Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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I

». . . also Du kommst. Seeluft, Seeluft, mein Junge! Lasse alle schweren Gedanken beiseite. Und wo ich Dich hinführe . . .? – Es ist ein ganz verlorener Winkel an der flandrischen Küste. Sei ohne Sorge. Du kommst nicht mit jenem feinen Pöbel zusammen, der die belgische Erde heimsucht, Fleischergesellen, die nach Peau d'Espagne duften. Alles sind stille und einfache Menschen . . . und die Natur ist so ruhig wie ein Heideland, wenn der Tod darüber reitet. Nur in stürmischen Herbsttagen sieht das Meer über die Dünen, und dann hörst Du es rauschen. Der Ort liegt eine gute Stunde vom Strande entfernt: ein Fleckchen Erde mit Ziegeldächern. Pappeln kreisen es ein. Stockrosen sehen in die Giebelfenster mit großen Augen – und in der Mitte des Ortes, der gewissermaßen am Boden hinkriecht, reckt sich der helmlose Turm von Sankt Anne wie ein massiger Einarm. Der Ort selbst heißt Sankt Anne und atmet Ruhe und Frieden. Lege Dir diesen Frieden und diese Ruhe ans Herz – und die tote Maria wird ihre Seele in die Hände nehmen und sagen: Endlich gesundet. – Also komme. Ich erwarte Dich und hole Dich im verwunschenen Brügge ab.

Dein

Heinrich vom Hövel,

der kein Freund ist von langen Fisematenten und Ausflüchten – und daher heißt es auch bei Dir: Farbe bekennen.«

Der Brief sank ihm aus der Hand und legte sich über das saubere Manuskript eines größeren Werkes, das er erst vor kurzem beendigt hatte. Und dann ging sein Blick aus dem Fenster über die Ziegeldächer der norddeutschen Stadt, die sich bereits von den sanften Farben des Abends illuminieren ließen. Jenseit der Dächer lagen Wiesen und Weiden. Ein violblaues Licht ging darüber, um mehr dem Horizonte zu sich in die Resedafarbe eines feinabgetönten Wasserblattes zu kleiden. Dunkle Punkte schwebten durch die ruhigen Lüfte, begleitet von einem melancholischen Zwitschern. Es war ein Gruß aus verklungenen Zeiten: Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe sang . . . Ja – was die Schwalbe sang . . .! – Ein mattes, wehmütiges Lächeln ging über die Züge des vereinsamten Mannes, der so in sich gekehrt dasaß, als wäre die ganze Schwermut des heutigen Sommerabends auf ihn übergegangen. Er hatte das unbestimmte Gefühl, als käme jemand leise ins Zimmer, als legte sich ihm eine feingegliederte Frauenhand sacht auf die Schulter. Und als sie da eine Zeitlang geruht hatte, hob sie sich wieder und deutete rückwärts – und da sie rückwärts deutete . . .

* * *

Ein liebes Wesen mit geschlossenen Augen stand vor ihm. Ein floriger Stoff rieselte von den Schläfen zu Boden und berührte die Dielen. Vom Alkoven her wehte ein weicher Luftzug, der aber noch immer stark genug war, den leichten Stoff sanft in die Höhe zu tragen.

Die zarte Gestalt war näher getreten.

»Maria!« hauchte er mit zuckenden Lippen, und als er den Namen aussprach, hatten sich ihre Augen geöffnet – die Augen mit ihrem rätselhaften Grau und der unendlichen Tiefe, die Augen, die ihn noch vor zwei Jahren bis ins Herz trafen und dann sich schlossen für ewig.

