Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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XI

Anderen Tages und in aller Herrgottsfrühe . . .!

Die Sommernebel lagen noch auf den Feldern, hoben sich langsam empor und schwebten wie lange, auf- und niederwallende Leinentücher um den stumpfen Kirchturm von Sankt Anne, der verschläfert über sie fortsah, sich streckte und reckte und Miene machte, die naßkalten Nebel zu verschlingen. Sperrangelweit riß er seine Schallöcher auf und versuchte kräftig zu gähnen, worüber die Elstervögel, die in den umliegenden Baumkronen hockten, laut zu geckern begannen, schwatzten und lärmten, bis sie es schließlich genug hatten und den dunstigen, ziegelroten Ball anflogen, der sich seit einer Stunde bemühte, die kompakten Massen zu verflüchtigen und die Erde in ein flirrendes Goldnetz zu hüllen.

Endlich gelang es. Die blanken Fäden durchschnitten die wattebauschigen Tücher, die alsbald wie ermattete Nachtfalter hin- und hertaumelten, noch etliche flügellahme Schwenkungen machten, um sich schließlich zwischen Blumen und Gräser zu betten, deren taubehängte Rispen in allen Farben des Regenbogens erstrahlten.

Bald darauf tönte die erste Morgenglocke über Sankt Anne ter Muiden, während der Horizont zu einem Feuermeer wurde, als stände das alte, verwunschene Brügge in Flammen. Mit dem Verstummen der Glockentöne setzte die Orgel ein, die, von Erasmus van Dornick gespielt, den Dank eines befreiten Menschenherzens zu seinem Erlöser emporschickte.

Hochaufgerichtet saß der Prediger im Orgelstuhl, von einer breiten Garbe flutenden Sonnenlichtes übergossen. In sich gefestet sprach er mit seinem Heiland. Er wußte sein Kind glücklich. In diesem Bewußtsein erschloß sich ihm ein neues Leben, wähnte er durch selige Gefilde mit traumschönen Blumen zu wandeln, wie im Land Galiläa, wo reine Lilien auf den Bergen blühen und dunkelrote Rosen in den Tälern von Saron. Und an den Ufern des Sees Genezareth erstreckten sich rosige Flachsfelder, den Abendwolken vergleichbar, die über den weißen Gipfeln des Hermongebirges schwebten. Erasmus van Dornick fühlte sich von Lilien und Rosen umduftet. Gab der durchsichtige Himmel nicht Schall, und flüsterten nicht die Weiden von den Jordanwiesen herüber? Ja, es war ein Klingen und Harfen um ihn. Er gefiel sich darin, hebräische Melodien auszumalen und weiterzuspinnen. Die Klänge führten ihn in das heilige Land, wo die Schatten tiefer sind, und das Licht eine größere Helle verbreitet. Er sah viele Straßen, von Oliven beschattet, und festlich gekleidete Menschen wandelten darauf, und alle zogen ihrem Heiltum zu – nach Jeruschalaim. Immer feierlicher, verheißender wurden die Klänge. Er sprach in diese Klänge hinein und sagte: »Die Blumen sind hervorgegangen im Lande; der Lenz ist gekommen, und die Turteltaube läßt sich hören im Lande.«

Und dann dachte er an sein Kind, an seine einzige Tochter. Er zog neue Register und ließ Aeoline und vox angelica dominieren.

»Du bist schön, meine Tochter. Du bist eine Blume zu Saron und eine Rose im Tal – und ich höre dich sprechen: Ich will aufstehn, in der Stadt umhergehen und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht.«

Die Tonwellen steigerten sich zu seliger Hoffnungsfreudigkeit, und wieder begann Erasmus zu sprechen: »Ich will zum Weihrauchhügel gehn und zum Berge der Myrrhen – und siehe: ich fand ihn und will ihn nicht lassen, bis ich ihn bringe in meiner Mutter Haus und meiner Mutter Kammer. – Aber ich beschwöre euch, ihr Töchter von Jeruschalaim, bei den Rehen oder Hinden auf dem Felde, daß ihr meine Tochter nicht aufweckt, noch reget, es sei denn, daß es ihr selber beliebet.«

