Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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Wilhelmintje Bottertje stand hinter der Theke, wo sie ihre verspäteten Kunden bediente, die noch Kandiszucker und Zichorienkaffee für den anderen Morgen einkauften, als Klaas Buhle eintrat, ein kleines Geldstück auf die Anrichte legte und eine doppelte Portion Genever verlangte.

»Aber, Seelenmensch, bei die heißen Sommertage . . .

»'ne doppelte Portion, Wilhelmintje,« dekretierte er ruhig, »ich muß Aufmunterung haben.«

»Wieso?« fragte das appetitliche Weibchen.

»'ne arme Seele ist bei mir,« sagte er heimlich und deutete mit seinem borkenrissigen Daumen über die Schulter. »Da kuckt sie durchs Fenster.«

»'ne frohe oder 'ne traurige Seele?«

»'ne traurige,« gab er zurück und schlug ungeduldig mit seiner harten Hand auf die Theke. »Nu aber vorwärts! – 'ne doppelte Portion, Wilhelmintje.«

Da gab sie ihm das Verlangte.

»Hu!« sagte Klaas Buhle, wippte den wasserhellen Inhalt der beiden Gläschen herunter, knipste eine Kerze von seinem Lichterkranz los, zog den Docht in die Höhe und entzündete ihn mit einem Schwefelholz, das er an seinem teerigen Hosenboden angesteckt hatte.

»Adjüs,« sagte er hastig, machte noch eine Bewegung, als wenn er umkehren wollte, tat es aber nicht, sondern ging mit der brennenden Kerze ins Freie.

»Wo er nur hingeht?« grübelte Wilhelmintje. Zu gerne wäre sie ihm gefolgt, um seinen heimlichen Gang zu belauschen, nahm jedoch Abstand davon, weil unaufhörlich die Klingel ertönte, und neue Kunden erschienen, die sie bedienen mußte. So blieb sie denn und hantierte geschäftig hinter ihrer properen Anrichte, auf der das Klappern der Kupfer- und kleinen Silbermünzen nicht aufhören wollte.

Indessen stakelte der Seelenmensch durch das fahle Mondlicht, das die schmale Sichel über die Straße spreitete. Mit der rechten Hand schirmte er die brennende Kerze und redete unverständliche Worte in sich hinein, unbekümmert um die Menschen, die ihm begegneten. Ab und zu blickte er rückwärts, gleichsam um sich zu vergewissern, ob ihm das Wesen, das er in seiner Begleitung wähnte, auch folge. Langsam und tief atmete er dabei die Luft ein, die von den Dünen wehte. Aus den Tümpeln der nahegelegenen Wiesen klang das Quaken der Frösche herüber.

Nach dreißig ruhigen Schritten erreichte er das khakifarbige Häuschen, dessen Eingang die beiden Oleanderbäume flankierten.

Bei van Dornicks war Licht, und zu ebener Erde war auch Licht.

Er drehte sich wieder.

»Gottverdomie!« sagte er unwillig. »Hiergeblieben – oder du sollst die ewige Ruhe nicht haben.«

Er sprach so energisch, als hätte es einem störrischen Hunde gegolten.

»So ist's gut,« sagte er schließlich.

Hierauf putzte er die Schnuppe von der Kerze herunter, reckte sich auf und trat mit einem tiefen Seufzer über die Schwelle des vereinsamten Häuschens.

Hinter ihm geisterte das Mondlicht weiter und spann silberne Fäden. –

Bernadintje und Moritz Dütz-Josum saßen Hand in Hand auf dem gemütlichen Sofa, ganz durchdrungen von innerem Behagen, das sie scheinbar in eine bessere Welt emporhob, wo sich pausbackige Engel auf rötlich angehauchten Abendwolken ergötzten, Ringelreiherosenkranz spielten und frischgebackene Apfeltörtchen verzehrten. Dann begaben sie sich wieder zur Erde, schlenderten Arm in Arm ihrem verschnörkelten Liebesgarten zu, in welchem sich all die verschwiegenen Lauben befanden, die dicken Rosen und die blühenden Beete, bis sie schließlich auf den Einfall kamen, auch einen kleinen Abstecher in ihren Gemüsegarten zu machen, den Moritz mit den mächtigsten Kohlköpfen, dem feinsten Endiviensalat und sonstigem Gemüse der Neuzeit bestellt hatte – und da lagen sie alle: die wohlgepflegten Rabatten mit den eingefaßten Kieswegen dazwischen, übergossen von dem milden Licht einer Rübsenöllampe und verschönt durch die Anwesenheit eines porzellanenen Kanarienvogels, der leider nicht zu singen vermochte. Vor der allerlängsten Rabatte blieben sie stehen, und Bernadintje machte gerade Anstalten, einen dicken, fetten, violettköpfigen Zukunftsspargel aus dem warmen Erdreich zu heben, während Moritz ihn schon, in wellendem Wasser abgekocht und mit einer delikaten Buttersauce angerichtet, auf einer blendendweißen Assiette vor sich liegen sah – er brauchte ihn nur noch zu schnabulieren . . . als etliche Male gegen die Stubentür geklopft wurde.

Das war kein gewöhnliches Klopfen, nein, das war kein gewöhnliches Klopfen! Eine Hand, die sich mit überirdischen Dingen beschäftigte, mußte angeklopft haben.

»Nanu!« sagte denn auch Moritz Dütz-Josum, sah etwas befangen auf sein stattliches Bräutchen und ließ den schön abgekochten Zukunftsspargel, den er bereits zum Munde geführt hatte, auf den Teller zurückgleiten.

Bernadintje erhob sich.

»Angtree!« rief sie hastig.

Da klinkte die Tür aus. Ein mattes Kerzenlicht kämpfte gegen den rosigen Schein der Lampe an. Die beiden aufgestöberten Menschen hatten das Gefühl von dem Eindringen eines eisigen Lufthauches. Mit ihm trat Klaas Buhle in seiner ganzen Länge ins Zimmer.

Noch einmal sah er zurück.

»Hierher!« sagte er in befehlendem Ton; dann schloß er wieder die Tür.

