Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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III

»Also um sieben ein halb mit dem Ostender Expreßzug . . . Spiegelungen! – Spiegelbilder! – die da kommen, gehen und schwinden – und haften bleiben. Also auch haften bleiben? – Ja, wie Kletten an einem faserigen Wollstoff, wie Fingerabdrucke in weichem Ton . . .«

Heinrich vom Hövel drückte sich den Hut in die Stirne, trat gemächlich vor den kleinen Spiegel, der an der Schmalseite seines freundlichen Zimmers hing, und hauchte etliche Male gegen die Scheibe. Mit seinem Taschentuch aber nahm er das Hingehauchte wieder eiligst hinweg, wandte sich einem nur lose zusammenhängenden Konglomerat von vergilbten und staubigen Blättern zu, die auf einer niedrigen Anrichte lagen, zog verschiedene Notizen heraus und steckte sie zu sich.

»Domine, du wirst Augen machen; dein ganzes Sinnen und Forschen sieht dich mit anderen Blicken an, und Hans Memling bekommt endlich die ewige Ruhe. Requiescat in pace sancta

Nochmals trat er vor den kleinen, unscheinbaren Spiegel. Von dem Hingehauchten war nichts mehr übrig geblieben. Die schmale Glasfläche strahlte in ihrer früheren Klarheit.

»Blank,« sagte er lächelnd, »und wie der hingeworfene Hauch ein leeres Nichts war, so wird auch deinem Erinnern das Traurige, Bedrückende, Gespensterhafte abhanden kommen – und die tote Maria wird ihre Seele in die Hände nehmen und sagen: Endlich gesundet.«

Hierauf warf er die niedrigen Fenster sperrangelweit auf. Blühende Geranienstöcke und Nachtviolen grüßten ins Zimmer, über Skizzen und Schassen eines künstlerisch fühlenden Mannes flutete das Licht eines köstlichen Sommertages. Jenseit der roten Ziegeldächer lagen Wiesen und Roggenfelder. Ein warmer Duft spielte herauf. In den Dorfgassen war noch immer das weltverlorene Säuseln der vergangenen Tage, das Träumen und Sehnen – aber aus dem reifenden Getreide stieg eine Lerche gen Himmel.

Spiegelungen! – Spiegelbilder . . .!

Heinrich vom Hövel begab sich nach draußen, ging der nahegelegenen Vizinalbahn zu, um mit ihr nach Brügge zu fahren.

Gegen vier Uhr traf er dort ein; scheinbar ziellos schlenderte er an stillen Grachten und verwunschenen Gebäuden vorbei und verlor sich alsbald in dem Gewirr von Straßen und leblosen Gassen. Im toten Brügge . . .! – aber wenn so das Sonnenlicht in die verstohlenen Ecken und Winkel hinabglitt, ein heiterer Himmel die einsamen Türme der Stadt aufleuchten machte, zwar auch dann drang nicht der große Pulsschlag der Welt bis zu ihr, aber die Totenstarre wurde doch für etliche Stunden von ihr genommen. Hinter ihrem florigen Schleier dämmerte ein weltfernes Licht auf, in den abgestorbenen Adern begann erneutes Leben zu fließen, der große Schmerz verging, und die Glocken, die von allen Kirchen riefen, gaben diesem Sonnenlicht einen wärmeren Ton; ihr Geläut erinnerte nicht mehr an die dumpfen Klagen um einen Verstorbenen. Aber dieses aufflackernde Leben währte nicht lange. Es war eitel Schein und ließ den Gedanken an mattes Rauschgold aufkommen, mit dem man die Abgeschiedenen schmückt, an Kirchhofsblumen, die auf Gräbern wachsen; denn sobald sich die Dämmerung auftat, hüllte sie sich wieder in ihre dunklen Kleider, und die Gasflammen der Straßenlaternen gemahnten an Unschlittkerzen, wie sie brennen am Tag Allerseelen. Da war es so, als käme vom Beghinenhofe eine schwarze Nonne gegangen. Sie ging eigentlich nicht, sondern schwebte in aller Heimlichkeit durch die mit Gras bewachsenen Straßen der grauen Stadt hin. In der Hand trug sie eine brennende Kerze. Ein weißes Gebände legte sich um das wächserne Gesicht, dessen Züge ein mattes Lächeln umspielte, aber ihre Augen waren geschlossen. Sie ging am Minnewater vorüber, wo verträumte Schwäne auf dem breiten Spiegel des Wassers wie große Seerosen schwammen, sie ging durch die Sankt Katharinenstraße, durch die Flandrische Straße, sie passierte die Hallen, die Kapelle vom Heiligen Blute, das Johannishospital, in welchem Hans Memling den Reliquienschrein der heiligen Ursula illuminiert hatte, die Liebfrauenkirche mit dem Sarkophag der schönen Maria – immer mit geschlossenen Augen und brennender Kerze, und wo sie vorbei kam, da wurde das Leben zum Schlafe, der Schlaf zum Tod. Hinter den weißen Musselingardinen der geschwärzten Giebel saß das Grauen und sah auf die Straße. Tot – tot – tot . . .! – Am Beghinenhofe hatte sie ihren Rundgang beendet. Sie löschte die Kerze – und wenn sie erlosch, war auch das Nönnchen verschwunden. Brügge war wieder das tote Brügge geworden. –