»Großer Gott, heiliger Gott!« rief der Prediger in die Orgelstimmen hinein, die jetzt anwuchsen, als wären ihnen Schwingen gegeben, »mir ist es so, als wäre für mich die deutsche Weihnacht gekommen. Heiligabend! – und draußen fallen die Schneeflocken, leise, ganz leise; die Straßen duften, als habe sich der deutsche Tannenwald zu Gast geladen bei allen Menschenkindern, die guten Willens sind. Aus allen Fenstern leuchtet das Glück, alle Herzen stehen in Erwartung und harren in gläubiger Einfalt der Schätze, die liebevolle Hände hinter verschlossenen Türen aufbauten. Ich werde meines Jubels nicht Herr – ich löse die Schuhe – ich trete über deine Schwelle – ich sehe deinen Christbaum mit vielen Lichtern gerichtet – ich sehe dich selber, o Herr, unter den duftigen Zweigen – du hast die Arme gebreitet – dein Antlitz lächelt – ich höre dich sprechen. Deine Stimme ist wie Sphärengesang und von unendlichem Wohllaut: Ich gab deinem Kinde die Ruhe und den Frieden. Das ist mein Geschenk, was ich dir zugedacht habe.«

Seine Worte jubelten, und aus diesem Jubel heraus entfaltete sich der unsterbliche Lobgesang Beethovens, der mit seinen Tonwellen weit in Gottes stille Morgenfrühe hinauszog:

»Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre!
Ihr Schall pflanzt seinen Namen fort.
Ihn rühmt der Erdkreis, ihn preisen die Meere,
Vernimm, o Mensch, ihr göttlich Wort.
Wer trägt der Himmel unzählige Sterne?
Wer führt die Sonn' aus ihrem Zelt?
Sie kommt und leuchtet und lacht uns von ferne
Und läuft den Weg gleich als ein Held . . .«

Die Töne erstarben, säuselten nur leise wie die Palmen von Beth-El und die Weiden am Jordanufer, begleitet von den Worten des Predigers, der sich wieder in das heilige Land versetzte, wo die Schatten tiefer sind, und das Licht eine größere Helle verbreitet. Und silberweiße Lilien blühten auf dem Hermongebirge und dunkelrote Rosen in den Tälern von Saron. Und er sah die Zinnen der großen Stadt und ihren goldenen Tempel, den die Morgensonne beleuchtete. Und er sah die Töchter von Jeruschalaim . . .

»Aber ich beschwöre euch, ihr Töchter von Jeruschalaim, bei den Rehen auf dem Felde, daß ihr meine Tochter nicht aufweckt noch reget, es sei denn, daß es ihr selber beliebet.«

Der Glückliche!

Er brauchte keine Sorge zu haben.

Sie schlief noch, keiner weckte sie, niemand wagte es, ihren seligen Schlummer zu stören. Nur wie weltferne Akkorde drangen die Orgelstimmen in ihre Traumwelt hinein. Zwei glückliche Menschen hatten sie am Strande gestanden, zwei glückliche Menschen waren sie durch den Abend gegangen – ein Feuermantel lag um sie geworfen – ihre Herzen pochten gegeneinander – und ihre Lippen brannten wie zuckende Flammen . . . Und sie schlief noch, als die Orgel längst verstummt war, und Erasmus van Dornick bereits seinen Morgenspaziergang durch die weiten Felder machte, der einsamen Mühle zu, die, an einem malerischen Binnenwasser gelegen, mit der grandiosen Ruhe eines holländischen Weltweisen ihr Tagewerk verrichtete. In ihrer Nähe gedachte er auf Heinrich vom Hövel zu stoßen, der, wie er wußte, auf diesem Erdenwinkel ein neues Motiv für ein groß angelegtes Gemälde entdeckt hatte – und so ging er denn mit feiertägigen Augen und erhobenen Hauptes auf den holländischen Weltweisen zu, dessen mit Segeltuch bespannte Arme ihm schon aus der Ferne entgegenleuchteten.

Das Vergangene war tot für ihn. Er hatte vergessen. Seine Lebenssonne war noch nicht untergegangen. Er durfte noch hoffen; er klammerte sich mit allen Fasern an dieses Erhoffte, froh seines Daseins, als wäre die Jugend wieder in ihm lebendig geworden.

»Heiliger, Mächtiger . . .!« beteten seine Lippen.

Er hatte den Hut abgenommen. Der Morgenwind spielte mit seinen eisgrauen Haaren, mit seinen Rockschößen, die er sacht auseinander faltete und wie Schmetterlingsflügel bewegte; er zog weiter landeinwärts und wehte die blauen Rauchwölkchen an, die auf den Schornsteinen standen und Kunde davon gaben, daß in Sankt Anne die Menschen aus den Federn waren, ein Schälchen Kaffee zu schätzen wußten und ihrem Beruf nachgingen.