Als Bernadintje ihn so mit der brennenden Kerze erblickte, gefiel sie sich in seiner eigenen Sprechweise und fragte: »Rum oder Arrak gefällig?«

Sie verstummte jedoch vor dem feierlichen Wesen Klaas Buhles, der gemessen näher trat und das Talglicht in den Hals einer Flasche hineinschob, die Moritz kurz zuvor auf das Wohl seiner Coeurdame geleert hatte.

»Hierher!«

Fröstelnd hielt er die Hände gegen die Kerzenflamme, als habe er es mit einer grimmigen Silvesterkälte zu tun, die das dunstige Wasser an den Fensterscheiben gefrieren ließ. Seine Blicke bewegten sich wie auf Fledermausflügeln.

Jetzt begann es auch Bernadintje zu grausen.

»Was los?« fragte sie ängstlich.

»Er ist tot,« sagte der Eindringling, »und seine Seele ist bei mir. Da steht sie.«

Er zeigte mit seinem breiten Daumen über die Schulter.

»Was für 'ne Seele?«

Unbeweglich stierte Bernadintje auf das knisternde Licht und dann wieder auf Klaas Buhle und dann wieder auf Moritz Dütz-Josum.

Klaas Buhle aber fuhr sich mit der Hand über den harten Bartkranz, der sich von Ohrläppchen zu Ohrläppchen hinzog, und sagte: »Madam Bernadintje, die Sache ist also. Er hatte kein Glück in die Welt; sein Lebensboot war ganz erbärmlich kalfatert, aber dennoch und trotzdem ging er mit 'nem auserwählten Stück von Fraumensch davon, das er später heiratete, obgleich er wußte, daß sie 'ne ›Teef‹ war.«

Bernadintje fing an zu begreifen.

»Man weiter,« sagte sie tonlos.

»In Amsterdam taten sie 'ne Tapperij auf – Genever und Schiedamer. Das Weibsbild servierte, sah dabei aber zu tief in zwei Schersantenaugen hinein – und da eines Tages . . . das Fraumensch war mit dem doppelten Tuch in die Kolonien gegangen. Da fuhr ihm etwas in die Hand hinein, was man das ewige Gericht nennt, kaufte sich bei einem Ostindienfahrer ein und ging an Deck, um dem Weib die Faust unter die Nase zu halten. So segelte er denn mit seiner Wut gegen India, wo die Paradiesvögel singen. Er war aber noch nicht in den Südpassat und in das Heiße Wasser gekommen, da kriegte er ein steifes Gesicht.«

»Wer sagt das?«

Bernadintje mußte sich an der Tischkante festhalten.

»Wer das sagt?« fragte der Seelenmensch. »Der Knasterbart. Er war mit auf dem Ostindienfahrer, kam gestern zurück und tut jetzt Dienst auf dem Feuerschiff, weil der zweite Matrose den Raptus bekam und es nicht mehr aushalten konnte. Der Knasterbart ist in seine Stelle eingerückt und hat vor 'nem halben Jahr gesehen, wie der andere auf dem Ostindienfahrer 'ne steife Visage machte. Es war alle mit ihm; sie taten ihn auf ein Brett und ließen ihn schwimmen.«

»Was heißt das?«

Zwei entsetzte Augen waren auf Klaas Buhle gerichtet.

Da spreizte er alle zehn Finger und sagte: »Ich bringe den Tod.«

»Basilius . . .?!« schrie Bernadintje auf.

»Jawoll – und seine Seele ist bei mir.«

Einige Augenblicke herrschte tiefes Schweigen, dann schluchzte Bernadintje auf, strich sich etliche Male über die Schürze und sagte: »Moritz, er hat kein schlechtes Herz gehabt, aber sein Herz ist in schlechte Hände gekommen. Das war es. Gott sei uns allen gnädig.«

Dann weinte sie still vor sich hin.

Moritz umfaßte sie zärtlich.

»Seelenmensch, das hättet ihr der Ärmsten ersparen können.«

»Warum?« fragte dieser.

»Laß ihn man, Moritz,« fiel Bernadintje jetzt vollkommen ruhig dazwischen, obgleich ihr abermals heiße Tränen über die Wangen rannen, »er hat es ja gut gemeint.«

»Hab' ich,« sagte Klaas Buhle, »und ich wollte seine arme Seele man hier präsentieren. Nu, wo ich's getan habe, kann ich ja gehn. Aber ich nehme sie wieder mit und setze sie hin, wohin sie gehört – aufs Wasser.«

Gleichzeitig hatte er die Kerze gelöscht und den Talgstumpf in die Hosentasche gesteckt, wiewackte dem kleinen Spiegel zu, der sich an der Längsseite des Zimmers befand und wischte dreimal mit seinem teerigen Ärmel über die glashelle Fläche.

»Es ist man deswegen,« sagte er wehleidig, »daß sie in den Spiegel gekuckt hat. Das können nicht mal die besten Kajütenspiegels vertragen. – Bernadintje, das bin ich mir und dir gegenüber schuldig gewesen. Adjüs denn!« – und damit ging er hinaus, hinaus in den Abend, und die beiden, die zurückblieben, hörten zu, wie der Hall seiner breiten Schritte immer dünner wurde, bis er schließlich gänzlich verstummte.

Die Luft machte Musik, und die Talgkerzen klapperten leise zusammen. Die helle Mondsichel stand über ihm, und die arme Seele, die neben ihm ging, erzählte mit weicher Stimme, was in Amsterdam und auf dem großen Ostindienfahrer alles passiert war. Sie erzählte so traurig und sagte endlich: »Ach, wäre ich doch in Sankt Anne und bei Bernadintje geblieben!« Er wähnte den seligen Basilius Bottertje noch unter den Lebenden, so deutlich und bestimmt klangen ihm die geflüsterten Worte zu. Die Gräser rauschten dazwischen, desgleichen die Weidenbäume, die mit ihrem zitterigen Glanz ihn fast bis zum Meer begleiteten. Nach stündigem Marsch kam er auf die Dünen. Ein dumpfes Brausen empfing ihn. Phosphorblaue Schaumstreifen rollten gegen ihn an.

Alles groß und unendlich!

Der Seelenmensch legte die Hände zusammen.

