Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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II

Wilhelmintje Bottertje . . .!

Gott, dieser Name . . .! – aber sie hieß wirklich Wilhelmintje Bottertje, war eine geborene Oemmertje-Donselaer, hatte im benachbarten Sluis die vier Wände beschrien und saß jetzt vor ihrem khakifarbenen Haus in Sankt Anne, an dessen Längsseiten die Stockrosen so kräftig gediehen, daß sie mit ihren strotzigen Blütenschäften fast das Sims der oberen Fenster berührten. Und die Stockrosen waren von blauschwarzen und hellvioletten Kulören, andere wieder durchliefen die Farbenskala von Zinnoberrot bis zum gesättigten Purpur, während etliche so fromm und fleischfarbig aussahen wie das rundliche Gesicht von Madam Bottertje selber, die mit ihrer mechelschen Haube, den rotgoldenen Ohrgehängen und zusammengefalteten Händen so weltvergessen dasaß, als müsse sie über ein tiefes Geheimnis nachsimulieren.

Allein Wilhelmintje Bottertje dachte gar nicht an tiefgründige Sachen, hatte vielmehr Feierabend gemacht, saß in behaglicher Muße auf ihrem Binsenstuhl und ließ sich von dem aus dem Hausflur kommenden Duft nach Spezereiwaren umspielen, aus dem jeder Kundige das Vorhandensein von Zichorien, Käse, Süßholz, Kaffee und Genever herauswittern konnte. Und in der Tat – in dem niedrigen Auslagefenster standen alle diese Dinge in weitbauchigen Gläsern, überragt von einem mächtigen Zuckerhut in blauer Papierlivree, der ebenso insichgekehrt wie Madam Bottertje auf die menschenleere Straße hinaussah und sicher vor Langeweile gegähnt haben würde, wenn es für ihn in dem Bereich des Möglichen gelegen hätte. Was er jedoch nicht vermochte, das besorgte Wilhelmintje Bottertje – sie gähnte, und zwar so kräftig und nachhaltig, daß ihre Weisheitszähne sichtbar wurden, und die langen Ohrgehänge in eine klingende Bewegung gerieten. Dieses sanftmütige Goldgeklingel war das einzige Geräusch in Sankt Anne, wenn man von dem feinen Lispeln der Pappeln absah, die in der Dorfstraße standen und ihre silberigen Blätter kaum wahrnehmbar auf und nieder bewegten. Selige, einschläfernde Ruhe schien überhaupt das Attribut von Sankt Anne, und wäre nicht der Verkehr auf der schmalspurigen Vizinalbahn gewesen, die die Verbindung mit dem nahgelegenen Knocke sur mer, Brügge und dem linken Scheldeufer vermittelte, diese Ruhe hätte an die weiche, schaukelnde Ruhe einer Schleiereule erinnert, die in stillen Sommernächten auf linder Watte dahingleitet.

Überhaupt diese Ruhe . . .! – Sie lag auf den Türschwellen der niedrigen Häuser, sie haftete an dem mächtigen Ziegelturm, der, stumpfabgeschnitten und mit dreiläppigen Rippen verziert, wie ein massiger holländischer Pastetenbäcker aus dem Boden herauswuchs; sie spazierte in die müden Wiesen hinein, über die benachbarten Dünen, hinter denen das Meer lag, still, groß, alles umfassend – aber wie mit Öl Übergossen. Das Meer träumte. Selbst in den Rispen des sonst so nervösen Strandhafers war nicht die geringste Bewegung. Sankt Anne glich einer schnurrenden Katze, die, halbeingeduselt, kaum noch zu blinzeln vermochte, und der von Zeit zu Zeit eine liebevolle Hand über das schiefersilbrige Fell strich – halb eingeduselt wie Wilhelmintje Bottertje selber, die noch immer dasaß, als hätte ihr eine innere Stimme geboten: »Estimiere die flandrische Stille.« – Na, das besorgte Wilhelmintje denn auch. Ein toter Schellfisch hätte seine Sache nicht perfekter ausführen können. Wilhelmintje Bottertje war wirklich so still wie ein Schellfisch.

Ihrem schlichten Anwesen schräg gegenüber lag ein ähnliches Häuschen. Dieselbe Khakifarbe, dieselben blauangestrichenen Fensterläden, Stockrosen von denselben Kulören, die gleichen Klinkertreppen, der nämliche Türgriff, blank wie ein Dobbeltje, das eben aus der Präge hervorklingelt – nur das Auslagefenster enthielt andere Waren. Statt der breiten Geneverbouteillen, der Gläser mit Kristallzucker und Kaffee, präsentierte sich hier eine Serie Brabanter Spitzen, die ihr Dasein der Werktätigkeit und geschickten Hand der wackeren Inhaberin des Häuschens verdankten. Es war gezwirnte Renaissancetüftelei, geklöppelte Gotik, und vor dieser geklöppelten Gotik, neben der Klinkertreppe, stand ein hochlehniger Sessel und vor ihm ein niedriges Tischchen – und dann ging die Tür auf, die blitzblaue Tür mit dem messingenen Handgriff . . .