Der florige Stoff wehte noch immer, aber durch den gespenstigen Krepp drang es wie Mondlicht, das immer intensiver wurde, geheimnisvolle Netze spannte und sein Denken und Fühlen in längstverklungene Tage versetzte. Die Erinnerung kehrte zurück – die rätselhafte Frau mit den träumerischen Blicken und der großen Liebe im Herzen. Und sie nahm ihn bei der Hand, lächelte wie im Schlafe und führte ihn dann durch ein weites, dunkles Tor, hinter dem eine weite Landschaft sich streckte. Eine mittelgroße Stadt lag darin. Es war eine lindenumsäumte nordische Stadt mit ehrwürdigen Kirchen, alten Giebelhäusern und einem Glockengeläut, feierlicher und schöner, denn alle Glockenklänge, die er jemals in seinem Leben gehört hatte. Er erinnerte sich genau der einzelnen Töne. Es war im Advent. Der Abend zwinkerte herauf; ein klingender Frost war über die Erde gegangen. Einzelne Flöckchen lösten sich vom verschleierten Himmel – und er, der kraushaarige Oberprimaner Hans Behrend, stand am Fenster und sah in den Abend hinaus, in dessen Grau schon etliche lichtschwache Tupfer standen, die der Laternenmann angezündet hatte. So stand er schon lange und wartete auf seine Kumpane Fritz Heiking und Heinrich vom Hövel, die versprochen hatten, eine Partie Skat auf seiner Bude zu kloppen. Hinter ihm plauderte der rotangelaufene Ofen in geschwätzigen Lauten. Draußen war eine andere Welt lebendig geworden. Vom nordwestlichen Himmel her schob sich eine bleigraue Decke über die Giebeldächer. Den einzelnen Schneeflöckchen gesellten sich hundert, tausend blitzende Wesen; dann war ein einziges Gewimmel vor den angelaufenen Scheiben. Ein steifer Wind saß dahinter, und mit lustigem Gestöber ging es die enge Straßenzeile hinunter. – Im gegenüberliegenden Hause hellten die Fenster auf. Dunstig, wie mit erhelltem Ölpapier überzogen, standen sie in dem krausen Gewirr der betrunkenen Sternchen. Hans Behrend sah hinein, als wenn er durch das maschige Gitter eines Stickrahmens sähe, als wäre da draußen alles in einer flirrenden und flimmernden Bewegung – aber wie dem auch sein mochte: er erkannte deutlich, wie sich hinter dem mittleren Fenster des ersten Stockes eine liebe Mädchengestalt auf- und niederbewegte, das blonde Köpfchen gegen die Scheiben drückte und dann genau, wie er es tat, in das geschäftige Schneetreiben hinaussah. Und seine Jugend, sein ganzes Fühlen und Denken saßen in einem lustigen Schifflein, hatten eine ganze Fracht voller Zukunftspläne an Bord und steuerten geradeswegs in das köstliche Land der Verheißung. Eine rührende Verlegenheit kam über ihn und ein heimliches Sehnen. Allein der selige Zustand währte nicht lange. Eine ältere Dame, mit einem zierlichen Spitzenhäubchen bekleidet, trat in den matterleuchteten Fleck des Fensterrahmens, schien auf das junge Mädchen einzusprechen und ließ dann mit einer gewissen Hast den Vorhang herunter. – Nichts mehr – nur die transparente Fläche der weißen Gardine, das Gepolter im Ofen und das flimmernde Schneegestiebe da draußen . . . Ab und zu tönte die heisere Stimme einer aufdringlichen Türklingel herüber. Sie kam aus dem Laden eines schräg gegenüber wohnenden Spezereiwarenhändlers, wo die Leute aus- und eingingen. Ein orangefarbiger Schimmer drängelte sich aus dem Auslagefenster, um sich als breiter Lichtbalken quer über die schneeblaue Decke zu legen. Traumhaft schwebten jetzt die kalten Schneesternchen die dämmerige Straße hinunter. Etliche taumelten gegen die angelaufenen Scheiben, um dort sanft zu zerfließen. Fast lautlose Schritte gingen unten vorüber. Es war so still, so unendlich still geworden; selbst die aufdringliche Klingel im Laden des Spezereiwarenhändlers hatte eine geraume Zeit ihre harte Zunge verloren. Geheimnisvolle Adventschauer zogen über die norddeutsche Stadt hin.

Hans Behrend trat vom Fenster zurück, setzte eine Rüböllampe in Brand, zerschnitt ein Zeitungsblatt in eine Anzahl regelrechter Teile, die er, sorgsam gefältelt, in einen Fidibusbecher hineinpraktizierte; hierauf legte er Karten und Skatblock nebeneinander.

