Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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XVI

Als hätte ihn der Odem des wieder abflauenden Sturmes ins Zimmer getragen . . .

Unheimlich standen sich die beiden Männer gegenüber: er – Fritz Heiking und Erasmus van Dornick, jeder die Frage auf den Lippen: Was soll nun werden? Keiner schien die Antwort zu finden. Sekunde reihte sich an Sekunde; das Schweigen hielt an, zeitweilig unterbrochen von dem melancholischen Seufzen des Windes, der, in sich zusammengefallen, nur greisenhaft zu winseln vermochte.

Das Kerzenlicht warf eine matte Helle über die einsamen Menschen. Sie kannten sich nur flüchtig, persönlich nur flüchtig; die gegenwärtige Stunde sollte sie näher zusammenbringen.

Die Stille wurde quälend. Unaufhörlich spann sie ihre trostlosen Fäden. Aber schließlich mußten sie reißen – und Erasmus zerriß sie.

»Also Sie, Herr Geheimrat . . .

Seine rechte Hand umspannte krampfhaft die Tischkante, als er die wenigen Worte herausgebracht hatte.

Der Angeredete fand eine zeremonielle Neigung des Kopfes; im übrigen verharrte er in seiner vornehmen Gelassentheit.

Und wieder das dumpfe Brüten von eben.

Einen Augenblick beugte sich der Prediger vor dieser Ruhe. Aber seine Blicke waren die alten geblieben; sie sahen dem Eindringling bis in die innerste Seele.

Es gibt Menschengesichter, die einschmeicheln, die etwas Anziehendes haben und dennoch mit scharfen Linien durchpflügt sind. Sie üben eine magische Kraft aus und spiegeln die Leidenschaft wider, die, alle Rücksicht beiseite schiebend, lediglich die eigene Tat anbetet und im Weib nur ein gefügiges Werkzeug vermutet. Es sind Janusgesichter. Sie atmen Lebensfreude und haben dennoch ein hippokratisches Lächeln. Sie sind zu faszinierend, um schön zu sein. Sie haben einen klassischen Anflug. Sie sind gefährlich wie Rätsel.

Ein solches Gesicht zeigte sich ihm.

Der Prediger reckte sich auf. Unter seinen harten Brauen lag etwas Starres, Brennendes. Er hatte um das Glück seines Kindes zu würfeln – und da stand der Mensch, der es ihm streitig machte.

»Und der Zweck Ihres Kommens . . .?« fragte er heftig.

»Dürften Sie wissen,« kam es frostig zurück. »Brief und Depesche sind klar und deutlich gewesen. Sie müssen den Ernst, der darin liegt, herausgefühlt haben.«

»Und das so spät, Herr Geheimrat? – wo Sie doch in einer klaren Begründung benachrichtigt wurden . . . wo man Ihnen nahelegte . . . Offen gestanden: Sie wurden nicht mehr erwartet.«

»Also nicht mehr erwartet. Ich meine: auch von ihr nicht . . .? – Ich bitte darum, Ihnen Erklärung geben zu dürfen. Eine dringliche Mission, lediglich politischer Natur, rief mich ganz unvorhergesehen von der englischen Botschaft. Ich will mich deutlicher ausdrücken. Der mir unverständliche Brief Ihrer Fräulein Tochter hatte das zweifelhafte Glück, seine Reise nach Berlin über London zu nehmen. Tage um Tage vergingen. Das stürmische Wetter setzte dem Unheil die Krone auf. – Er gelangte zu spät in meine Hände – sonst: ich wäre früher gekommen.«

»Und Sie gedenken auch jetzt noch . . .

»Gewiß. Andernfalls wäre es unbesonnen von mir, mich dieser heiklen Situation auszusetzen. Sie ist mehr als verzweifelt, und es erübrigt nur, der vorgerückten Stunde wegen um Nachsicht zu bitten.«

»Die Stunde ist gut. Stündlich, bis tief in die Nacht hinein, sind mir liebe Menschen willkommen. Sie aber« – und die Stimme des Predigers nahm einen schärferen Ton an – »Sie führt nichts weiter nach hier, als unsern Frieden zu stören.«

»Sie irren. Ich kam, um Ihnen den Frieden zu bringen.«

Ein herbes, kurzes Lachen schlug ihm entgegen.