Der Zauber der Weltverlorenheit war von Sankt Anne gewichen.

Auf der blankgescheuerten Schwelle erschien eine Frauensperson, die ein wohlassortiertes Klöppelkissen im Arm hielt. Beim Anblick dieser Erscheinung wäre jeder Unkundige vor Schreck in die Knie gefallen, denn das leibhaftige Ich der Madam Bottertje war aus dem khakifarbigen Häuschen getreten und nickte über die Straße seinem eigenen Selbst zu.

Aber wieso denn . . .?!

Die beiden Gegenüber glichen sich wie eine Erbse der anderen, wie eine Kaffeebohne der anderen Kaffeebohne, sowohl hinsichtlich des inneren wie des äußeren Menschen: der Komplettigkeit nach und dem Phlegma nach. Sogar der Matronenspeck wies dieselben Falten und Fältchen auf, die rotgoldenen Ohrgehänge hatten ein und dasselbe Geklingel, und es hätte entschieden zu den schwerwiegendsten Komplikationen geführt, wären die Haubenbänder und Rüschen der beiden nicht von verschiedenen Farben gewesen. Es war also ein Spiel der Natur, daß Sankt Anne zwei leibhaftige Wilhelmintje Bottertje aufweisen konnte?! – I, Gott bewahre! – Zwei Wilhelmintje – nein; aber zwei Bottertje – ja, und dazu noch zwei Bottertje, geborene Oemmertje-Donselaer, wovon die zuletzt Erschienene, also die mit dem Klöppelkissen, sich Bernadintje schrieb, eine um zwei Stunden elf Minuten jüngere Zwillingsschwester Wilhelmintjes war und sich mit dem Balbierer und Ferkelschneider Basilius Bottertje, dem Mannesbruder ihrer Schwester, verheiratet hatte. Wilhelmintje hatte mit ihrem Jan Glück in der Ehe, während Basilius sich als ein Windschneider herausmusterte, keine Schürze in Ruhe ließ und eines Tages mit der noch jugendlichen Frau des Manufakturisten Luis Gielen aus Lisseweghe auf- und davonging – eine lange und verweinte Geschichte, die aber schließlich Bernadintje veranlaßte, einen Spitzenladen aufzutun und darüber mit weißer Ölfarbe schreiben zu lassen: ›Bernadintje Bottertje, geborene Oemmertje-Donselaer, Witwe en Kopmannsfrau te Sankt Anne in Holland.‹ Und so war es bis zum heutigen Tage geblieben . . . und Bernadintje trat über die Schwelle, setzte sich auf ihren Binsenstuhl, legte ihre Klöppelei zurecht und rief über die Straße: »Tag, Wilhelmintje!«

»Tag, Bernadintje!«

»Wie geht's?«

»As't üh belieft, Bernadintje?!«

»Ich meine, wie's geht!«

»Merci. Jan macht nach Brügge.«

»Mit seinem Tilbury?«

»Nein – mit die Landkutsch.«

»Warum denn?«

»Er muß 'ne frische Bettstelle holen.«

»Hm, hm!« machte Bernadintje und ließ mit einem charakteristischen Geräusch die birnförmigen Holzspulen durcheinander haspeln. Dann fragte sie wieder: »Wilhelmintje, wieso denn?«

»Weil uns Mynherr vom Hövel 'nen neuen Inwohner rekommandiert hat.«

»Ist denn Mynheer vom Hövel schon hier?«

»Seit Freitag.«

»Und der Rekommandierte?«

»Ist ein Schriftgelehrter aus Deutschland.«

»Gratuliere!«

»Merci – und deine Inwohners?«

»Haben gestern geschrieben.«

»Und kommen?«

»Ja!« rief Bernadintje, »der deutsche Domine und seine Tochter aus Brügge. In vierzehn Tagen können sie hier sein. Ich freue mir sehr.«

»Ich auch,« sagte Wilhelmintje, und dann begannen abermals die Klöppelspulen zu sprechen und die Ohrgehänge zu klingeln, und die Pappelbäume plauderten ganz leise dazwischen, und die große Ruhe von eben stelzte wieder, wie eine graue Spinne mit langen Kankerbeinen, über das weltvergessene Dorf hin, und die steifen Stockrosen standen da wie Myfrouwen im Putz, die sich äußerst staats gemacht hatten und vor lauter Feinheit sich nicht zu setzen vermochten, und Wilhelmintje Bottertje gähnte noch einmal, dann drehte sie sich langsam auf ihrem Untergestell, wie eine holländische Windmühle auf ihrem Balkenrost, und rief in den Hausflur: »Jan, mach voran! – Wie weit ist die Sache?«