Die Lampe strömte ein behagliches Licht aus. Es war hinreichend stark genug, das schlichte Mobiliar der einfachen Bude zu erhellen. Auf den verblichenen Tapeten hingen Schildereien in wurmstichigen Rahmen, Stiche von Aldegrever und Ludger tom Ring, wertlose Kopien, die kein besonderes Interesse zu erwecken vermochten, wohingegen ein eigenartiges Bild über dem Sofa von der Hand eines geschickten Radierers zeugte. Markante Striche, ausgeprägte Beleuchtung und dabei eine warme und köstliche Tönung . . . Es war das Grabmonument der jungen Maria von Burgund in der Liebfrauenkirche zu Brügge. Der schrullige Gymnasialprofessor Dr. Gert Löbker, bei dem sich Hans Behrend in Kost und Logis getan hatte, ein wunderlicher Kauz, Altphilologe, nebenher Raritätensammler und Goetheforscher, war seinerzeit, und zwar bei Gelegenheit einer flandrischen Ferienreise, auf die nicht uninteressante Radierung gestoßen, hatte sie erstanden, von Stockflecken reinigen und einrahmen lassen und das wohlreparierte Bild eines Tages mit einer gewissen Feierlichkeit über das großblumige Sofa seines Zöglings gehangen. Von diesem Moment an war das Grabmal der armen Maria von Burgund das Prunk- und Paradestück in der kleinen Studentenbude geworden, und jedesmal, wenn der junge Oberprimaner das sanfte Gesicht der Entschlafenen vor Augen bekam, mußte er an die Tochter des Justizrates Fackeldey denken, an die liebliche Maria, die ihm gegenüber wohnte und noch vor wenigen Augenblicken am Fenster gestanden hatte. Dieselben Züge und dasselbe Lächeln um die wehmütigen Lippen! – Das milde Licht der Rüböllampe fiel verklärend über das Gesicht der schönen Maria. Die Buchenscheite im Ofen begannen wieder lauter zu knacken, die Schneekristalle wieder emsiger und flinker zu stieben . . .

»Noch immer nicht,« sagte Hans Behrend, machte sich an einer Weichselrohrpfeife zu schaffen, setzte hierauf den Tabak mit einem Fidibus in Brand und warf sich alsdann in eine Ecke des geschweiften Sofas, daß es stöhnte und ächzte. Mit übergeschlagenen Beinen blies er die hellen Kanasterwölkchen über den Tisch fort, ließ sich von der Friedsamkeit seines behaglichen Zimmers umschauern und hörte zu, wie die aufgewirbelten Feuerfünkchen in der blankgewichsten Ofenröhre rumorten. Dazu orgelte der Wind in so recht gemütlicher Weise und spielte den kalten Schneeflocken zum Tanz auf. Zierliche Rauchspiralen häkelten sich um den milchweißen Schirm der vor ihm stehenden Lampe, krochen die vergilbten Tapetenmuster entlang, um sich von hier aus durch das Schlüsselloch der niedrigen Stubentüre zu drehen. Hier war's schon zum Aushalten. Pfeifenkringel und selige Träume . . .! und dazu die geheimnisvolle Stimmung, die der Advent aufgetan hatte. Hin und wieder klappte im Hause eine neugierige Tür zu. Der gewichste Ofen warf einen scharfumrandeten Lichtfleck auf die gescheuerten Dielen. Lautlos huschte ein Mäuschen darüber, um ebenso lautlos mit seinem zierlichen Schwänzchen in eine verschwiegene Dämmerecke zu schlüpfen. Stimmung, überall Stimmung . . .!

Hans Behrend streckte die Beine. – Morgen war Sonntag – ein Gefühl, das an warme Apfeltörtchen und eine spendierte Lage von Bierbouteillen erinnerte, ein Gefühl so bekömmlich wie ein wolliges Unterjäckchen in kalten Wintertagen, kurzum eine große Sache, die er wohl zu würdigen verstand und zudem noch mit dem Tuschkasten seiner regen Phantasie immer verlockender ausmalte. Überhaupt so'n Samstagnachmittag mit folgendem Sonntag . . .! – Da brauchte man doch nicht die Expektorationen eines galligen Ordinarius der Oberprima über sich ergehen zu lassen, brauchte nicht auf den alten Griechen und Lateinern herumexerzieren und konnte Zeus im Donnergewölk und seine blauäugige Tochter Pallas Athene vergessen – eine himmlische Wohltat, vornehmlich jetzt in dieser behaglichen Stunde und mit der großen und heiligen Pennälerliebe im Herzen. Und in dieser Erkenntnis . . .