Er fühlte die Nähe der ewigen Gottheit. Sie war neben ihm, sie war auf den Wassern – und wie von ihrem Brandaltar flog das helle Feuer von Walcheren durch die sternklare Nacht hin. – – –

Anna van Dornick schrieb bis spät in die Nacht hinein. In langen, nervösen Schriftzügen reihte sie ihre Gedanken nebeneinander. Bald zögernd, bald in hastiger Eile rangen sich die Einzelheiten von ihrem bekümmerten Herzen herunter. Selbstquälerisch sah sie dabei vergangenen Dingen ins Auge, die voller Anklage waren. Ein Hauch schmerzlicher Erinnerung wehte aus den ängstlichen Zeilen. Noch einmal durchlebte sie die verhängnisvollen Augenblicke in der Liebfrauenkirche in Brügge. Sie festigten ihren Willen, ihr Vorhaben. Es mußte ein Ende gemacht werden. Unerbittlich setzte sie Zeile neben Zeile. Sie mußte aus der Sünde heraus, um das Licht der Erkenntnis genießen zu können. Ihr ganzes Empfinden drängte nach glücklichen Bahnen. Das war der Zweck ihres Briefes. Morgen sollte er abgehn. Während des Schreibens fühlte sie die traurigen und dennoch gebieterischen Blicke ihres Vaters auf sich gerichtet. Wie hatten doch seine Worte gelautet? – Du sollst nicht begehren . . . Du wußtest doch, daß er ein verheirateter Mann war . . . und dann noch die Anrufung der Verstorbenen . . . So ähnlich war es; so und nicht anders hatte ihr Vater gesprochen. – Sie schwankte. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde gewesen, dann schrieb sie wieder in fieberhafter Eile, ohne Aufhören, unermüdlich, mit heißer Sehnsucht die kommenden Tage umfassend.

Andere Bilder standen am Himmel, als sie die Feder beiseite legte. Sie konnte nicht weiter. Der Schluß fehlte noch, aber sie konnte nicht weiter. Ein dumpfes, zwingendes Gefühl stieg in ihr auf. In ihrer Bedrängnis machte sie die Wahmehmung, daß ihre Liebe zur Leidenschaft auswuchs; es galt nicht dem, dem sie schrieb, sondern dem andern, um dessentwillen sie ihre Gedanken niedergelegt hatte. Sie glaubte sich vom Schicksal betrogen. Sie hätte Hand an sich legen können. In flüchtiger Hast durchlief sie die geschriebenen Zeilen. Sie stammelte einzelne Worte, einzelne Sätze. Inmitten des Briefes aber begann sie deutlich zu sprechen.

»Ich sehe Fußspuren,« sagte sie leise, »die vom festen Lande abwichen und uns in die Irre hineinführten. Ich sehe sie heute eben so deutlich wie damals, als wir unserer Pflicht nicht gedachten. Ich begreife mich nicht, wenn ich das alles bedenke. Eine andere Empfindungswelt hat sich mir erschlossen. Du weißt ja selber, wie es um uns steht. Damals, vor Jahren, gingen wir durch Sünde in Seligkeit ein. Es war nur eine kurze, bange Stunde, aber ich habe doch an Deinem Munde gehangen, unbekümmert darum, was die Zukunft uns bringen würde. Du versprachst einen entscheidenden Schritt zu tun. Ich schätze mich heute glücklich, daß er nicht geschah. Sie ist darüber gestorben; ob unsertwegen, ob aus einem anderen Grunde – das zu beurteilen, muß ich Dir überlassen. Du sagtest allerdings, sie sei unbefangen geblieben. Ich hoffe zu Gott, daß es so ist, denn wenn es nicht so wäre, ich wüßte nicht mehr, was ich anfangen sollte. Dennoch stehe ich vor einem unergründbaren Rätsel, das mich ständig mit seinen halbverschleierten Augen ansieht – und diese Augen sind furchtbar. Ich habe mich im Laufe der Zeit damit abgefunden, wie man sich an das unheimliche Walten einer schleichenden Krankheit gewöhnt, die unerbittlich ihrer zerstörenden Arbeit nachgeht, um schließlich mit einem triumphierenden Hohn ihre Frucht einzuheimsen. Ich weiß, Du wirst lächeln und mich töricht schelten. Ich sehe Dich lächeln – ja, ich sehe Dich ungläubig lächeln. Du wirst mir sagen: Wir gehören zusammen. Du wirst mir bedeuten, daß man nicht Menschenherzen gleich Blumen vom Wege pflückt, um sie dann achtlos von sich zu werfen. Ich verstehe das alles – aber ich kann die Blicke der Verstorbenen nicht los werden. Ich habe den Mut nicht, mit der ganzen Entschiedenheit eines reinen und abgeklärten Willens vor mein Gelöbnis zu treten. Und dann: es hat sich inzwischen vieles geändert. Um Dir dies klar zu machen, müßte ich mein inneres Leben, meine qualvoll durchwachten Stunden vor Dir ausbreiten. Ich müßte meine geheimsten Regungen sezieren. Du hast ein Recht darauf – wirst Du sagen. Ich zweifle nicht daran, aber ich habe das Gefühl, als schöben sich Welten zwischen uns, als wäre die Tote mächtiger, furchtbarer geworden. Nicht dieses allein! – da ist noch etwas anderes, was mich zwingt, diese Zeilen niederzulegen, wenn mir auch die Reinheit der Seele fehlt, dorthin den Fuß zu setzen, wo die Schuldlosen weilen. Es ist etwas anderes um eine keusche und etwas anderes um eine sündige Liebe. – Du wirst mich begreifen. Mache alles ungeschehen. Wir wollen Freunde bleiben, herzinnige Freunde – aber ich flehe Dich an, die stillen, toten und doch so furchtbaren Augen von mir zu nehmen . . .«

Mit einem verhaltenen Schrei stierte sie auf die kalten, hastigen Schriftzüge. Sie gaben das nicht wieder, was sie eigentlich sagen wollte und mußte. Sie gaben die herzzerreißende Verzweiflung eines gehetzten Menschen, wie sie war, nicht wieder. Das mußte sie anders fassen, vertiefen; das sah schal und leer aus und war nicht mit dem richtigen Herzblut geschrieben. Er würde sie überhaupt nicht verstehen. Sie war hierdurch keinen Schritt weiter gekommen. Sie mußte die Last von ihren Schultern herunterwälzen, um sich von der Weihe des Friedens berühren zu lassen, über die Schwelle des Paradieses gehen nur solche, die keine Reue mehr spüren. Ein Glanz der Freude war um sie ausgelegt, allein sie bezweifelte, diesen Glanz ertragen zu können. Sie wurde geblendet.

