hövel ging weiter.

Er hatte einen Fluch zwischen den Zähnen.

»Der fehlte noch,« sagte er heiser und schlug sich mit der Faust gegen die Stirne. »Mensch, deine Anna-Maria . . .

Er verschluckte die letzten Worte. Es saß ihm wie eine würgende Schlinge an der Kehle. Er sah Funken und Feuer. Klopfenden Herzens betrat er das Postamt, wußte sich, trotz der späten Zeit, noch Gehör zu verschaffen, riß ein Depeschenformular vom Block und schrieb in fliegender Hast. Nur wenige Worte ... dann las er: »Dringlich! – Sofortige Rückkehr geboten.

Dein Heinrich vom Hövel.«

Als er das Postamt verließ, holte die Uhr aus. Mit langen Schlägen zog die neunte Abendstunde über Sankt Anne ter Muiden. – – –

Der Prediger hatte seinen Rundgang wieder aufgenommen. Er war allein in der Stube. Wie ein Tier im Käfig ging er im Zimmer auf und nieder, hastige Worte zwischen den eingekniffenen Lippen zernagend. Über sein glattrasiertes Gesicht lief ein gramvolles Lächeln, das zeitweilig einen verzweifelten Charakter annahm. So war er schon seit einer halben Stunde gegangen.

Jetzt blieb er stehen. Er hörte auf die einzelnen Schläge der Turmuhr.

»Neun Uhr,« sagte Erasmus van Dornick, verstrickte die Hände und nahm wieder seinen rastlosen Gang auf.

In der Mitte eines kleinen Tisches stand eine brennende Unschlittkerze. Sie tropfte und weckte ein klingendes Geräusch auf der Schale des Messingleuchters. Vor diesem Licht drängte der gigantische Schatten des Predigers gegen die Wand an, streckte sich bis zur Decke, um dann wieder in sich zusammen zu schrumpfen und über die Dielen zu kriechen.

Der Prediger glossierte über seinen eigenen Schatten. Er erinnerte ihn an ein Begebnis aus vergangenen Tagen. Wie jener so schlich auch dieses hinter ihm her, duckte sich hündisch, um dann plötzlich aufzubäumen, als sei es gewillt, sich mit brutaler Gewalt auf ihn zu stürzen. Das alte Grauen war wieder da, die Angst vor einem Unglück, das sich aufgerafft hatte und drohend emporstieg. Mit einer ruckweisen Bewegung fuhr er sich durch die grauen Haare. Sein Blick umfaßte ein schlichtes Stück Papier, das neben dem Leuchter auf dem niedrigen Tisch lag. Es verursachte ihm ein schmerzhaftes, qualvolles Gefühl.

Krampfhaft stöhnte er auf.

Der Untergang seines Hauses trat ihm vor die Seele.

Er tastete danach – er hatte die Depesche ergriffen, zerknitterte sie mit unbarmherzigen Fingern und warf das Zerknüllte in eine Ecke des Zimmers.

Erasmus hatte gute Augen und den Blick eines Kindes. In ihm ruhte eine selige Unbefangenheit und der ganze Friede eines schuldlosen Herzens. Aber er konnte aufflammen wie eine drohende Wolke. Und jetzt flammte sein Blick auf. Starr war er auf die Türe gerichtet. Im unsteten Kerzenlicht schienen seine Züge aus Holz geschnitten. Keine Fiber zuckte darin. Er war wieder der Alte – der Alte von früher, der auf der Kanzel stand, in Menschenleben hineinwetterte und den Abtrünnigen gebot: In die Knie – ich will es.

Auch sein Schatten hatte das Nervöse verloren; ruhig lehnte er sich gegen die Wand und wartete darauf, ob und wann sein Herr den Rundgang wieder beginnen würde.

Aber der stand am Boden geschmiedet. Er regte und rührte sich nicht. Eine eisige Kälte glitt an seinem Körper herunter. Unter dieser eisigen Kälte wurden seine Züge noch härter denn vorhin. Die Knöchel der rechten Hand auf die Tischkante gestützt, neben sich das Flackerlicht der Kerze, stierte er die Tür an, als müsse er sich durch die Bretter hindurch vergewissern, ob jemand draußen stände.

Er erwartete jemand – und in dieser Erwartung ähnelte sein Antlitz dem eines Mannes, der sich mit geballter Faust gegen die Brust klopft und in die Worte ausbricht: Ich weiß, was kommen wird – und das ist furchtbar.

So auch Erasmus.

Er sah in den gegenüberliegenden Spiegel, er sah, wie sich seine Lippen bewegten; er las sich selber das Wort von den Lippen herunter.

Eine Stelle aus dem Buche Hiob trat ihm in den Sinn.

Er zitierte die Stelle. Seine Worte waren eckig und kantig und hart, und also sprach er: »Ich wollte nur das Gute – und es kam das Böse. Ich hoffte auf das Licht, und siehe – es kam die Finsternis.«

Er tat einen tiefen Atemzug.

»Und es kam nur die Finsternis,« sagte er herbe.

Gleich darauf hörte er unten die Klingel.

Dann kamen hastige Schritte. Er vernahm Klaartjes Stimme – und noch eine andere Stimme.

Wider Willen überlief ihn ein fröstelnder Schauder. Er fürchtete die Nähe einer unsichtbaren Gewalt, die Macht über ihn hatte und ihn zu beugen versuchte.

Allein er beugte sich nicht. Nicht er, sondern sie mußte sich ducken.

»In die Knie – ich will es.«

Jetzt hörte er nichts mehr. Der Sturm, der fast eingeschlafen war, hatte sich nochmals erhoben. Er orgelte im Hausflur und rüttelte an den Fensterkreuzen.

Der Prediger warf einen flüchtigen Blick durch die Scheiben. Eine plötzliche Mondhelle durchbrach die vorüberjagenden Wolken. Er sah die gegenüberliegenden Häuser aufleuchten. Weiterhin standen tiefschwarze Bäume.

Die Helle aber währte nicht lange. So schnell wie sie gekommen war, ebenso verschwand sie auch wieder. Das vorige Dunkel fiel auf die Dächer zurück. Mit finsteren Augen sah der Abend ins Zimmer.

Jetzt waren die Schritte auf den Stiegen. Die Stimmen kämpften vereint gegen den Sturm an. Sie kamen näher. Jetzt waren sie im oberen Hausflur.

Der Prediger lachte bitter und gequält auf.

Draußen fragte Klaartje: »Mynheer, soll ich vielleicht . . .

Eine unverständliche Antwort erfolgte. Sie mußte aber verneinend gewesen sein, denn ein gedämpftes Klappern von Holzschuhen ging wieder nach unten.

Der Prediger sah durch die Planken hindurch, wie sich die Hand des Eindringlings auf die Türklinke legte.

Dann klopfte es an.

»Herein!« sagte Erasmus van Dornick.

 


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