Und Jan kam; Jan kam hemdsärmelig in Velvet-Hose und Weste, die Hände so tief in den Hosentaschen vergraben, als müsse er sich in der Gegend der Kniekehlen jucken. Er kam mit ausrasiertem Nacken, mit pomadisierten Polkalocken, über die er eine seidene Schirmmütze gezogen hatte, mit aalglatt halbiertem Kabeljaugesicht, in dessen Mundecke ein Gaudaer Tonstummel saß, dem ein Rauchwölkchen entstieg, das sich übermütig gen Himmel kringelte. Und dieses gekringelte Rauchschwänzchen war das einzige Lustige an Jan Bottertje; sonst alles Resignation und Pomade. Jan war sanft wie Postpapier, die verkörperte Wehleidigleit, eine zu Bein und Fleisch gewordene Treckschuit, die sacht und gemütlich die mit grünen Wasserlinsen bestandenen Kanäle durchwackelt. Jan war eine gedämpfte Trauermusik – aber ein pfiffiger Spezereiwarenhändler, ein viver Ehemann und als Schweinezüchter bekannt in der ganzen Umgebung. Das Kaufmännische verdankte er seiner ganzen Veranlagung, den viven Ehemann der steten Aufmunterung von Wilhelmintje, und was den Schweinezüchter anbetraf, so war er hierzu wie ein Stockfisch zur Polka-Mazurka gekommen. Gott, ne nicht! – sein Bruder Basilius war eben ein Windhund gewesen, hatte bei seiner Liebesaffäre den ›Balbierer‹ und ›Ferkelschneider‹ in Sankt Anne gelassen, und da Jan merkantil veranlagt war, sah er nicht ein, warum er den ›Balbierer‹ und ›Ferkelstecher‹ nicht mitnehmen sollte. Na – das tat er denn auch, verwaltete den Spezereiwarenladen im Nebenamt, legte den Hauptdruckser auf das Balbierer- und Schweinegeschäft und brachte es fertig, sich im Verlaufe weniger Jahre so herauszumustern, daß er in der ganzen Umgegend, und zwar von Brügge bis Heyst, von Blankenberghe bis Sankt Anne ter Muiden nur unter dem Spitznamen ›der Ferkel-Jonkheer‹ bekannt war.

Und dieser ›Ferkel-Jonkheer‹ trat über die Schwelle, sah mit seinen wasserhellen Fischaugen verliebt in das etwas aufgeregte Antlitz seines Weibes und fragte: »As't üh belieft, Wilhelmintje?«

Die Worte kamen ihm so breit und zäh aus dem Munde, als hätte er jedes einzelne aus einer Sirupschüssel gelöffelt. Das mußte Wilhelmintje nun ärgern, und in dieser Verärgerung kriegte die friedliche Stille von Sankt Anne einen gehörigen Knacks weg.

»Jan,« fuhr sie auf, »du bleibst doch immer der nämliche Döskopp.«

»Wieso?« fragte Jan, »und wofür die Mouvements, Wilhelmintje?«

Jetzt hatten die Worte den Anschein, als seien sie direkt aus einem bereits abgekühlten Leimtopf gekommen.

»Mouvements?!« entsetzte sich Wilhelmintje, »wo übermorgen der Schriftgelehrte von Deutschland nach hier kommt? – Mouvements?! – wo wir immer noch keine Bettstellage besitzen? – Mouvements?! – wo diese Bettstellage mit die Landkutsch von Brügge . . .? – Heilige Jungfrau von Sankt Anne ter Muiden!«

Erregt schlug Wilhelmintje Bottertje, geborene Oemmertje-Donselaer, ihre patschigen Hände zusammen, sprang auf und deutete mit ihrem Zeigefinger durch die Haustür: »Nu aber voran, wenn du nicht willst, daß Mynheer vom Hövel dir das Kamisol vermöbelt. Und so ein langsamer Pitt will hier die Tage als Ferkel-Jonkheer verschleißen? – 'ran an die Arbeit.«