Mit nervösen Händen zerknittete sie die engbeschriebenen Bogen und steckte sie zu sich.

Dann trat sie ans Fenster.

Der tiefe Osten gürtete sich bereits mit mattgrünen Streifen, die Ähnlichkeit mit Grasschwaden zeigten. Sie sah lange in das kalte, resedagrüne Licht, das nicht stärker wurde und nicht an Ausdehnung zunahm.

Angekleidet warf sie sich auf die weißen Kissen. Sie suchte den Schlaf und fand ihn endlich. Aber es war kein Schlaf, den sie nötig hatte. Es war ein Begegnen mit dem, dessen gefährliche Nähe sie schon seit Wochen von sich abzuwehren suchte. Die dunkle Vorstellung von dem, was sie mit durstiger Leidenschaft herbeisehnte, verwirklichte sich im verzehrenden Traum. Ihr Kopf war rückwärts gesunken. In bräutlicher Verwirrung hingen ihre und seine Lippen zusammen. – Sie sind am Strande. Das Meer rauscht herauf. Tage und Nächte vergehen. Aneinandergeschmiegt schreiten sie weiter. Vom bleichen Horizont her winkt es mit duftigen Schleiern.

»Willst du mir folgen?«

»Ja.«

»Wohin ich auch gehe?«

»Ja, wohin du auch gehn wirst.«

Eine weiße Linie liegt vor ihnen, die die Ewigkeit, das Unendliche abgrenzt. Unbekümmert um sich und die Welt, schreiten sie dem Meere zu – und von hier über die Wogen der weißen Linie entgegen, hinter der es aufleuchtet, als wäre es das Licht der Verheißung gewesen.

Und dann kam das Erwachen.

Das Licht brannte noch immer.

Mit wehen Blicken sah sie in den Morgen hinein.

Er stieg immer höher, verwob seine Strahlen mit dem goldenen Korn, das noch auf den Feldern stand und vereinte sich mit dem Blinken der Sensen, die, weitausgeholt von kräftigen Armen, die Halme mit ihren ausgereiften Ähren zu Boden legten. Ein warmer, erquickender Regen war in der ersten Frühe niedergekommen. Myriaden Funken hingen an Bäumen und Gräsern und glitzerten in den jungen Tag hinein, dessen Antlitz wieder so sonnig lächelte, als wären noch kurz zuvor keine Schatten über seine Stirne gegangen. Ein kräftiger Geruch nach Ackerkrume und geworfenem Getreide deckte die Erde. Eine bewegungslose Ruhe, die sich bis über den Mittag hinzog, lag zwischen dem Meer und Sankt Anne ter Muiden. Erst in den späteren Nachmittagsstunden fältelte ein lauer Windhauch die Zweige der Bäume sacht auseinander. Sattere Farben hüllten die Gegenstände ein, die Fernen gaben sich klarer, bestimmter; die Dünen schienen näher zu rücken, zeichneten sich schärfer gegen den Himmel ab, obgleich ihn schon rosige, hingehauchte Federwölkchen träumerischer machten.

Jetzt erst kam Anna van Dornick zu rechter Besinnung. Noch unschlüssig darüber, was sie tun sollte, waren ihr die langsamen Stunden wie Ewigkeiten erschienen. Sie dachte an das, was gestern abend passiert war. Hilflos fühlte sie sich in seine Hände gegeben. Sie stand vor einem bangen Ereignis, vor einer gebieterischen Vorherbestimmung, der sie nicht zu entrinnen vermochte. Sie fieberte. Das zusammengeknitterte Schreiben, das sie noch bei sich trug, brannte wie Feuer. – Wenn sie nicht ginge . . .! – allein sie befand sich in einer rasenden Trift, die kein Halten mehr zuließ, je mehr sie sich anstrengte, aus dem Bereich des gefährlichen Wassers zu kommen.

Die ihr gegenüberliegende Turmuhr holte zum Schlag aus.

»Halb sechs,« sagte Anna van Dornick.

Jetzt hätte sie die Zeit aufhalten mögen. Es war zu spät. Die Minuten kamen ihr vor, als nähmen sie Sturmschritt an.

Es schlug ein Viertel . . . es schlug sechs Uhr auf der kleinen Dorfkirche von Sankt Anne ter Muiden.

Gleich mahnenden Stimmen verzitterten die einzelnen Schläge. Sie hallten in ihrem Herzen nach. Sie hörte sie noch, als sie schon längst nicht mehr waren. Sie glaubte den Turmgeist zu sehen, wie er hoch oben auf der Zinne stand und die einzelnen Schläge immer und immer wieder in die weite Ebene hinausrief. Es war kein Irrtum; sie hörte es deutlich: von den weitgelegenen Dünen kamen sie scharf zurück, um sich abermals in verstärkter Weise seewärts zu kehren. Der Turmgeist ließ sich nicht stören. Unermüdlich schaffte seine eherne Stimme. Sie lockte und warnte. Sie ähnelte dem Ruf des letzten Gerichtes.

Einzelne Leute gingen unten vorüber.

Sie trat vom Fenster zurück, als fürchtete sie, die Menschen könnten ihre innersten Gedanken erraten.

Sie war wie betäubt.

Noch einmal forschte sie in dem gestern abend Durchlebten. Es waren nur wenige Augenblicke gewesen, allein diese Augenblicke geboten ihr, sich in die Arme des Unabänderlichen zu werfen. Sie hatte ihr Jawort gegeben. Sie durfte nicht wortbrüchig werden. Sie mußte. Noch einmal bäumte sich ihr Inneres dagegen auf.

Der Turmgeist lockte und warnte.

Wem sollte sie folgen?

Sie bangte vor einer unmittelbaren Gefahr, die sie mit klaren, nüchternen Sinnen erkannte. Sie wußte: sie ging einer heißen Sehnsucht und einer großen Liebe, aber auch ihrem Verderben entgegen.

Das wußte sie totensicher.