Wie gesagt: Hans Behrend streckte die Beine und hörte auf die Stimmen im Ofen, die immer zutunlicher und vertraulicher wurden. Noch einmal klingelte die Ladenschelle des Spezereiwarenhändlers wie aus weiter Ferne herüber, dann war es so, als gingen sachte Schritte durch die von dünnen Tabakswölkchen umschleierte Stube – und dann eine Stimme, eine matte, fast klagende Stimme . . .

Sie schien aus dem Bilderrahmen über dem Sofa zu kommen.

»Maria!«

Wer hatte gerufen?

Niemand, keine menschliche Seele hatte gerufen.

Er mußte sich geirrt haben – aber da wieder, leise, gespenstisch: »Maria!« und dann noch einmal: »Maria!«

Da mußte doch eine menschliche Seele . . . oder war es nur ein Träumen gewesen? Dann wieder die einlullende, geheimnisvolle Stille von eben.

Sie währte nicht lange.

Hastige Schritte kamen die Treppe herauf; das Träumerische zerfloß, während die Tür ging und Fritz Heiking und Heinrich vom Hövel die Stube betraten. Ein nadelscharfer, spitziger Schneehauch drang mit ihnen ins Zimmer.

»Tag, Behrend!«

Mützen und Paletots wurden heruntergezogen und fanden sich alsbald auf einer bequemen Stuhllehne wieder.

»Fiducit!«

»Danke,« replizierte Fritz Heiking und schlug die verklammten Hände zusammen, »'ne hahnebüchene Kälte da draußen – Kloben ins Feuer!«

»Machen wir!« sagte Heinrich vom Hövel, ein offener Kerl mit blitzenden Augen, aus denen zeitweilig der heilige Funke tiefer Leidenschaft ausbrechen konnte. »Machen wir, Heiking,« und damit schob er auch schon etliche Buchenscheite auf das nur noch schwelende Feuer, wandte sich hierauf und meinte, indem er die Technik des Rauchens mit den Lippen blind durchchargierte: »Sind die Stoffe präpariert?«

»Sunt,« sagte Hans Behrend und deutete auf das Bücherregal, wo etliche gestopfte Pfeifen mit weißen Porzellanköpfen an der Schmalseite hingen.

»Optime!« kam es zurück. Die Fidibusse leuchteten auf; mit einem allgemeinen »ad loca!« setzte man sich, mischte die Karten und ließ die erste Skatrunde steigen.

»Wenden!«

»Halt' ich!«

»Los denn dafür!«

In kurzen Intervallen, nur von monotonen Zwischenrufen begleitet, die streng zu den Regeln des Spieles gehörten, klatschten die Karten auf den Tisch, während der Wind in der Ofenröhre ächzte und stöhnte und kompakte Rauchfäden die vier Wände immer gemütlicher machten. Von Sankt Kilian hallte die sechste Abendstunde herüber.

»Grand!« meldete Heinrich vom Hövel.

»Null ouvert!« hielt ihm Fritz Heiling entgegen.

»Mit zweien!« überbot ihn sein Gegner.

»Dann – passe,« sagte Fritz Heiking, »aber warte, mein Junge – verbumfiedelt wirst du,« und mit einem siegesgewissen, fast hämischen Zug um die Lippen spielte er die Treffelzehn auf. »Behrend, Ohren steif!«

Allein Hans Behrend steckte tief in den Bohnen. An all seiner Reinheit und Lebendigkeit trat ihm wieder das liebgewordene Bild vor die Seele. Mit weitabfliegenden Gefühlen entfernte er sich immer mehr von seinen Kumpanen. Eine unsichtbare Gewalt trieb ihn weiter und weiter. Wie eine Heilige, wie ein überirdisches Wesen stand ihm das geliebte Mädchen vor Augen. Das wunderbare Geheimnis der ersten großen, starken Liebe beherrschte ihn völlig. Er sah nur eine von Sonnenlicht überflutete Welt und Wiesen und Weiden. Bunte Falter gaukelten über stille Blumen – und inmitten der Blumen . . . Ein duftiger Heugeruch strömte herauf . . . Das war vor Monaten geschehen – da war er ihr zum ersten Male begegnet.