Heute aber lebte die alte Stadt; ein kaum wahrnehmbares Pulsen war in ihr. Die sanften Töne eines Harmoniums schwebten durch die Heilige Geist-Straße und wurden von hier aus bis zur Liebfrauenkirche getragen. Sie kamen aus einem düsteren, weitläuftigen Hause, dessen Fenster auf die grauen Dächer und Spitzbogen des Johannishospitales hinausgingen. Es waren Akkorde, lang ausgehalten und wie in den Lüften verschwebend. Schließlich gingen sie in die Melodie eines alten Kirchenliedes über, gewannen an Tonfülle, um dann wieder abzusterben und ganz zu verklingen.

Kurz darauf hallte von der Liebfrauenkirche die sechste Abendstunde herüber.

Fast gleichzeitig wurde an dem unfreundlichen Hause in der Heiligen Geist-Straße, dessen untere Fenster geblendet waren, die Klingel gezogen. Ein ungewöhnlich harter Ton, der sich wenig der ganzen Umgegend anpaßte, durchgellte das unbewohnte, scheinbar weit ausgedehnte Erdgeschoß, kam von den kahlen Wänden zurück, verstärkte sich und fand in den Räumen des ersten Stockwerkes einen heiseren Nachhall.

Heinrich vom Hövel, der kurz vorher der Bibliothek einen längeren Besuch abgestattet hatte und gekommen war, dem Prediger Erasmus van Dornick, mit dem er vor zwei Jahren in Sankt Anne innige Freundschaft geschlossen, seine Aufwartung zu machen, entsetzte sich ordentlich vor dem harten, gellenden Geräusch der infamen Klingel, die noch immer nachvibrierte und ihrer spitzen Zunge nicht Herr werden konnte. Es machte ihn unsicher, nervös. Nach all den ruhigen Tagen stillen Genießens wurde hierdurch seine behagliche Seelenstimmung unliebsam auseinandergerissen.

»So was ist ein Unding, eine Dissonanz im Schweigen des Todes,« dachte er unwillkürlich, als auch schon ein Mädchen erschien und ihn mit ihren blanken, runden Augen verwundert ansah. Sie war Grau in Grau gekleidet und trug ein kleines Spitzenhäubchen auf den straff gescheitelten Haaren. Sie kannte ihn wieder.

»As't üh belieft, Mynheer vom Hövel?« fragte sie schüchtern.

»Ist der Domine zu Hause?«

»Bitte, Mynheer,« sagte die Kleine, drückte die Tür ins Schloß und geleitete ihn über eine breit ausgelegte Wendeltreppe in das obere Stockwerk. Der Hauch des Unwirtlichen, Düsteren, Weltabgeschiedenen strömte ihm von allen Seiten entgegen. Die weiten Korridore mit ihren nackten Wänden, das nachgedunkelte Tafelwerk, die Dielen mit ihren klaffenden Fugen und dem leisen Geseufze, die Dämmerung, die in den Ecken saß und wie eine ungeheure Spinne ihre grauen Fäden durcheinander wirrte und ausspannte – alles das mutete ihn an, als sei er in ein Haus getreten, das die Geister bewohnten, und wäre nicht das blonde Mädchen mit dem Spitzenhäubchen gewesen . . .