Und sie ging doch. – – –

Dicht am Meer erhob sich der Leuchtturm von Knocke. Mit dem Tram, der von Sankt Anne über Westkapelle nach dort führte, war er nach kurzer Fahrt zu erreichen. Noch stierte seine mächtige Leuchthaube glanzlos, ein abgestorbenes Auge, der untergehenden Sonne nach, die auf dem toten Wasser zu schwimmen schien. Die violetten Dünste des sinkenden Tages ließen sie allmählich undeutlicher werden. Aber selbst dann noch wollte die intensive Helle, die den Sommertagen anhaftet, nicht an Tiefe verlieren, dem Erlebten während der Tagesstunden vergleichbar, das, vom Traume aufgenommen, sich inniger und verklärter ausspinnt. Ein warmes Licht spreitete sich über die wenigen Hotels und Villen am Strande.

Alles ruhte in einer unendlichen Klarheit.

Allmählich legte sich der Abend über den kleinen Badeort. Das Treiben auf dem nicht großen Promenadenweg ebbte zurück. Langanhaltende Gongschläge riefen auch die letzten Spaziergänger zu Tisch.

Nur einer blieb übrig. Seit einer Stunde wartete er am Fuße des Leuchtturms. Er horchte auf die dumpfe Sprache des Wassers, das kaum Bewegung zeigte.

Noch in deutlicher Sehweite ruhte das Feuerschiff zwischen Himmel und Wasser. Hinter der Küste von Walcheren wurde eine dunkle Fläche sichtbar. Sie schien im Vormarsch begriffen. Von dorther kam auch eine leise Brise herauf. Das Meer schlief noch, ein sanftes Kind, dem Arges unbekannt war und in dessen Auge der Himmel wohnte. Und dennoch lief ein ungewisses Bangen zwischen Dämmerung und Abend. Silberweiße Möwen legten sich quer vor den Wind und flogen unsicher die dunkle Wand an, die immer weiter vorkroch.

Er hatte keine Ruhe mehr.

Vom Leuchtschiff her blinzelte schon ein mattes Licht durch den Abend.

Mit aufgerissenen Blicken verfolgte er die lange Straße, die zur Station führte.

Er spähte vergebens.

Sie kam nicht.

Brütend ging er auf und ab. Er zählte die Klinker, die den Bord der Straße begleiteten, um seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.

Sein Herz klopfte hörbar.

Und sie kam nicht.

Da ergriff ihn eine plötzliche Angst. Er wandte sich und ging mit erregten Schritten den Dünen zu, von der vagen Hoffnung beseelt, sie am Strande zu finden.

Hastig, den Blick zu Boden gerichtet, irrte sein Fuß über den knirschenden Sand fort.

Der Wind war stärker geworden.

Jetzt stockte sein Atem. Ein seltsamer Hauch wehte ihn an, derselbe Hauch aus der Liebfrauenkirche zu Brügge . . . und gestern war sie wirklich erschienen.

Der weite Strand lag in Stille. Nur die Stimme des Meeres erhob sich.

Die Augen noch immer zu Boden gerichtet, suchte er die Entscheidung hinzuhalten, in die Länge zu ziehen. Würde sie seinem Rufe folgen? Es war ein schmerzlicher Rausch für ihn, sich selber im Ungewissen zu lassen. Die herbe Enttäuschung konnte für ihn noch immer früh genug kommen. In Gedanken wollte er die Begegnung erzwingen. Er blickte nicht auf, aber eine schmerzliche Sehnsucht zeigte sie ihm, wie sie ängstlich durch das eingedämmerte Land ging. Er sah ihre hohe Gestalt. Der Saum ihres Kleides streifte die salzigen Gräser, die unter der leichten Berührung in ein heimliches Flüstern gerieten. Er beneidete sie darum; er beneidete den rieselnden Sand, der unter dem sanften Druck ihrer Füße dahinglitt.

Wie von einer magnetischen Kraft angezogen, fand er sich bald bei den ersten Dünengruppen. Mächtig, fast unvermittelt stiegen sie aufwärts. Bläuliche Disteln umklammerten ihre gebleichten Sandrippen, zogen sich quer nach oben, um von hier aus an den steilen Flanken abwärts zu kriechen.

Wiederum glaubte er den Odem des geliebten Weibes zu spüren.

Da hielt's ihn nicht länger.

Mit einem heftigen Ruck warf er den Kopf zurück.

Eine heiße Blutwelle stieg in ihm auf.

Da stand sie . . .

Eine todbange Einsamkeit lag um sie her. Ihre hohe Gestalt, die der Antike nachgebildet schien, hob sich deutlich gegen die fahle Wetterwand ab, die immer bedrohlicher über Walcheren heraufstieg. Ihr dunkler Schleier wehte gegen das Meer an.

»Also doch!« kam es von seinen zuckenden Lippen.

Sie mußte ihn längst gesehen haben. Ihr bleiches Gesicht war starr auf ihn gerichtet.

Mit geschlossenen Füßen schien sie vorwärts zu gehen. Unabänderlich, unwiderstehlich, einem dämonischen Zwange gehorchend, kam sie näher und näher.

Jetzt erkannte er ihre vergrämten Züge.

Mit einem wilden Satz war er bei ihr.

»Anna . . .

Seiner selbst nicht mehr Herr, hatte er ihre Hände ergriffen.

Sie wehrte ihn ab.

»Wenn uns jemand sähe . . .«

»Du . . .!« sagte er heiser. »Mögen sie kommen.«

Er erschauerte vor der starren Ruhe, die sich ihrem Antlitz aufgeprägt hatte. Ihre Blicke weiteten sich – wie im Entsetzen. Da fühlte er die Reinheit des Weibes, die ihm gebot, von ihr zu lassen.

War das Täuschung gewesen?

Bitterkeit stieg in ihm auf.

Unnahbar stand sie neben ihm. Ihre Atemzüge berührten sich; aber er wagte nicht mehr ihre Hände zu fassen.

Wortlos gingen sie nebeneinander. Wortlos, ohne Verabredung, dem gebieterischen Zuge ihres Herzens folgend, schlugen sie den Weg ein, den sie schon einmal gegangen waren. Kaum vierzehn Tage waren seit jener Stunde verflossen. Sie gingen landeinwärts.

Vom Strande her kam ein dumpfes Murren und Rollen. Die fahlumsäumte Wetterwand bäumte sich höher und streckte fünf Finger gen Himmel. Sie hatten nicht acht darauf. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Die glasharten Ähren des Strandhafers raschelten unter ihnen. Stetig ging es bergan. Jetzt waren sie oben. Hier hatten sie schon einmal gestanden. Sie befanden sich auf der nämlichen Stelle.