»Schön,« sagte Jan, drehte bei und ging breitbeinig um die Stockrosen herum dem inneren Hof zu, und es währte nicht lange, da bekam die Stille von Sankt Anne nochmals einen gehörigen Knacks weg. Nicht etwa dadurch, daß Wilhelmintjes Ohrgehänge in ein sanftes Klingeln gerieten, noch weniger dadurch, daß Bernadintje aufs neue mit ihren Klöppelspulen hantierte – ein überlustiges Schweinequieksen ertönte, ein Schweinequieksen so seelenvergnügt wie das Rauchkringelchen von Jan Bottertjes Pfeife, dann ein fröhliches Peitschengeknalle . . . und Jan Bottertje kam stolz wie ein Spaniol um die Ecke gefahren. Aber wie?! – Gotts den Donner! – nicht mehr wie Resignation und Pomade. Jan Bottertje kam als Ferkel-Jonkheer in seiner Landkutsch gefahren; vorneweg drei kapitale Mutterschweine im Sielengeschirr, prächtige Vertreter ihres Geschlechts, die auf ihrer Lebenspilgerfahrt wenigstens fünfmal geferkelt hatten und mit den Namen Doortje, Amalie und Sophie aufwarten konnten. Nein – diese Auffahrt! – Amalie ging in der Schere, Doortje und Sophie flankierten, blank im Putz, und das mit einer Andacht, als wären sie schon jahrelang in einer Karosse gegangen. An jedem Schweineschwänzchen kapriolte dazu noch eine seidene Schleife in den niederländischen Farben, blau-weiß-rot – und in diesem Aufzug ging es schlankweg durch die verlorenen Gassen von Sankt Anne ter Muiden. Es war um aus der Haut zu fahren, aber so einer des Glaubens sein mochte, Wilhelmintje und Bernadintje Bottertje hätten sich vor Lachen auf ihren Binsenstühlen geschüttelt, so hätte er sich auf dem Holzweg befunden, denn die beiden hielten das Verhältnis der Bespannung zur Landkutsch für so selbstverständlich, wie die Zugehörigkeit eines Kalbes zur milchenden Kuh, und darum: sie gähnten, klöppelten weiter und ließen, ohne mit der Wimper zu zucken, den Ferkel-Jonkheer, Sophie, Amalie und Doortje mitsamt der niedrigen Landkutsch einfach in das silberige Grau der duftigen Landschaft untertauchen.

Jan ratterte weiter, verfolgte die Heerstraße und bog nach kurzer, pläsierlicher Fahrt in den schattigen Landweg ein, der über Oostkerke und Damme, an einem schleichenden Wasser vorbei, gen Brügge führte. Seitwärts des Weges lagen Wiesen und Felder. Darüber hinaus grenzte ein hingehauchter Strich den fernen Horizont ab, aus dem sich, wie hingepinselt, die scharfsilhouettierten Türme von Brügge in den wolkenlosen Himmel erhoben. Tiefblaue Schatten legten sich quer über den Landweg, durchsetzt von abgezirkelten Sonnenreflexen, die dort auf- und niederzitterten und sich gerierten, als seien sie mit dem Sankt Veitstanz behaftet. Und dazu schwefelgelbe Lupinen zur Linken, knallroter Mohn und Roggenfelder zur Rechten, Jan Bottertje mit Amalie, Sophie und Doortje dazwischen! – eine holländische Farbenkirmes, wie sie Jan Steen in seinen besten Träumen nicht lustiger gesehn haben mochte. Und dann eine Biegung . . . und als Jan sie passierte, schlug ihm zuerst ein helles Gelächter und dann eine prächtige Männerstimme entgegen:

»Seh' ich drei Rosse vor dem Wagen,
Gelenkt vom jungen Postillon . . .

Himmel, Herrgott noch mal! – Moritz, das wäre so dein richtiges Genre! – Das ist ja um die leibhaftige Kränke zu kriegen!« – und als die prächtige Männerstimme das sagte, sprang ein putziges Männchen mit schlenkrigen Armen, die bis zu den Kniekehlen reichten, einen fuchsigen Zylinder von unglaublicher Bauart schief auf dem Kopf, über den Straßengraben, warf Pinsel und Malstock beiseite und gesellte sich dem Sprecher, der hochaufgerichtet und in seiner ganzen männlichen Kraft mitten im Wege stand und sich jetzt vor Lachen den Bauch halten wollte.

Über die abgemergelten Züge des Kleinen zog ein lustiges Grinsen.

»Fein!« sagte er heiser.

»Und ob!« hielt ihm Heinrich vom Hövel fröhlichen Mundes entgegen. – »Moritz, so was gibt's nicht mehr zwischen Himmel und Erde – und du solltest dich wirklich schämen . . .«

»Leider,« konstatierte das verhutzelte Männchen, wollte noch mehr sagen, schluckte aber in stiller Ergebung das Gewollte herunter und sah zu, wie Jan Bottertje in seinem unmöglichen Gefährt näher kutschierte.

»Wohin?« rief ihn Heinrich vom Hövel an.