»Eine seltsame Logik! – eine Logik, die Sie, Herr Geheimrat, schon vor etlichen Jahren in die Tat übersetzten, als Sie ein harmloses Menschenleben zu betören versuchten – und leider betörten, und dieses Menschenleben die Kraft nicht besaß, Sie in die Schranken zu weisen.«

»Hochwürden . . .

»Ich ersuche Sie, mich nicht zu unterbrechen. Was soll das Erstaunen? Legen wir doch alle konventionellen Floskeln beiseite – auch die des Erstaunens. Jonglieren wir nicht mit diplomatischen Künsten, vornehmlich dann nicht, wenn sie total aus der Rolle fallen und fallen müssen. Um was es sich handelt, das wissen wir beide – Sie so gut als ich, und deshalb sind alle Zickzackgänge vom Übel. Der gerade Weg ist der beste. Kurz und bündig: auf das, was Sie fertig gebracht haben, können Sie stolz sein. Ich gratuliere.«

Heiking fuhr kurz auf. Gereizt hatte er seinen Zylinder auf den Kaminsims geschoben. Seine Züge jedoch blieben kalt und bewegungslos.

»Und die Begründung der aufgestellten Voraussetzung . . .

»Ist diese,« sagte Erasmus. »Sie wollen sich und mir eine qualvolle Stunde bereiten; es sei denn. Sie wissen, wie ich gleich beim ersten Entstehen die verderbte Leidenschaft aufgefaßt habe: sie war sündig bis in den Wurzelstock hinein und hat es fertig gebracht, unsägliches Elend über mich und mein Haus zu bringen. Glauben Sie mir: hier sitzt das und würgt das, und mein ganzes Dasein hat darüber Schaden genommen. Ich bin der letzte, der meine Tochter verteidigt, der sie verteidigen möchte. Das steht mir nicht an und darf mir nicht anstehn. Auch sie hat ehrlich dafür gesorgt, eine verfängliche Situation zu schaffen – aber Sie, Herr Geheimrat . . .«

Er verflocht seine Fingergelenke.

»Aber Sie, Herr Geheimrat, luden sich eine doppelte Schuld auf – gegen mein Kind und der gegenüber, von der ich nicht annehmen will, daß sie das Opfer dieser Verfehlung geworden ist. Gebe der Herr, daß sie nicht am gebrochenen Herzen dahinging.«

Es lag etwas in der Luft wie vor einem Gewitter. Unsicher vor sich hinblickend, klemmte Heiking die Unterlippe zwischen die Zähne. Die zusammengelegten Handschuhe zog er langsam durch die aristokratischen Finger. Er fühlte die Blicke des Predigers auf sich gerichtet. Aus den soeben gehörten Worten wuchs die Anklage heraus – immer größer und größer . . . Sie war drohend geworden.

»Ihren Standpunkt in Ehren,« meinte er schließlich, »aber was soll das alles? Lassen wir doch das Peinliche der vergangenen Tage. Es bringt uns nicht weiter. Was tot ist, ist tot. Das müssen auch Sie begreifen. Ich hab's überwunden.«

»Sie – aber nicht ich. – Nein, Herr Geheimrat, im Punkt der Ehre und der Moral erkenne ich nur einen Kodex an. Darüber hinaus liegt die Sündflut – und mir liegt es ob, gewissenhaft nach seinen Regeln und Normen zu handeln.«

»Das soll also heißen . . .