»Darf ich Sie melden, Mynheer?« fragte es und deutete auf eine enge Tür, die aus einer weißgekalkten Nische heraussah.

In demselben Augenblick nahm das Harmonium wieder seine liebliche Stimme auf und ließ in wundersamer Folge seine herzerhebenden Töne erklingen. Diesen Tönen haftete etwas Körperliches an. Sie erinnerten an weißgekleidete Mädchen mit Buchsbaumkränzlein im Haar, die sich bei den Händen gefaßt hielten und, wie zu einer Prozession gereiht, die weiten Gänge feierlich durchschwebten. Und Weihrauch ging von ihnen aus und der Duft nach frischgebrochenen und verwelkenden Blumen. Ein sanftes Geklingel begleitete die jubilierenden Stimmen. Die Prozession wandelte immerfort und wollte kein Ende nehmen.

»Darf ich, Mynheer?« fragte das Mädchen noch einmal.

»Nein,« sagte Heinrich vom Hövel und hatte die Klinke der kleinen, zurückgelegenen Tür ergriffen, »ich will nicht stören.«

Lautlos trat er ins Zimmer. Ein mäßig großer Raum mit vergilbten Tapeten empfing ihn. Auf dem altmodischen Kamin tickte die Standuhr. Daneben erhob sich ein musivisches Gefäß in langgezogener Kelchform, auf dessen Rand die seltsam geformten Blätter und Staubfäden einer Passionsblume lagen. In diesem Zimmer atmete alles Ruhe und Frieden.

Über die Dächer des Sankt Johannishospitals fiel ein warmer Sonnenstrahl schräg in die Stube, und wo er hinfiel, weckte er einen flirrenden Goldglanz, der verklärend über die alten Möbel hinglitt und den Schmelz der getragenen Akkorde noch feierlicher machte.

Heinrich vom Hövel fühlte sich wie in dem mystischen Bann einer Kirche. Er ahnte die Gegenwart und den Odem des allmächtigen Gottes. Wie aus einer anderen Welt stammend, mutete ihn diese Musik an. Er wähnte das Rauschen von überirdischen Schwingen zu hören. Auf leisen Zehenspitzen trat er näher.

Erasmus van Dornick hatte seiner nicht acht. Den Kopf leicht nach rückwärts gebeugt, hielt er ihm den Rücken gewendet, und seine Finger glitten, wie selber beseligt, über die beinernen Tasten.

Das Thema wandelte sich. Es verlor den heiteren Goldglanz, die liebliche Struktur, das sanfte Gefüge; heilige Schauer mischten sich ein, die in ihrer tiefen Wehmut, in ihrem feierlichen Ernst an den Kelch und die Staubfäden der Passionsblume erinnerten.

»O Haupt voll Blut und Wunden . . .«

Ein großes Geheimnis tat sich auf und erzählte sein Leid in klagenden Tönen:

»Wie bist du so erbleichet?
Wer hat dein Augenlicht,
Dem sonst kein Licht mehr gleichet,
So schändlich zugericht't . . .

Die Blume im Kelchglas bekam Leben und Odem. Ranke um Ranke entwand sich ihr; ein verschlungenes Gewebe von Blättern und Stielen häkelte sich in ernsten Girlanden von Fenster zu Fenster, und, wie zu einem mystischen Kult, entfaltete sich Blume bei Blume.

Da brach plötzlich das Spiel ab. Der Prediger mußte gefühlt haben, daß er nicht mehr allein war.

»Domine,« sagte Heinrich vom Hövel.