Der erste Tram passierte die Station und keuchte nach Brügge.

Gleichzeitig öffneten sich die Türen an den beiden khakifarbigen Häuschen.

Auf der einen Türschwelle war ein liebliches Klingeln, auf der anderen Türschwelle war ebenfalls ein liebliches Klingeln.

»Tag, Wilhelmintje!«

»Tag, Bernadintje!«

In der Dorfstraße begegneten sich die sanften Stimmchen der Ohrgehänge, klingelten zum Morgengruß gegeneinander und taten schön wie vier verliebte Haferähren, indes Wilhelmintje mit einem beschriebenen Blatt Tütenpapier über die Schulter deutete und sagte: »Ich weiß was, Bernadintje.«

»Ich auch,« sagte diese und zeigte gleichfalls über die Schulter, und zwar auf ihr eigenes Häuschen, wo vor den Fenstern des ersten Stockwerks sich die vollerblühten Geranien im jungen Morgenlicht sonnten. »Drei Bohnen sind heute aus meiner Kaffeemühle gesprungen. Das bedeutet was Gutes, denn es passierte mir auch, als Moritz fragte: Madam Bottertje, darf ich ›du‹ zu dich sagen? – und nu wird auch ›sie‹ wohl ihre traurigen Geschichten bei Wege lassen, denn sie konnte einen immer so verschrecklich benaut ankucken, als wenn sie sagen wollte: Bernadintje, dat Harteleed, dat Harteleed . . .

»Ach, Gott – ne nicht!« seufzte ihr pummeliges vis à vis, während Bernadintje ihrerseits noch einen dickeren Seufzer aus ihrem buntgemusterten Umschlagetuch hervorholte, die Hände ergeben zusammenlegte und meinte: »Und so sind denn über Nacht Pläsier und Leid in gleicher Portion auf meine Dachpfannens geregnet.«

»Wieso, Bernadintje?«

»Pläsier – von wegen der da, und Leid – von wegen Basilius.«

»Exküsiert,« damit legte sich nun Wilhelmintje ganz energisch in ihre stattliche Weste. »Pläsier von wegen der da?« – und sie zeigte auf die schönen Geranienstöcke, hinter welchen Anna van Dornick noch träumte – »stimmt; das kann selbst der Herr Notarius van Sluis unterfertigen. Aber Leid von wegen Basilius? – Die Portion kenne ich; die hätte man auf andere Pfannens regnen sollen. Diese Portion ist von jeher ein infamer Windhund gewesen. Diese Portion soll der leibhaftige Deuwel . . .

Entrüstet trat sie einen Schritt zurück. Sie mußte etliche Male nach Atem schnappen, um ihre innere Erregung niederzuhalten. »Bernadintje,« sagte sie giftig, »wer hat sich um andere Unterröcke gekümmert und das mit 'nem leibhaftigen Ehering am Finger?«

Die Gefragte wollte etwas entgegnen.

»Exküsiert, Bernadintje. Wer ist mit deinen zweitausend Brabanter Guldens, noch von Mutter selig herstammend, und der feinen Madam aus Lisseweghe abgerutscht? Na – ich frage dir: Wer denn?«

»Allerdings, aber ich dachte . . .«

»Exküsiert, Bernadintje. Wer hat mir beleidigt? Wer hat unsere ganze Familie beleidigt? Wer hat dir in einer Woche alle Taschentüchers naß gemacht, daß du keine mehr hattest, und ich dir aushelfen mußte, obgleich du mit drei Dutzend von die nämliche Sorte aufwarten konntest? Bernadintje, ich will keine Namens nicht nennen . . .« und die kleine Frau reckte sich forsch in die Höhe, legte ihre linke Hand auf den stattlichen Busen und sah dabei ihre Schwester so geheimnisvoll und verschlossen an, daß diese wirklich des Glaubens sein mußte, Wilhelmintje würde sich eher die Zunge abbeißen, als den Namen des Ungetreuen preiszugeben.

Allein – was sind Vorsätze?! – und wer kann es einem Schwefelhölzchen verdenken, abzubrennen, wenn es kräftig über einen ledernen Hosenboden gestrichen wird?