»Herrgott noch mal!« fuhr ihn plötzlich Fritz Heiking an, »hast noch den dritten Jungen in der Pinke und stichst nicht?!«

Ja, er hatte geträumt und nicht auf die Finessen seines Partners geachtet. Das Spiel war für den Gegner so gut wie gewonnen. Verstört strich er sich über die Stirne. Die Luft war zum Ersticken, der Tabaksqualm zum Durchschneiden geworden.

»Nichts für ungut,« sagte er kleinlaut, »aber mir war so, als hätte soeben eine liebe Stimme gerufen.«

»Was für 'ne Stimme – und was sagte die Stimme?«

»Maria.«

»Menschenskind . . .

Fritz Heiking schlug ein helles Lachen an: »Das da – soeben . . .?! – Das war ja die Miesekatze vom ollen Löbker; 'ne veritable Miesekatze mit sammetweichen Pfötchen und 'nem niedlichen Stimmchen . . . Im übrigen, Behrend: principiis obsta!«

»Warum?« fragte dieser.

»Weil ich gleiche Rechte vertrete.«

»Du?! – und auf wen denn?«

»Auf die Trägerin des Namens, den du soeben genannt hast.«

»Was . . .?!« sagte Hans Behrend. In starrem Schweigen waren seine Augen auf den Gegner gerichtet. Er wußte nicht mehr, was er antworten sollte. Alle Leidenschaften seiner jungen Tage waren in ihm rege geworden.

Fritz Heiking trumpfte auf: »Ja, mein Junge – denn frei ist der Bursch und frei ist das Lied . . .«

Siegesgewiß fuhr sich der Sprecher durch die Haare. »Und wohlgemerkt,« ergänzte er mit einem spöttischen Zug um die nicht unschönen Lippen, »ich glaube, ältere Rechte beanspruchen zu können.«

»Wird beanstandet.«

»Wenn auch; ich habe größere Chancen, denn der Sohn eines Geheimen Kommerzienrates . . .«

»Bleibe mir mit deinem ›Geheimen Kommerzienrat‹ vom Leibe!« rief Behrend und hatte dabei die letzten Karten von sich geworfen. Ärgerlich stieg es in ihm auf. Er fühlte deutlich: er, sein Konpennäler Fritz Heiking, gehörte auch zu denen, die, jedes glühenden Idealismus bar und in den Vorurteilen des Klassengeistes und der Standesprotzen befangen, über Herzen und Seelen zu schreiten vermochten. Ja – über Herzen und Seelen . . . das war doch, gelinde gesagt, ein erbärmlicher Standpunkt.

»Und da glaubst du,« fragte er herrisch, »weil ich nur der Sohn eines Arztes mit bescheidener Praxis . . .

»Ich glaube nichts,« sagte Heiking, »aber in dubio: Halbpart für uns beide.«

»Was verstehst du darunter?«

»Auf eigene Kappe poussieren. Morgen will ich mein Glück auf der Eisbahn versuchen; übermorgen du.«

»Nein,« sagte Behrend.

»Dann mögen über den strittigen Punkt die Karten entscheiden,« legte sich Heinrich vom Hövel ins Mittel. »Gottesorakel! – Einverstanden?«

»Einverstanden,« kam es zurück.

»Na – denn also,« sagte der salomonische Friedensstifter und mischte die Karten. »Wer die erste Dame erwischt, eröffnet den Reigen,« und damit ging es ihm auch schon fingerfertig von den Händen herunter: »Bube, Neune, Zehne, König, Neune, dito, Achte, Bube, Aß – Coeurdame . . .! – Behrend, meinen allerherzlichsten Glückwunsch.«

»Verdammt!« sagte Heiking. Eine längst veraltete Narbe, die sich quer über die linke Stirnseite hinzog, begann leise zu flammen. Obgleich er dem blinden Zufall unterlegen war, gab er dennoch das Rennen nicht auf. In seinen gekniffenen Blicken lag eine sieghafte Verachtung. Er wandte sich kurz, stellte die Pfeife beiseite und verließ mit einem hingeworfenen »Guten Abend!« das Zimmer.

»Aber, Mensch . . .!« rief ihm Hans Behrend nach.

»Ich danke,« lautete die frostige Antwort.

Heinrich vom Hövel lachte bitter auf und sah seinem Freunde tief in die Augen.