»Lieber Gott . . .!« erstaunte sich der Angeredete und streckte seinem Gast beide Hände entgegen. In den versonnenen Augen des vornübergebeugten Mannes leuchtete ein freudiges Licht auf – und dieses Licht konnte Menschenherzen erwärmen. Es war ein Licht des Trostes und ein Licht der Erlösung, und nichts verriet in diesen versonnenen Augen, daß es Zeiten gegeben hatte und noch gab, wo sie vulkanisch aufflammen konnten, als wären sie niemals der Spiegel eines gütigen Herzens und eines milden Denkens gewesen. Und wenn sie es taten, dann geschah es, um wie Flammen zu läutern und Unkraut und böses Gesäme unschädlich zu machen. Erasmus van Dornick hatte feiertägige Augen und wieder Augen, welche vernichten konnten. Er hatte Tage des Glücks durchlebt, aber auch das Leid war nicht spurlos an seiner Schwelle vorübergegangen. Ergeben sah er auf das, was gewesen war und was noch kommen würde – und dennoch: über eine Sache konnte er sich nicht mehr hinwegtäuschen. Gewiß – er hatte mit eigenen Händen den Vorhang darüber gezogen, und seitdem waren Jahre vergangen. Aber was sollte das alles? Immer wieder gedachte er die Hände zu strecken, den Schleier zu heben, das Vergangene noch einmal vor seine Seele zu stellen. Aber dann dachte er wieder: Du mußt auf die richtige Stunde warten; vielleicht kommt sie niemals, vielleicht steht sie schon vor dir – und du kannst den Schleier zerreißen. Und so wartete er auf die richtige Stunde mit stiller Resignation und versonnenen Augen . . . und mit diesen versonnenen Augen sah er, überrascht und glücklich, in das Gesicht seines um viele Jahre jüngeren Freundes.

Mit einer leichten Bewegung des Kopfes warf er die bereiften, strähnigen Haare, die bis zu den Schultern herabfielen, nach rückwärts, deutete mit seiner weißen, schlanken Hand auf einen altmodischen Sessel und meinte: »Also wieder im Land, Sie lieber, unruhiger Geist! – Und Sie kommen, Meister vom Hövel . . .

»In erster Linie, um Ihnen und Ihrer Fräulein Tochter die Hand zu schütteln, um mich anwehen zu lassen von dem Geheimen und Geheimnisvollen, das Ihre vier Wände bewohnt. In Ihrem Hause ist wohl sein, Domine.«

»So, so, so!« lächelte der Prediger, »doch wohl das nicht allein. Aber ich bitte darum: nehmen Sie diesen Zweifel einem alten Manne nicht übel, der ein reges Interesse für Ihr Sinnen und Schaffen hat.«

»Na, denn,« sagte Heinrich vom Hövel, »Spiegelungen, Spiegelbilder . . .! – So närrisch und seltsam das auch klingen mag, so wenig Ihnen diese Worte auch sagen werden, so wohnt doch in ihnen eine tiefe Bedeutung, ein Etwas, das mich schon seit Jahren beschäftigt und seine geheimnisvollen Fäden bis in meine glückliche Pennälerzeit zurückspinnt. Und ferner – so paradox auch dieses ist: das soeben Gesagte legt mir die Pflicht auf, mich noch mehr denn früher in die Rolle eines Samariters der Seele hineinzuleben.«

»Und das wäre?« fragte Erasmus van Dornick.

»Sie hören später davon. Zurzeit dürfte noch manches verfrüht sein. In Sankt Anne jedoch werden Sie voraussichtlich Gelegenheit finden, Blicke in ein eigentümliches Menschenschicksal zu tun, das gleichsam mit Dornen umwunden ist, und dem es endlich vergönnt sein möge, anstatt der Dornen Blumen um sich zu wissen. Es sind Spiegelungen, Spiegelbilder, denen eine verhängnisvolle Kraft innewohnt, die nachhaltig wirken und nicht schwinden wollen. Aber eben sie müssen zum Schwinden gebracht werden, und darin liegt für mich das Amt eines Samariters der Seele. Doch genug hiervon. Domine, ich bin noch aus einem anderen Grunde gekommen.«

»Nun?« meinte der Prediger und legte seine weißen Hände zusammen.