»Die Folgerung daraus überlasse ich Ihrem Ermessen.«

»Hm, pardon! – wenn Sie damit sagen wollen, Hochwürden, daß ich mich auf wankendem Boden befand – damals, als die Liebe sturmartig über mich hereinbrach, als ich trotz meiner Schuld vom Besten beherrscht war: Sie mögen recht haben, und ich unterfange mich nicht, Ihnen dieses abdisputieren zu wollen.«

»Wäre auch fruchtlos. Die Anklage besteht, sie haftet Ihnen als Makel an, sie läßt sich durch nichts beschönigen – und es wäre besser gewesen, Sie hätten die Schwäche des Herzens, das Ungezügelte einer verdammenswerten Neigung im Interesse der Moral und einer gesunden Vernunft zu unterdrücken verstanden.«

»Noch besser, Hochwürden, wir ließen die Vergangenheit ruhen.«

Heiking verfärbte sich. Eine flackernde Röte warf sich jäh über sein Antlitz.

Er zuckte die Achseln.

»Ich habe nur menschlich gehandelt.«

»Allerdings, sagte Erasmus mit bitterer Schärfe, »aber es gibt Menschliches, das hart am Verbrechen und der göttlichen Satzung vorbeistreift.«

»Hochwürden, ich habe gebüßt,« und die Faust des Sprechers fuhr gegen das Herz. »Was ich besitze oder zu besitzen glaube, ist aus tiefem Leid hervorgegangen, und jetzt, wo ich Erdreich unter den Füßen habe, liegt mir der Wille und die heilige Pflicht ob . . .«

»Was – heilige Pflicht?!« hielt ihm der Prediger mit wachsender Stimme entgegen, »höchstens eine eingebildete Pflicht, eine verkehrte Pflicht, die jämmerlich zusammenbrechen muß, wenn ich mich gezwungen sehe, meinen Appell an die Tote zu richten.«

Mit beinah starrem Ausdruck sah er seinem Gegner ins Auge. Unwillkürlich wich Heiking dem richterlichen Blick aus. Sekundenlang beugte er sich vor der Gewalt des Mannes, in dem er einen Hasser und Vergelter gefunden hatte, und der jetzt mit seinen gebleichten Haaren und dem hartgemeißelten Antlitz vor ihm stand, als wäre er ein Rufer des Alten Testamentes. Die Not kroch in allen Ecken herum; es war so, als sänke ein schwarzer Schleier von der Decke herunter. Heiking fühlte das Körperliche dieses niedersinkenden Schleiers. Von der Hand des Todes berührt, mochten seine Gedanken in die Vergangenheit abirren. Vielleicht standen ihm in diesem Augenblicke die nackten Felsen von Capri vor Augen – und das sonnentrunkene Meer – und ein stilles, verklärtes Frauenantlitz, das nicht mehr aufwachen konnte. Vielleicht auch . . . Waren nicht schon genug Tränen um ihn geflossen? Sollte die Ernte noch immer reichlicher werden? Was war überhaupt der Zweck seines Kommens? Eine begehrliche Liebe – gewiß! – aber auch eine Liebe, von der er wissen mußte, daß sie, mit allen Mitteln durchgefochten, das Zerstörungswerk bis ins kleinste hinein vollenden würde. Die verstand schon gründliche Arbeit, die hatte ihn noch niemals betrogen und ging über Leichen. Dieser Gedanke war bei ihm. Er wehrte ihn nicht ab; er hielt ihn fest und war gewillt, seine Leidenschaft über das niedergeworfene Glück anderer Menschen siegreich hinweg zu tragen. Und was auch kommen würde und mußte: Ellenbogenfreiheit für seine eigene Person – das blieb Trumpf in der langen Kette seiner Erwägungen. Er war schon mit anderen Dingen fertig geworden – und er erinnerte sich nicht, nach seinen Erfolgen eine unbequeme Reue empfunden zu haben. Warum auch? Er gehörte eben nicht zu den weichlichen Naturen, die das Prinzip der Entsagung verfechten. Alles schlichten, glätten, versöhnen – rein lachhaft! – Es fiel ihm nicht ein, durch die reale Welt der Sinne wie in einem Traum zu wandeln. Seine Lebensphilosophie wies einen kernigen Inhalt auf. Nur kein Vegetieren im Dämmern! – Nein, aber das Leben entfesseln, es an die Brust reißen – das war es. Eine bezwingende Sehnsucht nach ihr . . . ein heißes Wollen . . . eine rücksichtslose Begierde . . . aber kein forciertes Entbehren: diesen Normen gemäß hatte er sein Verhalten einzurichten, und ein wilder Drang, den Blick ihres schönen Auges herauszufordern, ergriff ihn. Über seinem Gefühlsleben lag nur eine leichte Decke gespreitet. Der leiseste Wind konnte sie heben.