Wilhelmintje explodierte denn auch und polterte los: »Nein, Bernadintje, ich will keine Namens nennen, denn er ist doch mein leibhaftiger Schwager gewesen – aber er schreibt sich Basilius. – So, das wollte ich dir von wegen der einen Portion schlankweg heraussagen. Und nu komm man, laß' Basilius man schwimmen und erfreue dir an deinem Auserwählten, zumal heute, wo er dir und mir und die ganze Schilderei eingepackt hat und rekommandiert an die große Kunstausstellung in Berlin schicken will. De Koning van Preußen interessiert sich sehr für die Sache.«

»Wer sagt das?«

»Mynheer vom Hövel,« konstatierte Wilhelmintje, wobei sie den ›Mynheer‹ so dick unterstrich, gewissermaßen fett gedruckt in die Erscheinung treten ließ, als wäre dieser ›Mynheer‹ etwas ganz Apartes und ein Unikum unter seinesgleichen gewesen.

»Aber, Wilhelmintje – de Koning van Preußen . . .?!«

»Ich sage dir ja, er interessiert sich sehr für die Sache, denn wenn Mynheer vom Hövel was sagt, so ist das so gut, als wenn ›Ons Wilhelmintje‹ ein Staatsbillett unterfertigt, und der mecklenburgische Hendrick zukuckt. Außerdem hat Jan angeschirrt und kutschiert Schlag Klock acht alles nach die Bahnstation in Brügge. Also – nu komm man.«

Da lächelte Bernadintje. Sie lächelte wie eine Drehbrettmadam auf der Kirmes, bei der nach fünfmaligem Herumschnurren der Zeiger auf ›Nix‹ steht, so daß sie den Einsatz behält, und die Spieler mit langen Nasen abziehen müssen. Sie steckte denn auch das letzte Herzweh über den Tod ihres geschiedenen Mannes beruhigt hinter den Spiegel, schob seelenvergnügt ihren Arm unter den Wilhelmintjes – und da gingen die beiden wie zwei duftige Pfingstrosen die lange Dorfstraße entlang und geradeswegs auf das indigoblaue Häuschen zu, wo Moritz bereits mit aufgesetztem Zylinder und untergeschlagenen Armen an einem Türpfosten lehnte, sich die Gegend besah, einen fidibusartig gekniffenen Frachtschein hinter dem linken Ohr stecken hatte und eine Pfeife Tabak in den schönen Sommermorgen hinausrauchte. Neben ihm stand eine breitausgelegte, aber sorgfältig vernagelte Kiste, die auf ihrer Vorderseite mit den Buchstaben B. U. M. V. und der Zahl 13 signiert war – eine sinnige Aufmerksamkeit für Bernadintje; denn als die beiden herankamen, Moritz sie begrüßt und seinem lieben Bräutchen noch ein leckeres Morgenküßchen verabfolgt hatte, Wilhelmintje sich hierauf nach der Bedeutung und dem Zweck der vier Buchstaben erkundigte, da lächelte der armselige Mensch so recht innig in sich hinein, legte seinen Arm um Bernadintjes Taille und sagte: »Äußerlich sind sie lediglich eine vorgeschriebene Frachtsignatur, aber innerlich bedeuten sie: Bernadintje und Moritz, Verlobte, und ich hoffe, daß sie uns Glück bringen werden.«

»Wie lieb!« lächelte Bernadintje und drückte sich inniger an ihn.

»Aber die Nummer – das ist doch 'ne Unglückszahl!« warf Wilhelmintje dazwischen und zeigte auf die flott hingepinselte ›13‹.

»Das schon,« sagte Moritz, »aber ich bin am 13. geboren, am 13. habe ich mich mit Bernadintje verlobt, am 13. findet die Eröffnung der großen Kunstausstellung statt – und daher bin ich gezwungen, mit der Nummer 13 zu rechnen. Ich estimiere sie drum, habe sie zu meiner Glückszahl erhoben, gerade so, wie man 'nem bissigen Köter 'n Ende Wurst anpräsentiert, damit er einem nicht die schönsten Hosen zuschanden macht. Kinder, verstanden . . .?!«

Und die beiden nickten »ja«, und Moritz, der Mensch mit dem fröhlichen Herzen, in welchem der liebe Herrgott die schönste und prächtigste Sommersaat zur Reife gebracht hatte, legte nun seinen anderen Arm um die Taille Wilhelmintjes, und er war gerade dabei, seinem Schöpfer für die erwiesene Gnade recht innig zu danken, ihn in so geregelte Verhältnisse hineinposamentiert zu haben, als er plötzlich in ein nicht enden wollendes Gewieher ausbrach.

»Was los?« fragte Bernadintje.

»Da!« sagte Moritz und deutete auf Jan Bottertje, der in diesem Augenblick mit seiner Landkutsch gefahren kam. »Ich halt's nicht mehr aus! Der Kerl ist ja rein des Teufels geworden! Marasmus! – Marasmus . . .!« und er wieherte abermals so lustig in den Morgen hinein, daß die Scheiben des blauen Häuschens zu klirren begannen.