»Darf ich mir zuvor eine Frage erlauben?«

»Ich bitte darum.«

»Wie weit sind Sie mit Ihren Studien über Hans Memling gekommen? Soviel ich mich erinnere, waren Sie willens, Ihre Forschungen bereits kurz vor der Ostermesse . . .«

»Allerdings,« fiel Erasmus van Dornick dazwischen, »mißliche Umstände jedoch, das Fehlen wichtiger Handschriften, um dem Werke die Rundung zu geben, machten es mir leider unmöglich, den geplanten Termin innezuhalten.«

»Also doch bei der Stange geblieben,« meinte Heinrich vom Hövel, »und ich fürchtete schon . . .«

»Ich hätte bei meinen Grübeleien den Atem verloren,« lächelte Erasmus van Dornick. »Nein, nein, mein Lieber – es würde mir nicht anstehn, die Sichel aus der Hand zu legen, wenn das Korn nach der Ernte verlangt. Ein wogendes Getreidefeld liegt vor mir, und ich will ernten, mein Lieber. Seitdem gewisse Verhältnisse mich dazu drängten – sagen wir besser: seitdem ich amtsmüde wurde und die leere, kalte Stadt an der Elbe mit Brügge vertauschte, war es ein Herzensbedürfnis für mich, die ehrwürdige Gestalt Hans Memlings von ihrem Staube zu säubern und dem Leben näher zu rücken. Inwiefern mir dieses gelungen ist, dieses zu beurteilen muß ich späteren Tagen und Berufenen überlassen. Aber was mich anbetrifft, ich habe in dieser Arbeit wahre Befriedigung gefunden. Alte Zeiten sahen mich in kindlicher Einfalt an, und während ich schrieb, blickten mir liebe Gesichter über die Schultern. Daß ich's nur sage: Rogier van der Weyden und Hans Memling waren mir nahe in diesen seligen Stunden des Schaffens. Ich fühlte ihre Größe, ich sprach mit ihnen, ich drückte ihnen die Hand – und dazu klang das Glockenspiel von den Hallen herüber. Ich vergaß über der Arbeit so manches, was ich mir vorgenommen hatte zu vergessen und wegen seines Leides doch nur schwer vergessen konnte – und so sind diese Studien für mich Stunden der Erbauung geworden. Wie die Blätter eines Gebetbuches liegen sie vor mir. Aus ihnen strahlt mir das Abendrot meines Lebens entgegen.«

Erasmus van Dornick schwieg.

»Beneidenswert,« sagte Heinrich vom Hövel, »und glücklich der, wem solches Abendrot beschieden ist.«

»Ich danke Ihnen,« nickte der Prediger.

»Und das Manuskript selber . . .?« fragte Heinrich vom Hövel.

»Dort,« sagte van Dornick und deutete auf einen voluminösen Band, der zwischen anderen Büchern auf der obersten Etage eines Repositoriums ruhte. »Getrosten Herzens kann ich es dem Druck übergeben, denn es ist spruchreif geworden. Auch das Subtilste ist von mir nicht außer Obacht gelassen, so daß ich mich wohl zu der Behauptung versteigen darf, etliche Lichtstrahlen, die klärend wirken müssen, in das vielumstrittene Leben dieses eigentümlichen Künstlers der vlämischen Schule geworfen zu haben. Und somit . . .«

»Auch hinsichtlich seines Geburtsortes?« unterbrach ihn Heinrich vom Hövel.

»Gewiß. Schon van Mander erwähnt unter den Meistern von Brügge eines Deutschen Hans, den man mit Hans Singer identifizieren zu können glaubte. Diese Frage ist nunmehr gelöst: der ›Deutsche‹ Hans und Hans Memling ist ein und derselbe, was aber nicht berechtigt, ihn den Unsern beizuzählen, zumal ich die Ansicht vertrete, daß nicht der Geburtsschein, sondern der Stil, sein Fühlen und Denken, den wahren Heimatsausweis für den Künstler abgibt.«

»Richtig,« bemerkte Heinrich vom Hövel.