Heiking erkannte das. Er ließ sich nicht einschüchtern. Seine hohe Gestalt dehnte sich in dem eleganten Zweireiher mit den glockenförmigen Schößen, als sei er wieder Herr über die zerflatterten Augenblicke geworden. Und er war es. Die Tote lag ruhig am Gestade des Meeres; sie störte ihn nicht mehr.

»Hochwürden, nach dem soeben Gehörten . . .« sagte er überlegen, »wir verstehen uns nicht und werden uns niemals verstehen.«

»Weil Sie gewohnt sind, nur nach vagen Impulsen zu handeln.«

Heiking erbebte. Hatte er recht gehört? – Nur nach vagen Impulsen . . . Er zwang sich zur Ruhe.

»Irr' ich mich – oder . . .

Er fixierte den Prediger.

»Schon richtig.«

»Hochwürden, dann bitte ich mir einen anderen Ton aus. Wenn eins mir fern liegt, so ist es die Betätigung Ihrer kühnen Behauptung. Ich gehöre nicht in die Kategorie derjenigen, die überhaupt nach Impulsen ihr Lebensglück auzubauen gedenken. Meine Entschlüsse sind die konsequenten Folgerungen eines langen Kampfes und einer tiefen Erwägung gewesen; sie handeln nach unbeugsamen Gesetzen. Da gibt es kein Abschweifen. Der Weg, den ich betreten habe, ist mir vorgezeichnet, und seien Sie überzeugt, ich weiß mein Ziel zu erreichen.«

»Oder nicht.«

»Ja – Hochwürden, ich werde, ich werde.«

»Und ich sage Ihnen, Sie werden es nicht, oder es sei denn . . .«

Mit der geballten Hand schlug der Prediger auf den Tisch.

»Sie geben sich doch nicht dem Wahn hin,« fuhr er bedrohlich fort, »ich könnte all das Durchlebte und die Tote vergessen? Sie glauben doch nicht, die Welt würde lächelnden Mundes über die neue Skandalaffäre hinweggehn? Es wäre ein irriger Glaube. Es gibt Dinge, die nach Gewalt schreien. So dich ein Auge ärgert, reiß es aus . . .«

Er mußte an sich halten.

»Mag die Welt über mich denken, was sie will,« entgegnete Heiking.

»Das ist Ihre Maxime, und Sie bezwecken nichts weiter, als uns zugrunde zu richten.«

»Ich setze meine Selbstsucht der Ihren entgegen. Ich habe Unrecht in Recht zu verkehren und nehme den Kampf auf.«

Erasmus trat näher. Er ging wie ein Verzweifelnder.

»Herr! – und wissen Sie, was es heißt und bedeutet, einen Kampf aufzunehmen, um sündige Rechte geltend zu machen?«

»Ich? – ja,« sagte Heiking. Über seine Züge flog ein kaustisches Lächeln. Den langfadigen Schnurrbart ließ er langsam durch die Finger gleiten. »Hochwürden, die Entscheidung darüber müssen Sie schon mir überlassen.«

»So sage ich Ihnen, daß Sie Ihre Kraft überschätzen. Sie wissen doch, was inzwischen alles passiert ist, und daran werden Ihre Maßnahmen zerschellen.«