»Nach Brügge.«

»Was soll's dort?«

»'ne Bettstelle holen.«

»Dann glückliche Reise und 'ne schöne Bestellung an den Domine Erasmus van Dornick – ich käme.«

»Wann?«

»Übermorgen.«

»Merci.«

»Adjüs denn.«

»Adjüs denn,« gab Jan Bottertje zurück und karriolte landeinwärts.

»Nein, dieser Zauber!« rief Heinrich vom Hövel und fuhr sich gemächlich durch seinen hellblonden Schnurrbart, »diese genialen Eulenspiegeleien in optima forma! Und du . . .

Mit einem feinen Schmunzeln und leuchtenden Auges war er näher getreten.

»Für dich fallen hier in Sankt Anne die Motive vom Himmel herunter, das reinste Manna, und du bist nur zu faul, es dir regelrecht in die Tasche zu stecken.«

»Junge, ich kann nicht anders!« replizierte der unglückliche Zylindermann, dessen greisenhaftes Gesicht in wunderlicher Weise mit der zwergigen Gestalt kontrastierte. »Und wenn ich darüber verrückt werden sollte – ich kann ja nicht anders.«

Betrüblich hob er dabei die stakeligen Arme gen Himmel und stierte ins Leere. Dann fiel ein spöttischer Blick auf seine Staffelei, die sich's im Schatten einer breitausgelegten Weide bequem gemacht hatte. »Das weiß ich ja alles. Ich möchte mit dem Kopf durch die Leinwand – Himmel, Herrgott noch mal! – ich möchte . . . Aber laufe einer mal Sturm gegen den gebildeten Pöbel?! – Du hast ja die große Nummer gezogen. Dir fressen ja die Könner und Wisser aus der Hand; du bist der Kerl, dem es vergönnt ist, dem verschleierten Weibsbild von Sais unter die Maske zu fahren, während ich . . . Hihi! – nichts weiter, guter Freund, als ein malender Helote; nichts weiter. – Marasmus! – Marasmus . . .

Mit einem häßlichen Gelächter riß er sich den fuchsigen Zylinder vom Kopf, wirbelte ihn durch die Luft und stülpte ihn alsdann mit demselben Gemecker wieder über die mausgrauen Haare.

Wie beschwörend hob Heinrich vom Hövel die Hand in die Höhe.

»Moritz, nicht tragisch, keine dramatischen Szenen; das kleidet dir nicht, das ist nicht auf deinem eigenen Grund und Boden gewachsen. – Lediglich Pose! – und würde mir der Glaube genommen, du wärest nicht in deiner ganzen verrückten Eigenart direktemang aus einem närrischen Bild von Franz Hals oder Adrian Brouwer gepurzelt, hättest nicht das grandioseste Kindergemüt, das sublimste Herz unter der Weste – aus! Ich hätte dir schon längst meine Freundschaft gekündigt.«

»Hihi!« machte der Kleine, sprang fixbeinig in den Graben zurück, ließ sich dort nieder und legte den schweren Kopf in die Hände.

Heinrich vom Hövel hatte sich an seine Seite begeben.

»Es ist traurig, aber wahr,« sagte er heiter, »daß sich an einem blühenden Rosenstock immer die infamsten Blattläuse befinden – und du bist so ein blühender Rosenstock, Moritz.«

»Warum das?« fragte der Unglücksmann mit einem erfrorenen Lächeln.

»Weil ich es weiß, weil ich mir schon längst dieses Erkenntnislicht aufgesteckt habe. Ich habe so das unbewußte Gefühl: ich bin berufen, Menschenherzen zusammenzurütteln und sie wieder in die richtige Angel zu heben. Übermorgen kommt auch so'n Unglückshuhn mit Raupen im Kopfe. Aber, Moritz, nu mal ernstlich gesprochen. Schon seit zwei Jahren trag' ich's mit mir herum. Heute muß es mir von der Leber herunter, denn sieh mal, mein Junge: du schwebst im Leeren, im Garnichts. Unkünstlerisch verschwendest du dein eigenes, bestes Können an die miserabelsten Dinge. Platte Akademik, Stimmungsduselei, getüpfelte Lyrik! – und bist doch eigentlich geboren, in die breiten Stapfen der alten Niederländer zu treten.«

»Marasmus! – Marasmus . . .!« lamentierte der Kleine und streckte seine Troglodytenarme in das Licht des sonnigen Himmels. »Hoherpriester – ich bitte um Gnade!«