Verstört sahen sie über das unruhige Meer fort.

Kurze, bange Minuten. Sie sprachen nicht. Noch lag etwas zwischen ihnen, das sie trennte, das ihre Herzen nicht auslösen konnte.

Der Wind war härter geworden. Mit elementarer Gewalt schlug er seine Schwingen um sie, zerrte ihren Schleier auseinander, ballte ihn wieder, um ihn dann schlangenartig um seine Schultern zu legen, gleichsam, als sei er gewillt, die beiden sprachlosen Menschen aneinander zu fesseln.

Und da unten – zu ihren Füßen . . .!

Er begriff schon: genau so sah es in seinem Inneren aus.

Das Meer war kein Kind mehr, das mit zierlichen Muscheln spielte und ungelenke Figuren in den Sand schrieb. Sturm rüttelte seine weiten Tiefen auf. Es wurde zum Mann, den ein wildes Herzeleid packte. Es ging über den Strand fort, es grapste mit Gebrüll in die Dünen, raste zurück und warf Schaumfetzen mit heiserem Gelächter über Wogen und Land hin. Hei, wie das tönte und lachte . . .!

Er begriff das alles. Er hatte lange genug die dumpfe, unheimliche Last mit sich herumgetragen. Jetzt war die Stunde gekommen, sie von sich zu werfen, sein Herzeleid in alle Welt hinauszuschreien. Lieber verderben, als noch fernerhin im Ungewissen herumtappen. Es mußte ein Ende gemacht werden.

Finster, gebietend trat er dicht an ihre Seite. Seine Arme hoben sich langsam.

Eine plötzliche Angst faßte sie an. Vor der Größe des Augenblicks schienen ihre Kräfte zu schwinden. Sie sah, wie die verhaltene Leidenschaft in ihm ausbrechen wollte. Sie mußte fort, bevor es zur Katastrophe kam. So hatte sie sich das Begegnen nicht gedacht. Sie wollte aus seiner gefährlichen Nähe . . .

Es war zu spät.

Er hatte sie an sich gerissen. Das Meer und die Stimme der drohenden Wand, die fast den halben Himmel bedeckte, verschlangen ihr verzweifeltes Aufstöhnen. Aber das Meer und das ferne Donnern, das darüber hinrollte, hatten seiner Stimme nichts an.

»Fühlst du denn nicht, was in mir vorgeht?« fragte er keuchend. »Das mußt du fühlen. Versuche doch, dir es begreiflich zu machen. Ich trage es mit mir herum. Es ist bei mir, wo ich auch sein mag. Ohne dich habe ich nichts auf der Welt; ich stehe allein in der Welt. Das bißchen Ruhm, das mir anklebt, kann doch das Verlangen meiner heißen Seele nicht wett machen. Ich blase es fort, ich gebe es dem Sturm preis, wenn ich dafür deine Liebe gewinne. Ich wurzle auf ihr – dicht neben dem Abgrund. Ich klammere mich an sie, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Sei doch barmherzig und nimm mir nicht den letzten Halt unter den Füßen!«

Mit einem rauh ausgestoßenen Laut brach er plötzlich ab. Er erschrak vor seinen eigenen Worten. Tastend hatte er ihre Schläfen umgriffen.

»Willst du . . .

Sie gab keine Antwort, sie rührte sich nicht – sie stand neben ihm, als wenn ein ehernes Bildnis neben ihm stände. Nur mechanisch, von einer wesenlosen Kraft in Bewegung gesetzt, schüttelte sie den Kopf, als wenn sie ›nein‹ sagen wollte.

»Also du willst nicht?«

Da kam Leben in sie. Beide Arme stemmte sie gegen ihn. Ihr Körper beugte sich rückwärts.

»Nein,« kam es hart von ihren Lippen herunter.

Das traf.

Es zerriß ihm die Brust, es packte mit brutaler Faust in sein geträumtes Glück hinein, zerfetzte es, wie der Sturm die Rose zerflattert. Dieses ›nein‹ grub sich in seine Züge, krampfte ihm die Kehle zusammen. Und bei der, die das sagen konnte, hatte er noch soeben um Liebe und Mitleid gebettelt?! Er kam sich verächtlich, von der Welt ausgestoßen vor. Sie hatte nur ihr frevelhaftes Spiel mit ihm getrieben. Alles hohl, töricht und leer! – und diese Erkenntnis machte ihn zu einem anderen Menschen. Er wollte nicht mehr der Verzweifelte sein, der Bitter und Bettler, der gekommen war, um sich von der Majestät des Weibes erniedrigen zu lassen. Die Majestät mußte herunter.

Mit festem Griff nahm er ihre Hände und drückte sie nieder. Sein Gesicht war kreidig geworden. Sie bäumte sich unter der Gewalt des unseligen Mannes.

»Du willst nicht?!« keuchte er sinnlos. »Du bist also nur gekommen, um mich an den Abgrund zu zerren, um mir dieses entsetzliche ›nein‹ in die Ohren zu rufen? – Warum denn sonst?!«

Er lachte wie ein Betrogener auf, dem das Schicksal grimmig auf die Schulter klopft und sagt: Du hast nichts mehr zu hoffen – du Narr, du.

»Wahrhaftig, das hättest du dir ersparen können. Oder kamst du nur, mich leiden zu sehen – mich haltlos, verzweifelt zu machen – mir den Fuß in den Nacken zu setzen und sagen zu können: So triumphiert das selbstherrliche Weib über die Begierde und die wahnsinnige Liebe des Mannes?! – Wahrhaftig, es gibt schon Dinge, die vernichtender und grausamer sind, als bei klarem Verstand langsam abzusterben. Solche Dinge kann nur ein Weib ausdenken und sie in die Tat übersetzen. Geh nur – geh nur . . .«

Mit rauher Gewalt gab er ihre Hände frei.

Barhaupt stand er vor ihr. Der Sturm hatte ihm den Hut genommen und in die Tiefe gerissen.

»Und du . . .

Er wollte fort – und dann wieder das Lachen, das häßliche Lachen . . .

»Hans . . .!« rief sie gellend.