Wilhelmintje war über das dämliche Verhalten ihres Mannes versteinert.

Und richtig – da kam er.

Aber wie kam er daher? – im Trauertempo, mit einem Sargdeckelgesicht, wie der heilige Salbaderus, mit der verstörten, glattrasierten Visage eines Lakaien, der sich plötzlich vor ein verschlossenes Schnaps- und Zigarrenschränkchen gestellt sieht – und dabei trug der Kerl einen Pfeifenstummel in der linken Mundecke, dessen Stiel er mit Trauerflor umwickelt hatte. Sonst ein Draufgänger beim Fahren, erschien er jetzt, als müsse er die sieben mageren und schließlich verhungerten Jahre zum Kirchhof kutschieren, den Kopf vornüber gesenkt, wie ein Briefträger, der bereits fünf Meilen schlechten Landweg hinter sich hatte. Und wie der Herr, so's Gescherr! – denn Amalie, Doortje und Sophie kamen so feierlich an, bammelten so wehleidig mit ihren Schwänzchen, als befänden sie sich auf ihrem letzten Gang, um abgeschlachtet, eingepökelt und verwurstet zu werden.

Bei diesem Traueraufzuge wurde Wilhelmintje fuchsteufelswild, während Moritz sich vor Lachen schütteln wollte, und Bernadintje ein Gesicht machte, als seien Ostern und Pfingsten auf einen Tag gefallen.

Jan seinerseits blieb die verkörperte Trostlosigkeit. Der bestveranlagte Leichenbitter hätte bei ihm in die Lehre gehn können.

»Ich bin parat,« sagte er einfach.

Amalie, Doortje und Sophie stimmten ihm bei. Sie ließen ein trauriges, aber gefühlvolles Grunzen vernehmen.

»Ich bin parat, Schwager,« sagte er nochmals.

»Aber wie!« fuhr seine Frau auf ihn los. »Diese dämlichen Mouvements! – Das ist ja der reinste Hopphei! – und du blamierst mir und dir und deinen vornehmen Schwager.«

»Wilhelmintje,« sagte Jan so ruhig wie vorhin, »es ist man von wegen Basilius.«

Mit steifen und betrübten Blicken sah er in die sonnige Landschaft. Er sah hinein, als wenn er etwas verloren hätte, als wenn sein verstorbener Bruder jeden Augenblick herankommen müßte.

»Na denn,« sagte Wilhelmintje und ließ ihren Unmut fallen. Auch Moritz vergaß sein Lachen, wurde ernst und blickte einem Schmetterling nach, der langsam vorbeischwebte. Bernadintje wischte sich mit ihrem Schürzenzipfel über die Augen, trat auf Jan Bottertje zu und meinte: »Ich danke dir, Schwager,« aber so innig und herzlich, daß Jan immer steifer und betrübter ins Weite sah und sich einen ordentlichen Ruck geben mußte, um Herr über seinen äußeren Menschen zu bleiben, er konnte es aber doch nicht verhindern, daß ihm große, helle Tränen in die Augen traten.

Da mußte Wilhelmintje auch weinen, und so unter allgemeiner Bedrängnis und Rührung, von der selbst Moritz nicht freiblieb, wurde die Kiste verstaut und Jan, laut Tütenpapier, angewiesen, zwei Zuckerhüte, 'nen Sack Kaffee und sonstige Artikel wie: Gewürznägelchen, Talglichter, Reis, Sago, Johannisbrot und spanischen Pfeffer in Retourfracht zu nehmen.

Jan sagte denn auch zu, alles aufs beste besorgen zu wollen, und nachdem ihm hierauf von seiner Frau noch auf die Seele gebunden war, ja keinen »Admiral de Ruyter« mit nach Hause zu bringen, placierte sich Moritz neben ihn, Amalie, Doortje und Sophie zogen an, und fort ging's auf dem Kommunalweg nach Brügge und das gerade in dem Moment, wo die Kirchturmuhr in Sankt Anne langatmig ausholte und acht schlug.

Bernadintje drückte ihr Taschentuch fest gegen die Lippen. Seit ihrer Verlobung war es die erste Trennung gewesen, und wenn sie auch nach menschlichem Ermessen höchstens neun bis zehn Stunden dauern konnte, so kam es ihr doch vor, als hätte sie vor einem Abschied auf Leben und Sterben gestanden.