»Die hast du,« gab ihm sein Partner zurück, »aber sieh dir diese Prachtkerle doch einmal genauer an, diese niederländischen Kerle. Nirgends das unsichere Tasten nach Reflexion, keine gequälten Allegorien, alles in Farbe getaucht, pastos, leuchtkräftig, lebendig. Menschen, Gedanken, Naturlaute – nur so aus dem Handgelenk auf die Leinwand gebürstet. Alles erlebt, erliebt und ersündigt! – Menschen wie wir sind! – Menschen, die weinen, Purzelbäume schlagen und lachen – und alle mit einem drolligen Kringelschwänzchen im Nacken. Die Bottertjes, der Seelenmensch, die übrige Kirmes – das schreit ja nach dir, hält dich beim Rock fest. Aber du: immer nur die alten Motive, Bilder ohne Bildwirkung, Dutzendware gewöhnlichster Sorte! – Das geht nicht in die Tiefe hinein, wächst nicht aus der Tiefe heraus. Blutleere Intuitionen, kalkig, kreidig . . . Heilige aus der Zeit, wie sie Deger, Ittenbach und Konsorten malten – und dafür bist du nach Sankt Anne gekommen?«

»Mensch . . .!« schrie der Kleine und fuhr in die Höhe. Mit häßlichem Gemecker schlug er seinen köstlichen Zylinder in diverse Falten und Beulen und stülpte ihn wieder zu seinem früheren Selbst auf. »Mensch, du reißt mir ja das Herz auseinander!«

»Das weniger,« sagte Heinrich vom Hövel, »ich will's nur auf die richtige Stelle placieren. Warum ziehst du den alten Adam nicht aus und verlegst dich auf Dinge, die dir und mir imponieren, die die Lachmuskeln in Bewegung setzen und uns in stille Winkel verschlagen?«

»Weil's die Menschen nicht wollen,« winselte Moritz in seiner fratzenhaften Häßlichkeit, warf mit einem grimmigen Lachen den Hut nochmals nach oben und fing ihn dann wieder, »weil's die Menschen eben nicht wollen. – Andernfalls lassen sie mich an ihren blauen Lappen nur riechen . . . Die Posaunen des Jüngsten Gerichtes über Couponschere und Geldsack!«

Mit einem betrübten Seufzer fiel der Ärmste in sich zusammen.

»Ich bin nun einmal der Sklave meines erbärmlichen Schicksals und meiner Bestimmung geworden,« sagte er traurig. »Hier liegt ja der Knüppel beim Hunde. Marasmus! – Marasmus . . .

»Weiß ich ja alles,« unterbrach ihn Heinrich vom Hövel. »Pfui Deibel nochmal! – Halte doch diesem Ungeschmack eines parfümierten Pöbels die Faust unter die Nase. Die Entwertung des Gegenständlichen, des lachenden Lebens hast du auf dem Kerbholz. Mensch, du kannst das Wunder doch nicht erwarten wollen, indem du die Hände in den Schoß legst! Du gehst ja unter im allesfressenden Schlamm des Alltäglichen. Aus diesem Schlamm dringt die Tatze nicht vor – und du hast eine Tatze. Ja, Moritz, du hast eine Tatze.«

»Tatze, Tatze . . .

Mit der Gewandtheit eines Parterreakrobaten war Moritz Dütz-Josum auf die Beine gesprungen.

»Tatze, Tatze . . .!« rief er noch einmal und glitt mit einem wehmütigen Blick über die vorgestreckten Hände fort, deren Finger sich wie die Gliedmaßen eines großen Skorpions bewegten, dann stieß er sich mit der Faust gegen die Stirne und begann wieder zu lachen.

Es war ein infernalisches Gelächter, ähnlich dem eines Kauzes, wenn er in mondhellen Nächten um den Turm von Sankt Anne reviert.

»Hier, diese Tatze . . .! – Ja, du – ich möchte schon anders, ich könnte schon anders! – aber die abgeleierte Phrase: ›Die Kunst geht nach Brotschnitten,‹ ist bei mir zu einer kleinen Bestie geworden. Ich kann sie nicht los werden. Sie sitzt mir am Halse und fingert mir die Kehle zusammen – hier diese Kehle zusammen.«

Seine Augen nahmen einen gläsernen Blick an.

»Und nur darum und deshalb bin ich ein Tempelschänder geworden,« sagte er tonlos. »Die Bestie will immer Brotschnitten haben, und ich muß sie ihr geben.«

Sein Kopf sank nach vorne.

Heinrich vom Hövel hatte sich gleichfalls erhoben. Sanft legte er die Hand auf die Schulter des insichgekehrten Mannes und meinte zaghaft und mit umflorter Stimme: »Moritz, das wußte ich nicht.«

»Nicht?« fragte der Kleine. »Also wirklich nicht gewußt? – Auch nicht geahnt?«

»Nein,« sagte Heinrich vom Hövel, »auch nicht geahnt.«

»Dann laß dir's erzählen.«

Und Moritz stierte zu Boden, stierte lange zu Boden, dann fuhr er sich mechanisch an den Hals, als sei er gewillt, die schnürenden Finger des kleinen Untiers weniger empfindlich zu machen.