Das kam aus tiefster Seele heraus. So klagte ein Mund, der die langverhaltene Leidenschaft nicht mehr eindämmen konnte. Es war wie ein Todesschrei, den die starre, kalte nordische Erde vernimmt, wenn ein gutgezieltes Geschoß den wilden Schwan aus den hohen Lüften herabholt.

Und Anna van Dornick . . .

Da stand sie, als hätte sie die tödliche Kugel empfangen, um jeden Augenblick niederzustürzen – und dennoch so schön, so unendlich schön und mit der gebietenden Hoheit der Liebe umkleidet. Ein unsägliches, herzzerreißendes Lächeln umspielte ihr Antlitz, gab ihm eine schmerzliche Anmut und spiegelte die Not wider, die ihr Inneres bewegte.

Das erschütterte ihn, das drückte ihn nieder, das war stärker, als der finstere Grimm, der ihn noch soeben durchtobt hatte. Bezwungen von der Macht des jungfräulichen Weibes war er in die Knie gesunken.

»Du, du, du . . .!« ächzte er wie ein gemartertes Tier auf, »mache ein Ende mit mir. Tue mit mir, was du willst, ich will es ertragen. Triumphiere über mich. Mache mich rasend. Setze mir den Fuß ins Genick und tritt mich und mein Verlangen zu dir in den Staub. Schreite über mich fort, als wenn du über einen Verlorenen schrittest. Ich habe nichts mehr vom Leben zu hoffen. Geh deines Weges und lasse mich liegen. Dein Wille geschehe!«

Vulkanartig hatten sich die abgehackten Sätze aus seinem Munde gerungen. Wie Lavaströme gingen sie über sie fort – und da beugte sie sich und legte ihm die weißen, schlanken Hände sanft auf die Schulter.

»Sei doch nicht so gänzlich verzweifelt,« hauchte sie leise.

»Wo du mir das soeben gesagt hast . . .

Er sprach wie ein Irrer.

Sie gab keine Antwort; aber sie neigte sich tiefer, immer tiefer und tiefer, sie legte ihre wundertätigen Hände um seine Schläfen – und traumhaft, als müsse sie alles Leid, was sie ihm angetan hatte, von ihm nehmen, drückte sie ihren Mund auf seine gequälte Stirne.

»Wo du mir das soeben gesagt hast . . .

Sie küßte ihn wieder.

»Also du liebst mich?!«

Wie ihr das entgegenklang! Wie ihr das ans Herz griff! Die Tore des Heiles erschlossen sich ihr, als wäre dieser Ruf eine Zauberformel gewesen. Sie brauchte nur durch die geöffnete Pforte zu schreiten, um alle irdische Not für immer hinter sich zu wissen. Ein wildes Verlangen, ein heißer Durst nach Leben durchdrang sie, und wenn es auch nur ein Leben wäre, das das eines Falters nicht überdauerte. Aber so ein Falter lebte doch, schwebte im Sonnenlicht und starb unter Blumen. Nur glücklich leben – für Stunden, für etliche Tage! – selbst auf die Gefahr hin, das glücklich Durchlebte mit vernichtender Reue büßen zu müssen. Sie hatte kein Erinnern mehr an das, was ihr unüberwindlich erschienen. Das Ewige, Unabänderliche machte seine Rechte geltend. Herrisch drückte es die bange Frage nach dem, was war und noch kommen würde, zu Boden. Die Stunde regierte.

Mochte kommen, was da wollte!

»Ja, ja, ja!« schrie sie auf – und in inniger Umarmung hatten sich die beiden Menschen gefunden, weit von der Welt und ihrem Treiben, nur die Allmacht Gottes um sich und seinen brausenden Odem, der den dunklen Schleier um sie legte, sie einhüllte, sie fesselte, als wollte er sie für immer vereinen.

»Anna . . .! – Geliebte . . .

»O du, du . . .!« sagte sie schluchzend, »und wenn ich dir weh getan habe, vergib mir, vergib mir! – Weißt du: ich verehrte dich, als wir uns zum ersten Male sahen; ich liebte dich, als wir zuerst auf dieser Düne standen – und jetzt begehre ich dich. Die Hände will ich dir auf das kranke Herz legen, damit du gesundest – denn du sollt leben um deinetwillen, um meinetwillen!«

Und dann wieder das Schluchzen, das bittere Weinen und alles das, was ihren Schmerz und ihre Liebe auslösen konnte.

»Leben, nur leben . . .

Sie warf sich in seinen Armen herum; sie suchte ihren Mund dem seinen näher zu bringen.

»Also wirklich und wahrhaft?«

»Ja. ja, ja!« stöhnte sie innig.

»Und es ist kein Träumen mehr?«

»Kein Träumen, kein Träumen!«

»Und du gehörst mir, was auch kommen mag?«

»Was auch kommen mag,« sagte sie fröstelnd. Ihr Leib zuckte schmerzlich zusammen.

»Was hast du?«

»Nichts, nichts, nichts!« klagte sie auf. »Nur deine Liebe, deine ewige Liebe . . .

»Die hast du, wenn ich deine nur habe! – Ins Land möchte ich mein Glück hinausschreien. Anna, Geliebte . . .! – Gefunden, endlich gefunden . . .

Sie streckte sich in seiner wilden Umarmung. Beide Arme hatte sie um seinen Nacken geworfen. Ihre Körper berührten sich, wie sich ihre Gedanken berührten. Sie hatten nur sich auf der Welt; sie berauschten sich im Wahn dieser Stunde.

»Küsse mich . . .

Mit fiebrigen Händen bog er ihren Kopf zurück. Kaum noch ließen sich die sanften Züge erkennen, so dunkel war es inzwischen geworden, aber ihre Lippen fanden sich zu einem langen, verzehrenden Kusse. Sie geizten mit jeder Sekunde; der Kuß währte ewig in seiner schmerzhaften Keuschheit. Sie ließen nicht voneinander, gleichsam als fürchteten sie, nach diesem Liebesrausch in den Schatten des Todes treten zu müssen. Mann und Weib in eins verschmolzen – so standen sie unter Gottes brausendem Himmel und ließen sich von seinem gewaltigen Fittich umrauschen. Den Kopf zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen, erbebte sie unter seinen Lippen, fühlte sie die zwingende Nähe des Mannes, träumte sie den Traum unsagbaren Glückes, der ihr endlos erschien – und dabei flog es wie ein Liebesfeuer durch den sternlosen, dunklen Abend dahin.