»So 'n lieber Mensch!« sagte sie traurig.

»Das ist er,« konstatierte Wilhelmintje, »aber diesmal meine ich Jan.«

»Und ich meine Moritz; und hast du wohl gemerkt, Wilhelmintje, was er für 'nen feinen Geruch nach Firnis und Terpentin an sich hat?«

»Das hab' ich,« bestätigte die Gefragte – und die beiden Damen wedelten mit ihren Taschentüchern und riefen: »Adjüs, adjüs!« – und Moritz schwenkte seinen Zylinder, bis die Taschentücher so klein wie Kohlweißlinge wurden und schließlich vergingen.

Aus, nichts mehr! – nur Gottes heilige Morgenfrühe lag wundertätig ob der vlämischen Landschaft. –

Gott! – da saß sie ja selber, die vlämische Landschaft, inmitten der weiten Ebene, und sie saß da als »staatse Myfrouw« mit gefalteten Händen, die einen schöngeblümten Damastrock anhatte, eine warme Genüglichkeit ausströmte und mit einem so recht stillen Behagen in die flache, offene Gegend hinaussah, als wenn sie sagen wollte: »Was habt ihr Menschen denn eigentlich? Ihr kommt ja um in eurer konventionellen Lüge. Eure Flanellseelen fühlen sich nur glücklich, wenn symbolistische Schwärmer mir ein Leids antun und meine derbe, niederländische Gesundheit wie die bizarren Blüten der Orchideen in hohen Gläsern absterben lassen. Alles Unnatur und Verzerrung! – und die neurasthenischen Ganzgroßen halten mich sogar für ein ungebildetes Frauenzimmer, weil ich mal dem braven Paul Potter und David Teniers und den anderen allen auf dem Schoß gesessen habe und mich von ihnen habe abküssen lassen. Aber – Herrgott! – wie schmeckte das prächtig! – Und ihr da, die ihr noch keine Flanellseelen habt, die ihr noch nicht angekränkelt seid von der modernen Wichtigtuerei, die ihr noch eine heilige Lust empfindet, einem ordentlichen Weibsbild um die Taille zu fassen und in ein paar lustige, helle Augen zu blicken – kommt alle her zu mir, setzt euch dicht neben mich und fühlt kindlich, was meine Seele bewegt. Stille, ganz stille!«

Und die staatse Myfrouw in dem schöngeblümten Damastrock und der Goldblechhaube streckte die Hand aus und zeigte auf den seidengrauen Himmel, auf die tiefen Wasser, so tief und ruhig wie abgeklärte Menschenherzen, auf die ferngelegenen Dünen mit ihrem Flimmern und Zittern, auf die scheckigen Flecke, die in der Niederung grasten und so malerisch waren, als hätte sie der große Paul Potter hineingepinselt.

Über das hübsche Gesicht der einsamen Frau zog ein seliger Abglanz.

»Stille, ganz stille!«

Ein feiner Hauch ließ die Pappeln, die den Heerweg begleiteten, fast goldig erscheinen. Ein kaum merkliches Säuseln wehte herüber. Die Heupferdchen geigten. Am Wasser rauschte das Schilf auf, und die große Mühle stakelte altfränkisch durch die weiche Luft und raunte ganz leise: »Kinder, gebt mal acht; jetzt will ich euch eine alte Geschichte erzählen. Es war mal eine Amsterdamer Herbergsfrau, die hieß Sigbrit Willums und hatte eine Tochter, die sich so blank und schön wie ein Täubchen anließ, und daher nannten die Leute sie auch Düweke Willums. Allein schön Düweke war hochfahrigen Sinnes und wollte nur einen Königssohn freien. Und der Königssohn kam, und sie küßte ihn scheu und heiß und drückte ihn selig ans Herz, bis Torden Oxe kam, den sie noch scheuer und heißer küßte und noch seliger an die schneeweiße Brust zog. Die Geschichte aber ging weiter und weiter und wurde immer betrübter, bis sie ein schlimmes Ende nahm, und auf Düwekes Brust drei dunkelrote Blutstropfen standen. Dreimal hatte er zugestoßen. König Kristiern, König Kristiern . . .!« seufzte die alte Mühle, und der laue Morgenwind spielte mit ihrem Segeltuch, und da riefen die Segel: »Düweke, Düweke, Düweke . . .!« – und von Sluis her setzte das Glockenspiel ein und schickte seine Melodien in krausen, verschnörkelten Figuren über das weite Land fort.