»Aber der Geburt nach ist er und bleibt er ein Deutscher,« ergänzte der Prediger, »und Mömlingen bei Aschaffenburg ist nach wie vor als seine Heimat anzusprechen. Ich habe diese Ansicht auch klipp und klar in den vorliegenden Blättern vertreten. Daß Memling unter Karl dem Kühnen bei Nancy gekämpft haben soll, dort verwundet worden sei und aus Dankbarkeit für die ihm bei den Schwestern des hiesigen Johannishospitals erwiesene Pflege seine Kunst fast ausschließlich der frommen Anstalt gewidmet habe – diese bisher vielfach verbreitete Ansicht ist jedoch unbedingt in das Gebiet der Fabel zu weisen.«

»Kein Zweifel, Domine,« sagte Heinrich vom Hövel, der mit sichtlichem Interesse den Auslassungen seines Freundes gefolgt war, »allein ich gehe noch weiter. Auch die Ansicht über seinen Geburtsort, die Sie so lebhaft verfechten, ist antiquiert und kann von nun an ihr beschauliches Dasein in der Rumpelkammer verbringen.«

»Aber, mein Bester . . .

Mit einer energischen Handbewegung erhob sich Erasmus.

»Es werde Licht,« hielt ihm Heinrich vom Hövel bestimmt entgegen, indem er gleichfalls aufstand. »Der verflossene Winter brachte mich nach Mainz. Das ›Warum‹ ist nebensächlich. Es betraf eine Erbregulierung, die mich im Interesse eines nahen Verwandten auf der dortigen Bibliothek nachforschen ließ. Bei dieser Gelegenheit machte mich der Bibliothekar, ein viver Mann in den sechziger Jahren, dem bekannt sein mußte, daß ich mich während der Sommermonate in der Nähe von Brügge aufhielt, mit einem Altenbündel vertraut, das wichtige Aufschlüsse über die vlämische Malerschule enthielt. Ich bat mir die Papiere aus, und bei näherem Studium fand sich, daß sie auf eine Urkunde in der Bibliothek von Saint Omer verwiesen. Ich dachte an Sie, und bei meiner Rückkehr nach hier konnte ich es nicht unterlassen, einen Abstecher nach Saint Omer in der Grafschaft Artois zu machen. An der Hand des mir gewordenen Materials forschte ich unter den Inkunabeln und Handschriften nach und hatte schließlich die Genugtuung, das zu finden, was ich suchte. Und dieses, Domine, ist auch der springende Punkt meines heutigen Kommens gewesen.«

»Nun?« fragte Erasmus. Seine Augen leuchteten.

»Hier diese Notizen geben Ihnen den näheren Aufschluß,« sagte Heinrich vom Hövel, »und sie wollen nichts anderes, als Ihnen den Beweis erbringen, daß der große Künstler nicht in Mömlingen, sondern in Mainz geboren wurde.«

Der Prediger war sprachlos geworden, dann aber fuhr er sich durch die eisgrauen Haare und meinte mit einer Stimme, der man den inneren Jubel anmerken konnte: »Da haben Sie mir einen Dienst erwiesen, Meister vom Hövel – einen Dienst, sage ich Ihnen . . .«

Er sprach nicht weiter. Etwas wie das Geraschel von Frauenkleidern, das aus dem seitwärts gelegenen Zimmer herkommen mußte, drängte sich unliebsam in seine freudige Stimmung. Eben von einem Spaziergang zurückgekehrt, gesellte sich ihnen die Tochter des Hauses. Der Hauch eines jugendlichen Frauenkörpers, von dem etwas Herbes, Jungfräuliches ausging, zerstreute die Schemen vergangener Tage, den Duft nach alten Handschriften und vergilbten Papieren, die Hypothesen über die alten Meister der vlämischen Schule, denn mit dem Erscheinen der schönen Anna van Dornick war es so, als sei auch dem schwermütigen Hause in der Heiligen Geist-Straße der Puls und das Leben wiedergegeben. Ruhigen und weichen Schrittes, fast ohne die Füße zu heben, war sie näher gekommen. In dem horizontal einfallenden Abendlicht leuchtete ihr schweres Haar, das sie zu einer Krone verflochten hatte, wie flüssiges Gold auf. Ihre stahlgrauen Augen, die, von zarten Schatten umhegt, verträumt und weltverloren in dem weißen Medaillengesicht standen, verlängerten sich zu einem seltsamen Lächeln und erinnerten an jenes rätselhafte Licht, dem es gegeben war, ganz nach Willkür den liebesuchenden Mann auf den Pfad der Glückseligkeit oder den des Todes zu führen. Ohne Gürtel und Spangen legte sich ihr Kleid aus zartem Wollstoff um den geschmeidigen Körper, ließ das Weiche und den Reiz seiner Linien deutlich erkennen und verwischte den Eindruck, als müsse ihre zierliche Taille durch das Gewicht der jungfräulichen Büste ermüden. Etwas von dem, was den Frauengestalten auf den Tafeln niederländischer Meister anhaftet, was sie mit einem Zauber umgibt und das Sehnen wachruft, den Kuß ihres Mundes zu fühlen und nach den Liebkosungen ihrer Hände zu bangen – alles dieses ging auch von Anna van Dornick aus und erfüllte den weiten Raum, den sonst nur der Geist des Sittenstrengen, Forschenden und Suchenden bewohnte, mit dem eigentümlichen Duft einer schweren und narkotischen Welle.