»Äh!« sagte er schließlich, »und nun sieh mal, mein Junge: da liegt so 'n weltverlassenes Drecknest zwischen Kleve und Geldern. Vor Jahr und Tag schlurfte und schlappte da eine Webelade. Und hinter dem Webstuhl hockte ein Mann mit kranken Augen und einem Gesicht, das so ziemlich die Mitte hielt zwischen dem einer Spitzmaus und eines Verhungernden. Mit demselben Spitalgesicht konnte auch meine Mutter aufwarten, die neben der Lade saß, bis spät in die Nacht hinein die Flachsspule drehte und immer nach Luft schnappte, wenn so die infamen Wergsplitterchen ihr in die Lunge spazierten. Aber sonst ging's bei uns lustig zu, das heißt bei den Ratten und Mäusen, denn wenn Mutter mal so 'n warmes Weißbrot erwischte, dann sprangen die ekligen Biester auf den Tisch, pfiffen und tanzten und sahen uns mit ihren blutroten Äugelchen an, als wenn sie uns die armseligen Brocken mißgönnten. Das taten auch die infamigen Biester und schlugen mit ihren klebrigen Schwänzen auf die Tischplatte, daß es man so klappte und knallte.«

»Aber ich bitte dich, Moritz!«

»Ja, so war das, mein Junge,« lächelte der Kleine mit unendlicher Ruhe, »und ich kann dir nur sagen: wir Dütz-Josums waren schon eine feine Gesellschaft. Na – und die klebrigen Schwänze . . .?! – Fünfzehn Jahre hindurch hörte ich das ekelhafte Klappen, das Quieksen und das unförmige Gewuchte der Lade – und da eines Tages, so um die Adventzeit herum, machte das Webeschiffchen einen fidelen Hopser, mein Vater streckte beide Arme nach vorne und fiel dann kopfüber. Amen! sagte meine armselige Mutter, und als sie das sagte . . . So etwas vergißt sich nie mehr im Leben und klingt akkurat, als wenn jemand mit hartem Finger auf 'nem Sargdeckel knöchelt. Ich hör' es noch heute. Zwei Jahre später hatte auch das alte Spulrad seinen Atem verloren. Da stand ich nun, ein gelernter Pinselmagister, zwischen meinen Geschwistern: rechts von mir Lene, die zwei Flachsköpfe aufpäppeln mußte, aber vergessen hatte, sich nach 'nem regulären Mann umzusehn; links von mir Jakob, mein älterer Bruder, der noch mit seinen zwanzig Jahren vor einer Fliege bang war und mit dem Drehkreisel spielte. Und beide sahen mich mit ihren hungrigen Augen an, als wenn sie sagen wollten: Moritz, wie soll das nun mit den Brotschnitten werden? – Mensch!« schrie plötzlich der Erzähler auf und warf seine Spinnengelenke nach aufwärts, »nur der Brotschnitten halber bin ich ein Schänder im Tempel der Kunst geworden. Nur der Brotschnitten wegen! – und jetzt sage, daß ich ein verpfuschter und ganz miserabler Kerl bin.«

Er schnappte nach Atem.

»Du verstehst das doch alles?« fragte er traurig.

»Ich verstehe,« sagte Heinrich vom Hövel und war dicht an seine Seite getreten. Dann beugte er sich vor und flüsterte ihm eindringliche Worte zu, aber so heimlich und leise, als sollte niemand es hören, die Welt nicht und keine menschliche Seele. Die Roggenfelder begannen stärker zu rauschen und deckten das Geflüster zu, das nur für den braven Moritz bestimmt war. Allein Moritz durchriß diese Stille, gestikulierte mit Armen und Beinen und wollte absolut von den eindringlichen Worten nichts wissen.

»Es geht nicht, es geht nicht!« rief er verzweifelt und praktizierte wieder etliche Beulen in seinen grotesken Zylinder.

»Und wenn ich dir sage . . .« hielt ihm Heinrich vom Hövel flammenden Auges entgegen. »Es muß gehen. Schon der Kunst wegen kannst du meinen ehrlich gemeinten Vorschlag nicht von der Hand weisen. Ich will ja dein Bestes.«

Der bedrängte Mensch klappte zusammen.

»Es geht nicht,« sagte er leise.