»Ich hab's dir ja immer gesagt,« meinte er schließlich, »dicknäsig und arrogant – und du glaubtest, bei dem deine Gesichtskreise erweitern zu können . . .

»Man kann sich eben irren.«

»Das kann man,« versetzte Heinrich vom Hövel. »Im übrigen freue dich auf den morgigen Sonntag – und jetzt: Schwamm über die Sache.«

Gemütlich warf sich der blonde Teutone in eine Sofaecke, schlug die Beine übereinander und sagte, indem er den Tabaksrauch seiner Weichselrohrpfeife über die Tischkante fortblies: »Beatus ille, qui procul negotiis . . .! Gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst und grüße mir die schöne Maria.«

Der Riß, der die behagliche Abendstimmung zu vernichten drohte, vernarbte wieder. Plaudernd blieben die beiden Freunde zusammen. Im Nebenzimmer, das über der Küche lag, wurde ein Heimchen lebendig. Draußen auf dem Hausflur tickte die heisere Standuhr. Minute reihte sich an Minute, Stunde an Stunde. Gegen acht Uhr trennte man sich. Das Schneegestöber hatte inzwischen nachgelassen, dann gänzlich aufgehört. Die Sterne standen unruhig am Himmel und kündeten einen ständigen, klirrenden Frost an. Die Kälte ging mit erfrorener Nasenspitze umher und hauchte ihren dunstigen Atem gegen die Fensterscheiben, daß sie sich blümten und mit Klöppelwerk und Brabanter Spitzen bedeckten. Die flaumige Schneedecke piepste unter ihren trippelnden Schritten. Die blankgeputzten Sterne gerieten in ein immer nervöseres Zucken. So ging es die Nacht durch, und als der Morgen kam, sah er vor dem Sankt Ägidientor auf eine stahlharte Fläche, die, vom Winde gesäubert und gefegt, sich fast unabsehbar bis zum ›Schwarzen Vorholz‹ erstreckte. Zur Rechten lag die alte Stadt mit ihren Schneehauben und weißen Zipfelmützen. Mit Rauhreif bedeckte Lindenzweige legten ein feinmaschiges Straminnetz darüber. Sonnenfunken standen darauf und brachten alles in ein flirrendes Leuchten.

Während der Nachmittagsstunden herrschte ein reges Leben auf der endlosen Bahn. Die Kapelle der vierten Grenadiere spielte den Schlittschuhläufern zum Tanz auf, die sich in zierlichen Künsten gefielen. Zwischen ihnen – Hans und Maria. Hand in Hand und Schulter an Schulter geschmiegt, zogen sie ihre Kreise immer weiter und weiter. Ohne daß sie es selber gewahrten, flogen sie dem feierlichen Licht zu, das über dem ›Schwarzen Vorholz‹ sich ausdehnte. Ja, es war ein seltsames, feierliches Licht, was da brannte, denn es beschien ein großes Geheimnis und das erste Aufflammen einer schönen und heiligen Liebe – und sie erschraken fast beide, als sie sehend wurden und zur Erkenntnis gelangten. Ein banges, seliges Wünschen, ein scheues, verhaltenes Sehnen war in ihnen. Wie von weichen Lüften getragen, glitten sie über den silbernen Spiegel, dessen untere Fläche die schlangenartigen Triebe des Aalkrautes berührten. Jede Spur eines menschlichen Fußes hatte aufgehört. Sie waren allein. Nur aus weiter Ferne hallten die verlorenen Klänge der Musikkapelle herüber. Das ernste Licht am westlichen Himmel war tiefer gesunken. Das ›Schwarze Vorholz‹ lag darauf, als hätte es ein Silhouettenzeichner auf eine goldene Folie geworfen. Einzelne Funken sprühten durch die dunklen Stämme und machten das wirre Blondhaar des lieben Mädchens erstrahlen.

Da hielt er den Fuß an.

»Was hast du?« fragte sie zögernd.

Er tastete nach ihrer Hand und sah in tiefer Verwirrung auf ihren goldigen Scheitel. Dann kam es über ihn.

»Du weißt es ja, wie es um mich steht,« sagte er leise, »und du . . .

Tränen waren ihr in die Augen getreten.

»Maria . . .