Erst hatte sie ihren Fuß an der Schwelle gehalten, gleichsam als fürchte sie, die Unterhaltung zu stören, dann aber, als sie sah, wer angekommen, reichte sie dem Freunde die Hand hin und sagte: »Wenn die Uferränder blau von Veilchen werden, ist der Frühling nicht fern, und wenn die Malven blühen . . .«

»Ist der Strandmensch von Sankt Anne gekommen,« lachte Heinrich vom Hövel.

»›Strandherr‹ wollten Sie sagen,« warf Anna van Dornick dazwischen, »denn wer wie Sie durch Wetter und Wind geht, das Meer belauscht, wenn es schläft, dem Meer gebietet, wenn es aufwacht und höhnisch seine Schaumfetzen ins Land wirft, wer sieht, was alltägliche Augen nicht sehen, und zu deuten weiß, was die Dünen atmen und sinnen, wenn sie verträumt unter dem Mond liegen, ist füglich berechtigt, allen Anspruch auf den Ehrentitel eines Strandherrn zu machen. – Und daher – herzlich willkommen, Herr Strandherr.«

»Wird unterschrieben,« dekretierte der Prediger und nahm die Hand seines Freundes, »allein ich lege auch Gewicht darauf, ihn als Pfadfinder in die Erscheinung treten zu lassen, denn du mußt wissen, mein Kind, daß Herr vom Hövel auf dem Gebiete der Forschung . . .«

»Aber wieso denn?«

»Nichts, nichts, nichts – meine Gnädigste. Lediglich die blinde Laune des Zufalls. Aber das mit dem Strandherrn akzeptiere ich in optima forma – und bestimme daher in Kraft meines Amtes: binnen acht Tagen wollen Sie geruhen, Ihren feierlichen Einzug in Sankt Anne zu halten. Alles ist schon zu Ihrem Empfang in die Wege geleitet. Die erste Hofmeisterin, Bernadintje Bottertje, ist bereits in voller Tätigkeit, das Absteigequartier auf das Gentilste und Würdigste herzurichten. Frische Gardinen, blankgescheuerte Dielen! – am Fenster Levkojen und Krauseminze, die ihren Weihrauch spenden, um in schönster Blütenfülle ihrer neuen Herrin zu dienen. Moritz ist zudem mit einem Transparent beschäftigt, die via triumphalis zu schmücken, und Jan Bottertje selber, der köstlichste aller Mynheers, wird es sich nicht nehmen lassen, dero Gnaden eigenhändig in die sauber hergerichtete Sommerresidenz zu kutschieren – und das unter freudigem Gequiekse von Amalie, Sophie und Doortje.«

In den Augen des schönen Mädchens zuckte ein heiteres Licht auf.

»Wie ich sehe, haben Sie an Ihrer Originalität noch keine Einbuße erlitten, mein Strandherr.«

»Wäre auch schade,« gab Heinrich vom Hövel zurück. »Und somit abgemacht, meine Gnädigste?«

»Abgemacht,« sagte Anna van Dornick, und ihre Hand drückte herzlich die ihres Besuches.