Es war plötzlich gekommen, in dem Augenblick, als sie sich zum ersten, langen Kuß vereinten. Vom Sturm hin- und hergerissen, zog es von Walcheren über das aufgewühlte Meer und warf auch einen schwachen Schein über die beiden Menschen, deren Gedanken über Raum und Zeit eilten, dem Feuer gleich, das die Unendlichkeit aufsuchte.

Dann ließen sie voneinander ab, um ermattet ihre gegenseitigen Blicke zu finden. Bei den Händen gefaßt, sahen sie sich an, als wären sie aus dem Paradies gekommen. Allein sie erwachten nicht aus ihrem Traum. Immer dasselbe: das hastige Stammeln, das selige »du« und »du« und das durstige Küssen . . . und der Jubel in ihnen . . . Und gleichsam, als hätte sich das drohende Wetter gescheut, auf das Heilige unter ihm seinen Zorn auszulassen, stieg es nicht höher, kam es nicht herauf, hatte es seine Wut vergessen; nur in feierlichen Blitzen zog es vorüber und warf seinen Feuermantel über alles, was unter ihm rauschte und lebte.

Und in diese Lohe hinein . . .

»So ins Licht, ins Leben hinein . . .! – Mit dir, mit dir  . . .!« rief er jauchzend, und er hob sie mit starken Armen empor und preßte sie an sich, als sei er gewillt, sie der feurigen Lohe entgegenzutragen.

»Herrlicher, Einziger . . .!« stöhnte sie auf und preßte ihren Mund mit wilder Inbrunst auf seine brennenden Lippen – und so in den Feuermantel gehüllt, das Köstlichste, was der Himmel ihm zu geben vermochte, mit starkem Arm umschließend, verließ er die Düne, schritt er landeinwärts, trug er das Schwererkämpfte, das Heil seines Lebens dem stillen vlämischen Dorf zu, das zwei Menschen aufnehmen sollte, die bislang nach Erlösung gerungen und sie schließlich gefunden hatten.

Endlich ließ er sie nieder. Sie gingen weiter – sie an seine Schulter gelehnt, er sie führend, ohne zu sprechen, aus Furcht, das süße Geheimnis zu stören, das sie gegenseitig bewegte.

Alles Trostlose lag hinter ihnen.

Sie senkte die Lider. Sie wollte nichts sehen. Das Weib, das verlangende Weib war in ihr rege geworden, denn neben ihr ging der Mann, dem sie angehörte, dem sie entgegenharrte, wie die Erde den Sämann und die ersten Frühlingsstürme erwartet, die ihr gebieten: Deine Zeit ist gekommen, Sie wollte nicht sehen, sie wollte dieses Begehren, dieses Erwachen zum Weibe in Gedanken durchleben. Und ferner: sie durfte die Zweifel, die Vorwürfe, die sie wie gierige Tiere umschlichen, nicht vor Augen haben. Sie konnte ihm heute nichts sagen. Sie durfte das hehre Feuer nicht stören. – Was da kommen würde, darüber wollte sie sich jetzt keine Rechenschaft geben. Bis dahin konnten noch Tage vergehn. Das mußte sie zuerst mit sich abmachen, mit sich allein und dem anderen. Und was das Schicksal auch bringen würde – kämpfen wollte sie für ihre Liebe bis zum letzten Atemzuge; sollte dennoch das unbarmherzige Muß sein Recht verlangen, in Gottes Namen, dann mochte sich wieder der Dornenkranz um ihre Schläfe legen . . . Aber heute ruhte die Welt offen vor ihr da; sie wähnte sich von allen Fesseln befreit; heute war ihr Tag, und die Stunde regierte, die sie taumelig machte und zu den Sternen emportrug.

Sie befand sich in einem dionysischen Rausch, und in diesem Rausch erstickte auch der letzte Rest von Sehnsucht, der sie noch an vergangene Tage erinnern konnte. Früher – ja . . . aber erst an seiner Seite, von dem gebieterischen Ernst seines Leides und seiner Persönlichkeit gefesselt, war in ihr die wirklich reine Liebe zum Manne lebendig geworden. Sie verging in seiner zwingenden Nähe.

Sie – die Unbeugsame, Überlegende, mit dem Schicksal Kämpfende, sie – die es gelernt hatte, dem, was in ihr glühte und lohte, das frostige Antlitz starrer Kälte zu geben, sie, die sich in den letzten Jahren an das Seelenleben einer Vestalin gewöhnt hatte, wurde in seinen Armen zu einem gefügigen Werkzeug.

Immer fester zog er sie an sich.

Selige Träume . . .! – Erst die matten Lichter, die vor ihnen auftauchten, die einzelnen kleinen Gehöfte mit ihren Vorgärtchen, in denen Phlox und Feuerbohnen blühten, erzählten ihnen, daß sie sich in der Nähe von Sankt Anne befanden.

Noch ein letztes Aufjauchzen . . .! – Noch einmal fanden sie sich, als tränken sie gegenseitig von ihren heißen Lippen das ewige Leben. »Geliebte . . .! – Himmlische . . .

»Ach, du, du . . .

Und wieder das leise Geflüster, Taumelworte, die das Herz umstrickten und die kleinsten Fibern in ein trunkenes Schwingen versetzten – überrauscht von den alten Bäumen, die sich wie gigantische Schatten im Winde bewegten.

Dann gingen sie weiter . . . aber da – mitten im Dorfe . . . Er kam auf sie zu . . .

»Mensch . . .!« sagte Heinrich vom Hövel.

Hinter ihm tauchte die hohe Gestalt des Predigers auf. Ein große Not war in ihm. Sein graues Haar wehte um die hämmernden Schläfen.

»Kind, Kind . . .! – wir sorgten um dich . . .«

Aber sie lag bereits an seiner Brust und lachte und weinte.

Da verstand auch Erasmus van Nornick. Er sprach kein Wort; in tiefer Bewegung faßte er die Hand des vor ihm stehenden Mannes. –

In dieser Nacht stieg ein heißes Gebet zum Lenker aller Geschicke. Es drang aus dem Gemach, wo der alte Prediger wohnte, und wohl selten ist von diesem Fleckchen Erde aus ein so inniges Gebet zum Himmel gestiegen.

 


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