»Stille, ganz stille!«

Ja – die schmucke Myfrouw und die große Mühle konnten einem schon wunderselige Dinge erzählen. Das mußte jeder fühlen, das fühlten auch Erasmus und Heinrich vom Hövel, die schon seit geraumer Zeit bei einer Roggenmiete standen und davon gesprochen hatten, wie sich die Zukunft der beiden, die ihnen so sehr ans Herz gewachsen waren, gestalten würde.

»Gebe Gott, daß du dich nicht auch an der da verblutest . . .«

Heinrich vom Hövel lächelte über seine eigenen Worte, die ihm wieder in den Sinn traten. Jetzt glaubte er noch mehr an den Zauber der wundertätigen Hände. Die Vorsehung wendete alles zum Guten. Vergangenes und Gegenwärtiges berührten sich, flossen sanft ineinander – und die tote Maria durfte ihre arme Seele in die Hände nehmen und sagen: Endlich gesundet.

»Ja – endlich gesundet,« sagte er leise, dann legte er Pinsel und Palette beiseite und sprach wiederum auf den Prediger ein, der hochaufgerichtet neben ihm stand und das Sonntägige, das in ihm war und das ihm die Landschaft entgegenwehte, nicht mehr entbehren konnte. Er schien zwiefach beglückt, denn das, was ihn eigenartig bewegte, was ihm die liebe Frau in der Goldblechhaube erzählte, glaubte er auch in dem Bilde zu finden, das Heinrich vom Hövel in festen Meisterstrichen niedergelegt hatte.

Wie groß, wie unendlich . . .!

Er hörte kaum auf die Worte, die neben ihm gesprochen wurden.

Jetzt klangen sie eindringlicher.

Erasmus van Dornick horchte auf.

»Und da glauben Sie . . .?« fragte er schließlich.

»Natürlich, Domine! – Die Sterne fallen nicht einzeln vom Himmel; jeder glückliche Umstand hat ein anderes Glück im Gefolge. Allerdings – man darf dabei keine Maulaffen feilhalten und lange hin- und herüberlegen. Man muß eben zugreifen.«

Erasmus nickte.

»Und die Folgerung aus dieser Prämisse?« fragte er zögernd.

»Ist diese,« sagte Heinrich vom Hövel. »Kaum, daß ihm der gestrige Abend ein herrliches Loos in die Arme führt, kaum, daß er sich darüber klar wird, was ihm eigentlich geschehn, wie da ein Wesen neben ihm steht, das ihn mit seinen großen Liebesflügeln beschattet, schneit ihm auch schon ein anderes Heil in den Schoß, das zwar eine persönliche Aussprache als wünschenswert hinstellt, sein neuestes Werk aber derart bewertet, daß er . . . Na, ich will die Sache nicht ausmalen. Er ist ja an Preise gewöhnt und braucht sich in dieser Hinsicht nicht auf ein Prokrustesbett drücken zu lassen – er kann eben seine Bedingungen stellen, allein das vorliegende Angebot übertrumpft doch alles, was selbst der Allerverwöhnteste . . . Na, und so weiter. Die Sache ist einfach glänzend und kann ihn auf einen der ersten Plätze schieben. Dabei gehört er nicht einmal einer Klique an, die nichts weiter zu tun hat, als ihre eigenen Genies zu prägen und in Kurs zu setzen.«

»Und da sind auch Sie der Ansicht . . .?« warf der Prediger hastig dazwischen.

»Aber natürlich!«

»Und daß er schon heute abreist . . .

»Je eher, je besser! – Immer 'ran an die Ramme! – Was man hat, zählt doppelt. Domine, Sie wissen ja selber – aus Ihrer Pennälerzeit her – wie das klang, wenn der Salamander auf den Tischen gerieben wurde . . . Schmieden, schmieden! – Eins, zwei, drei – los!«

Etwas Leuchtendes war dem Sprecher in die Augen gefahren. Der prächtige Mensch reckte sich auf:

»Auf mit dem Hammer,
Nieder mit ihm;
Schmiedet das Eisen,
Solang es noch warm ist,
Schmiedet das Eisen,
Solang es noch glüht . . .!

So und nicht anders, Domine! – Er muß das Glück beim Wickel fassen. Zugreifen, zugreifen! – Es soll eine Morgengabe für die sein, die seine verzweifelte Seele an sich riß, die ihn wieder zum Menschen machte, ihm den armen Nacken straffte und sagen konnte: Sei doch nicht so furchtbar verzweifelt, denn über dir sind noch die ewigen Sterne.«

»Aber, mein Bester!«

»Ich weiß, ich weiß,« brach es in Heinrich vom Hövel los, »daß Sie das alles in diesem Augenblick nicht fassen können, nicht begreifen können, es sei denn, Sie wären Jahre um Jahre sein Spielgefährte und Vertrauter gewesen.«

Der ganze Mensch bebte vor nervöser Erregung.