Von der Liebfrauenkirche drang eine weitere Stunde durch die geöffneten Fenster, und als sie mit langsamen Schlägen aushallte, verlor auch das Gesicht Heinrich vom Hövels das Selbstgefällige und den fröhlichen Ausdruck. Für einen Augenblick schloß er wie geistesabwesend die Augen, dann sprach er leise, aber jedes Wort bestimmt unterstreichend, indem er noch immer die ihm gebotene Rechte fest hielt: »Und dann wollen wir wie im verflossenen Sommer über die Dünen gehn – ganz sachte und sinnig, auf daß wir hören, was der Strandhafer plaudert, auf daß wir vernehmen, wie die ferne Glocke von Sankt Anne herübertönt und unter ihren Schwingungen der Friede des Abends sich niedertut, Erde und Menschen deckt und denen Erlösung bringt, die nach Erlösung ringen.«

Heinrich vom Hövel war nicht wieder zu kennen. Das einfallende Licht ließ die Schattenpartien seines Gesichtes schärfer hervortreten; er schien älter geworden; seine Worte nahmen einen wärmeren und weicheren Ton an.

»Es wäre Zeit für mich,« sagte er wieder, »aber bevor ich gehe, müssen Sie wissen, worauf ich hinauswill. Das ewige Meer, die stillen Dünen und das ferne Läuten tun es allein nicht. Und daher« – und seine Stimme ging über sich selbst fort – »Sie müssen mir helfen; Anna van Dornick, Sie müssen Ihre weißen Hände strecken – die weißen, schönen Hände – und sie ganz sacht und still auf ein krankes Menschenherz legen. Es gehört dem Geschlecht der Ruhelosen an und sehnt sich nach Ruhe.«

Erregt trat der Prediger näher.

»Was bedeutet das alles?« meinte er unsicher und mit einer fast scheuen Betonung.

»Domine, ich kann nur wiederholen, was ich Ihnen vorhin schon sagte. Es handelt sich auch jetzt um die Spiegelungen und Spiegelbilder von eben, und ich glaube . . .«

Langsam richtete er wieder die Blicke auf Anna van Dornick, »ich glaube, Sie haben die Macht, die ziellose Unruhe eines heimgesuchten Lebens in die richtigen Bahnen zu leiten. Strecken Sie Ihre Hände, Ihre schneeweißen Hände . . .

Er trat einen Schritt zurück.

»Von Ihnen geht etwas aus, das alles hinwegnimmt – alles, alles!«

Sie sah ihn groß und starr an. Es war so, als flatterte in ihrem Innern etwas wie Angst auf, die Angst vor dem Unbegreiflichen. Unwillkürlich sah sie auf ihre Hände. Alles Blut wich aus ihrem Antlitz.

»Von wem sprechen Sie eigentlich?« fragte sie mit fliegender Eile. Ihre Brauen hatten sich aneinander geschoben. Ein eisiger Hauch umwehte sie.

Still und traurig begegnete er ihren kalten Augen.

»Von meinem Freunde Hans Behrend.«

»Von dem Sie früher schon sprachen – und dessen Name . . .«

»Ja,« sagte er ruhig.

Wie eine Erlösung rang es sich von ihrem Herzen herunter. Ihre Blicke weiteten sich. Alles Herbe ging unter.

»Und warum glauben Sie das?«

Ihre Worte waren weich und zärtlich geworden.

»Weil ich es weiß,« sagte er mit derselben Ruhe von eben, »denn wo Meer und Himmel und Sie sind . . .«

Er streckte ihr die Hand zum Abschied entgegen.

»Leben Sie wohl,« sagte sie mit verhaltenem Atem, ohne noch einmal aufzusehen.

Dann ging er.

In der Tür blieb er noch einmal stehen und wandte sich zu ihr.

»Also auf Wiedersehn . . .

»Ja, auf Wiedersehn,« sagte sie leise.

Ihre große, schöne, wehe Stimme klang ihm wie aus weiter Ferne herüber.

Von Erasmus van Dornick begleitet, der kopfschüttelnd neben ihm ging, verließ er das Zimmer.

 


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