»Sie werden es nicht. Der Zweck meines Hierseins ist eben der, Ihnen dies begreiflich zu machen. Hochwürden, Sie haben Ihr Leben – ich habe das meine zu leben, und aus einer zwingenden Verpflichtung heraus ist die Konsequenz dieser meiner Handlungsweise entstanden.«

»Keineswegs,« wies ihn Erasmus schroff zurück, »zumal nicht, wo Ihnen doch deutlich dargetan wurde, sich dieser angemaßten Verpflichtung zu entschlagen.«

»Dargetan . . .! – allerdings, aber worauf denn?«

Heiking machte eine Bewegung, als müsse er etwas Widerwärtiges beiseite schieben.

»Lediglich auf Grund eines krankhaften Empfindens und einer leeren Intrige.«

»Herr Geheimrat . . .

»Hochwürden, reden wir doch vernünftig zusammen. Was soll das Versteckspielen? Sie wissen ebensogut als ich: wenn alles nicht täuscht, ist sie einer mir unbegreiflichen Hypnose zum Opfer gefallen. Das ›Wie‹ allerdings muß noch eruiert werden. Ich komme später darauf zurück. Gut! – die Tatsache besteht: sie wurde mir von der Seite gerissen – scheinbar von der Seite gerissen, und das in dem Augenblick, wo ich felsenfest auf sie gebaut hatte; aber ich bin Manns genug, mich in meiner Position zu behaupten und sie mir zurückzuerobern.«

Er streckte die Hand aus und krampfte sie.

»Hochwürden, jedem sein Recht! – Ich lasse mich nicht zum Popanz einer psychologischen Studie machen. Ich habe das Drama entriert und bin auch willens, es zu Ende zu führen, selbst auf die Gefahr hin, es könnte sich zu einem Trauerspiel auswachsen.«

Erasmus sah ihn an, als habe er einen Wahnsinnigen vor sich. Aber er sah nur die Mienen eines gefesteten Mannes, für den es keine Überraschungen mehr gab. Immer derselbe unveränderliche Ausdruck: kalt, entschlossen, berechnend.

»Auch dann noch,« schrie er auf, als stände das Entsetzen hinter ihm, »wo sich eine lautere Neigung des Herzens meiner Tochter bemächtigt hat, wo sie in den Armen Ihres Freundes, wenigstens Ihres früheren Freundes . . .«

Seine Stimme schlug um: »Auch da können Sie die Stirne noch haben?!«

Mit kräftiger Faust ergriff er das Handgelenk des Eindringlings.

»Auch jetzt noch?!«

Seine Augen gluteten.

Man hörte den Atem der beiden, so still und einsam war es mittlerweile geworden.

»Ja,« nickte Heiking, »auch dann noch.«

Totenbleich fuhr der Prediger zurück.

»Versetzen Sie sich in meine Lage,« keuchte er in seiner Marter auf, »in die meiner Tochter. – Haben Sie doch Mitleid mit uns. Ich will Sie segnen, wenn Sie es haben. Machen Sie es ihr doch leichter, den Weg zurückzufinden, der zur wahrhaften Ruhe führt – und finden Sie selber eine glückliche Stunde . . .«

Seine Worte erstickten. Er war schwach gegen seine Überzeugung geworden; er war wie ein Bettler.

»Ich kann Früheres nicht ungeschehen machen,« versetzte Heiking. »Ich will sie erlösen.«

Der Prediger taumelte.

»Das wollen Sie nicht. Sie richten zugrunde, was Sie zu erretten gedenken. – Herr!« rief er aus und schmiß sein Bettlertum beiseite, »hier ist ein Haus, das wieder aufwärts will. Hier sind Seelen, die nach Befreiung ringen. Hier ist ein Herz, das auf dem Wege zum Himmel ist. Bringen Sie es mir nicht wieder herunter. Verstehen Sie mich . . .?!«

Er warf den Kopf zurück. Sein Schatten wuchs bei dem niederen Licht bis hoch an die Decke. In Erasmus lag etwas, das an sein früheres Amt erinnerte, als er noch gebieten konnte: Auf die Knie – ich will es.