»Weiß Gott,« sagte er überzeugt, »ich gehöre nicht zu denen, Domine, die bei jeder Gelegenheit den lieben Herrgott anrufen und seinen Namen im Munde spazieren führen; aber ich habe für ihn gebetet, um Erlösung für ihn gebetet, gebetet wie ein Kind, um ihm die quälende Unruhe aus dem Herzen zu nehmen, wo es sich mit den Fängen eines mächtigen Adlers verkrallt hatte. Er lebte eben wie einer, der das Leben satt hat, aber den Mut besitzt, es nicht von sich zu werfen. Domine, das sind rare Menschen, die so was fertig bringen.«

Er drängte den Mund dichter an das Ohr des Predigers.

»Domine . . .!« – und seine Stimme klang gepreßt und abgehackt – »was ich Ihnen früher schon sagte: Spiegelungen, Spiegelbilder . . .! – die ließen sich nicht so einfach beseitigen. Nichts leichter als das, werden Sie sagen. Man braucht nur aus dem Bereich der spiegelnden Fläche zu treten. Richtig! – aber bei ihm nicht. Dieses Spiegelbild hatte sich in sein Denken und Fühlen, in seine Träume gefressen. Es ließ nicht von ihm; immer war es da: von Jugend an, bis er zum Manne wurde. Auch da noch. – Aus dem lieblichen Mädchenbild war ein wunderbares Frauenbildnis geworden, ein herrliches Weib, das ihn mit der mächtigen Flut des goldenen Haares umhüllen konnte. Wie gerne hätte er die Arme gebreitet! Aber du sollst nicht begehren . . . Domine, du sollst nicht begehren . . .! – Er triumphierte über seine eigene Leidenschaft – und dennoch vergaß er nicht und mußte sie lieben. – Da eines Tages war sie von ihm gegangen. Aber nur körperlich, nicht seelisch, obgleich ihrem Wesenlosen etwas Körperliches anhaftete, das er mit leiblichen Augen zu sehen vermochte. Spiegelungen, Spiegelbilder . . .! – Ihr Odem war bei ihm, sie berührte ihn mit ihren gespenstischen Händen, sie sprach mit ihm und drückte ihren Mund auf seine Lippen . . . Wie ein Verzweifelter jagte er diesem Traumbild nach. Er war eben gezwungen eine Tote zu lieben.«

Heinrich vom Hövel suchte nach Atem. Es mußte ihm vom Herzen herunter. Es war eine Stimmung in ihm, die ihn an den Klang von Osterglocken erinnerte.

»Domine,« sagte er jubelnd, »da eines Tages erwachte die Tote . . .«

»Aber ich bitte Sie, Meister . . .

Heinrich vom Hövel sah ihm fest in die Augen.

»Es war Anna van Dornick.«

Tiefes Schweigen folgte.

Erasmus verstand. Verloren sah er ins Land hin. War der Tau, der noch auf Bäumen und Gräsern haftete, auf ihn übergegangen? Es schimmerte feucht in seinen Augen. Langsam schlossen sie sich. Er faltete die Hände zum Gebet. Auch er vermeinte ferne Osterglocken zu hören – und dennoch waren Trauerglocken dazwischen. Mußte er nicht die Sonde an verflossene Tage legen? Gebot ihm nicht die Pflicht, in bange, dunkle Stunden hineinzuleuchten?

Er fand keine Antwort darauf, wenigstens jetzt nicht.

»Amen« sagte er mit verhaltener Stimme. – – –

Fast um dieselbe Stunde trat Anna van Dornick aus dem Schlafgemach in das Zimmer, das auf die Dorfstraße hinausführte. In ihrem weichen, weißen Morgengewand erschien sie in ihrer ganzen jungfräulichen Schönheit. Ihr loses Haar bedeckte den Rücken, lief in schweren Massen, wie ein goldenes Vlies, bis zu den Knien.

Leichten Schrittes ging sie dem geöffneten Fenster zu. Als sie ins Sonnenlicht trat, wurde sie von einem intensiven, fast metallischen Glanz umwoben, und tief aufatmend streckte sie dem allbelebenden Licht ihre Hände entgegen.

 


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