»Es ist nicht geschenkt, Moritz, es soll nicht geschenkt sein. Wenn bessere Zeiten kommen, wenn du dem gebildeten Pöbel die Faust unter die Nase gestreckt hast, und er auch bei dir anerkennen muß, was Kunst und was nicht Kunst ist, dann« – und seine Stimme sank herab zu einem heimlichen Sprechen – »dann, Moritz, kannst du's mir ja in einzelnen Raten . . .«

Er sprach nicht weiter, aber seine herzlichen Worte hatten ein fruchtbares Erdreich gefunden.

Über das verschrumpfelte Gesicht des armen Dütz-Josum ging der stille Abglanz einer überirdischen Freude. Große Tränen liefen ihm über die Wangen. Ungeschickt tastete er nach der Hand seines Freundes, und als er sie endlich gefunden hatte, hielt er sie fest, als wollte er sie so halten für immer.

»Na, denn . . .« sagte er ruhig.

Und da standen die beiden inmitten der großen vlämischen Ebene: Moritz Dütz-Josum, der zwergige Mensch, ein fahriges Spiel der Natur, das sie gleichsam aus dem Hohlspiegel genommen und in die Welt gestellt hatte, aber auch der Mensch mit der großen Kunst in dem zerrissenen und nun wieder gesundeten Herzen – und neben ihm der Mann, dessen Gestalt in den Himmel hineinwuchs, der gesunde Teutone, dem das Glück günstig gewesen und dessen Fuß wandelte in dem Paradies herrlichen Schaffens.

Um beide schauerte eine heilige Stille. Man hörte die Stille, man fühlte die Stille; sie streckte die Hand aus, und da war es so, als gingen ferne Glockentöne über die Erde, als wäre ein leises, melodisches Klingen lebendig geworden.

Waren es die Glocken von Brügge, oder waren es Glockenklänge, die nur die Seelen verstanden?

»Komm,« sagte Heinrich vom Hövel, und da packten die beiden ihre Malgeräte zusammen, warfen sich den Rucksack flott über den Rücken und schlenderten dem nahgelegenen Sankt Anne entgegen.

Aber die Glocken klangen immer weiter und weiter . . . immer weiter und weiter . . . und sie klangen noch fort, als Moritz bereits in seine Wohnung geschlüpft war, und Heinrich vom Hövel die Dorfstraße verfolgte, die zu dem Anwesen der Bottertjes führte, woselbst er sich eingetan hatte.

Über den khakifarbigen Häuschen standen bläuliche Rauchwölkchen, die sich kerzengerade aus den zuckerweißen Schornsteinen drehten – und vor den Türschwellen saßen die beiden noch immer: Wilhelmintje und Bernadintje, und ihre goldenen Ohrgehänge klingelten fromm und weltverloren durch den seligen Frieden von Sankt Anne ter Mulden. Als nun Wilhelmintje bemerkte, daß ihr Einwohner in Sicht war, erhob sie sich äußerst vornehm und in ihrer ganzen Komplettigkeit von den Binsen, und als er vor ihr stand und lächelnd guten Tag bot, faßte sie mit ihren rundlichen Fingern zwei Fältchen ihres Kleides und knickste und knickste.

»Mynheer vom Hövel, heelmoojen Abend! – und wenn ich Sie nach oben invitieren darf, so werden Sie sehen, daß die Zimmer für den rekommandierten Schriftgelehrten aus Deutschland extraordinär parat sind.«

»Also schon fertig?«

»Bis auf die Bettstellage, Mynheer – aber sonst: alles so proper wie ein Hoenderei, das meine beste Klucke gelegt hat.«

»Wilhelmintje, wenn das ist,« freute sich Heinrich vom Hövel, »dann kann ich mir absolut nicht mehr helfen, dann muß ich . . .«

Mit hellem Lachen hielt er die Arme gebreitet.

»Man zu!« kicherte Wilhelmintje in sich hinein. Um ihre Mundwinkel spielte es, als wäre da ein Mäuseschwänzchen lebendig geworden. »Immer man zu,« sagte sie lustig, »mir und meinem Jan schaniert das nicht weiter.«

Und da umhalste er sie und gab ihr einen herzhaften Kuß auf das appetitliche Mäulchen.

»O! – o! – o!« rief in diesem Augenblick Bernadintje von jenseit der Straße herüber.

»Bernadintje,« gab Wilhelmintje vergnügt zurück, »es ist an die richtige Adresse gekommen, und nu, Mynheer vom Hövel, ich bitte – angtree.«

Und da gingen die beiden in das trauliche Häuschen, vor dem die Stockrosen blühten, die Stockrosen mit ihrer ganzen Farbenskala vom Zinnoberrot bis zum gesättigten Purpur, und sie ließen die große Stille draußen, die große, heilige Stille mit ihrem unnennbaren Zauber – die große, heilige Stille von Sankt Anne ter Muiden.

 


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