Heiking stand unerschütterlich; aber er hatte sein überlegenes Lächeln verloren. Er sagte: »Sie sind irre an Ihrer eigenen Tochter geworden, sonst könnten Sie mir nicht so unverantwortlich begegnen.«

»Nein!« rief Erasmus, »ich bin nicht irre an ihr. Sie aber . . . Lassen Sie sie los! – Geben Sie sie frei! – Wie kommen Sie überhaupt dazu . . .?!«

Seine Stimme dröhnte wie der wehe Ton einer geborstenen Glocke.

Er sprach vergebens.

Die beiden Männer standen sich hart gegenüber.

Der Prediger streckte beide Arme.

»Sie verharren trotz alledem auf Ihrem bisherigen Standpunkt?«

»Unbedingt.«

Da sanken dem greisen Manne die Arme am Leibe herunter.

Heiking sah in sich. Er dachte an vieles; er dachte an unumschränkten Besitz, der ihm streitig gemacht wurde. Er suchte in alten Erinnerungen; sie waren nicht tot für ihn, sie waren wie lebendige Flammen. Seine aufgerüttelten Sinne wurden begierig. Eine süße Qual drängte sich an ihn, ein heißes Zurückbesinnen auf vergangene Tage. Er fühlte das Schluchzen ihres Körpers, ihr Widerstreben, ihre verzehrenden Küsse. Er dachte an ihr feuriges Herzblut. Er hörte ihre Worte in seinen Ohren nachklingen: Ich kann ja nicht leben ohne dich . . . Sie umfing ihn wie mit eisernen Klammern. Er hatte in ihr das Weib gefunden, das Weib, nach dem er durstig lechzte – das Weib, das er heimzuführen gedachte, wenn sich die Sturmflut des Skandals ganz sachte ausgetobt hatte. Jetzt war sie verlaufen – und da war eine andere Sturmflut gekommen.

Mit elementarer Gewalt brauste sie gegen ihn an.

»Hochwürden, Sie können doch nicht wollen, daß ich an meiner Liebe vergehe!«

Zum ersten Male klangen Herzenstöne aus seinen verzweifelten Worten. Hinter ihm lag der Tod, vor ihm das Leben.

»Hochwürden, da liegt es – das sonnige Leben! – Ich bleibe, ich fordere es heraus. Sie verstehen mich nicht, Sie verstehen nicht Ihre eigene Tochter. Aber weil ich es vermag, weiche ich nicht um Zollbreite. Jeder von uns muß wissen, was er zu tun hat; auch sie – die ich liebe. Mein Los ist auch das ihre geworden. Ohne mich ist ihr Schicksal nicht zu lösen. – Nehmen Sie einem Baum das Erdreich – er stirbt.«

Ein dumpfer Laut entrang sich der Brust des Predigers. Ihn packte ein Grauen vor dieser Stirn und dem stahlharten Leuchten der fest auf ihn gerichteten Blicke. Aber nur für die Dauer weniger Sekunden verharrte er in dieser plötzlichen Schwäche. Er drückte das Grauen zu Boden. Er fand sich wieder. Er peitschte die zusammengebrochene Kraft auf. Seine tief in die Höhlen zurückgesunkenen Augen schienen zu glühen.

»Gut denn – Herr Geheimrat! – ich weiß es ja, ich gebe mich keiner Täuschung mehr hin. Aber was wollen Sie jetzt? Was ist der eigentliche Grund Ihres Erscheinens?«

»Einfach der: eine Aussprache mit ihr zu haben.«

»Und das jetzt – in diesem Zimmer?«

»Ja – ich werde hier mit ihr sprechen.«

»Das werden Sie nicht.«

Erasmus brach in ein höhnisches Lachen aus, um dann wieder mit wunder Stimme zu sprechen: »Ihr und mir sind diese Räume unverletzlich geworden. Hier begann für sie ein neues Glück Wurzeln zu schlagen; hier sammelte sie die Trümmer ihres früheren Lebens, um es unter Preisgabe des Vergangenen neu zu errichten . . . und wenn Sie gekommen sind, es mit Füßen zu treten, seien Sie überzeugt: in diesem Hause wird es nicht geschehen.«

Heiking fuhr zusammen. Um seine Lippen spielte wieder der Sarkasmus von früher.

»Also heute nicht?! – aber Sie, Herr Pastor, werden mir anderweitig Gelegenheit geben, Ihr Fräulein Tochter unter vier Augen zu sehen, widrigenfalls ich mich genötigt sähe, mir ein Begegnen zu erzwingen.«

»Es sei denn,« sagte Erasmus hart und trocken. »Die Schuld zieht ihre Konsequenzen. Sie kennt keine Rücksichten. Unerbittlich setzt sie einem den Fuß in den Nacken. Ich bin machtlos dagegen. Ich bescheide mich – und zwar unter einer Bedingung.«

»Und diese wäre?

»Sich ihrem Entschlusse zu fügen – unwiderruflich. Meine Tochter hat das letzte Wort in dieser Angelegenheit. Es sei auch Ihnen heilig.«

Heiking ließ unmerklich die Augenlider herunter.

»Und Sie befehlen die Aussprache?«

»Morgen . . . übermorgen . . . wenn ich Ihnen Nachricht zukommen lasse.«

»Und wo?« fragte Heiking. Er lächelte auf eigene Weise: »Verzeihen Sie, allein in der seltsamen Lage, in der ich mich zurzeit befinde, ist es unbedingt erforderlich, auch den realen Dingen ins Auge zu sehen.«

»In unserer Wohnung in Brügge,« sagte Erasmus. »Und meine Nachricht erreicht Sie . . .

»Hotel de Londres.«

»In Brügge?«

»Ja.«

Für einige Augenblicke herrschte die Ruhe des Kalvarienberges zwischen ihnen. Der Wind hatte sein Seufzen eingestellt und zerrte nicht mehr an den Fensterläden herum. Dichte, weiße Nebel zogen an den angelaufenen Scheiben vorüber.

Nichts regte sich.

Es war so still, als seien Sterbelaken auf das kleine Haus in Sankt Anne gefallen.

Da – ganz leise . . .

Im Nebengemach rauschte es wie von Frauenkleidern.

Heiking horchte auf, dann machte er Miene . . .

»Keinen Schritt, Herr Geheimrat. – Was jetzt noch mit meiner Tochter zu bereden ist, das steht mir allein zu.«

»Ich bescheide mich,« entgegnete Heiking. »Die Affäre ist somit erledigt, wenigstens zwischen uns erledigt. Aber, Hochwürden« – und er deutete scharf auf die Tür des Nebenzimmers – »nicht zwischen mir und der da erledigt, und wenn Sie hier fertig sind, so werde ich mir in Brügge die Ehre geben, verbriefte Rechte meiner Braut gegenüber geltend zu machen.«

Er wandte sich und langte nach seinem Hut.

Erasmus zitterte bis in die Knochen hinein. Da packte es ihn, als hätten Dämonen in seine Brust getastet.

»Herr!« schrie er auf und ergriff den Leuchter. Flüssiger Talg tropfte zu Boden. Verzweifelt hielt er das brennende Licht seinem Widersacher entgegen.

»Also so sieht der Mann aus,« sagte er mit fast schreiender Stimme, »der gewillt ist, über Leichen zu gehen! Ich glaube, Sie gehören zu den Menschen, die einem den Tod ins Haus bringen.«

Mit einem wehen, jämmerlichen Laut brach er ab. Dann stierte er zu Boden.

Als er aufsah, hatte ihn Heiking verlassen.

»Aus!« sagte Erasmus.

Seine Schläfen hämmerten. Er stellte das Licht wieder auf den Tisch.

Hierauf ging er schwankenden Schrittes der mittleren Tür zu.

 


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