Wie unter dem Zwang einer glückseligen Lust war er in die Knie gesunken, hatte ihren Schoß umklammert und sein Gesicht in die Falten ihres Kleides gebettet.

Sie waren allein, so ganz allein in der großen Stille, die ihre Augen auftat, als wäre sie aus dem Lande der Märchen gekommen. Und da stammelte er von kommenden Zeiten und der tiefen Liebe, die sein junges Leben beherrschte. Und als er das sagte, beugte sie sich mit stiller Gebärde zu ihm herab und suchte ihn an sich zu ziehen.

»Küsse mich,« sagte sie mit verhaltenem Atem.

Da riß er sich auf. Mund lag auf Mund, und ihr jugendlicher, biegsamer Körper schmiegte sich an ihn. Ein Leuchten flog über ihr Gesicht. Eine Heilige war sie ihm früher erschienen, jetzt war sie seine Geliebte geworden – und doch alles so rein und so keusch und so unberührt wie ihre kindliche Seele. Ihre kleine, harte Brust drückte sich an ihn. Er fühlte das wunderbare Geheimnis ihres jungfräulichen Leibes. Er schien im Traume zu sein, in stiller Verzückung, und in dieser Verzückung gingen die Tage unter, die Monde und Jahre . . . . . . Sein ganzes Fühlen und Denken blieb dasselbe, sowohl auf der Universität, als später, da er sich anschickte, mit heißer Arbeit und heißem Ringen nach der literarischen Palme zu greifen. Der unerbittliche Kampf ums Leben setzte ein, riß ihn mit sich und gab ihm die Schale herber Entbehrung zu kosten. Der große Erfolg wollte nicht kommen. Er gab aber das Ringen nicht auf und arbeitete weiter. Eine Zeit der Selbstkasteiung begann. Die Not trat an seine Seite. Er fühlte den Druck ihrer Hand und das Empfindliche ihrer glanzlosen Blicke, die über ihm standen. Und wäre nicht die Erinnerung an die alten Zeiten geblieben, wäre nicht die liebe Stimme gewesen, die Stimme von damals, was hätte ihn noch bewegen sollen, erhobenen Hauptes in die Zukunft zu blicken und auf bessere Tage zu hoffen? Er hoffte und harrte. Für ihn hatten die Rosen von Pästum noch nicht an ihrem Zauber verloren. Sie blühten wie immer – und in diesem Bewußtsein machte er längstverklungene Glockentöne wieder lebendig, übertrug das geheimnisvolle Wunder der Jerichorose auf sein eigenes Sinnen und Trachten, und so, von inniger Liebe getragen, bequemte sich sein Geist, in den Bildern vergangener Tage wie in einem liebgewonnenen Andachtsbuche zu blättern. Er hatte sie noch etliche Male gesehen. Sie schrieben sich häufig. Aber was sollte das alles? Sie mochten es sich eingestehen oder nicht – die eingeschlagene Laufbahn konnte dem sehnlichen Wünschen, wenigstens auf Jahre hinaus, keine Verwirklichung geben und blieb was es war: nur ein unbestimmtes, dämmerhaftes Tasten nach den Händen des Glückes. Die Glocken, die dereinstmals über die alte Stadt und die blühende Heide geklungen hatten, tönten noch immer, die geheimnisvolle Jerichorose hatte noch nichts von ihren Wundern eingebüßt – gewiß nicht, es war alles wie früher . . . aber da eines Tages verloren ihre Briefe an Leben und Tiefe, dann trafen sie spärlicher ein und dann versiechten sie gänzlich. Eine stille Resignation hatte sich seiner bemächtigt. Ein Sturmwind war nötig, um ihn aus seinem dumpfen Brüten zu wecken. Und der Sturmwind kam; der große Wurf war gelungen. Jahre um Jahre hatte er hierzu gebraucht. Immer Aussaat um Aussaat! Immer die vergebliche Hoffnung! Endlich hatte sie Halm und Ähre getrieben. Ein wogendes Kornfeld! – und es war schnittreif geworden. Seinem beharrlichen Schaffen, seinem Namen waren Flügel gewachsen. – Es hielt ihn nicht länger. Ein unbezwingliches Sehnen ergriff ihn. Ums Abendläuten erreichte er das Ziel seiner Wünsche. Nadelscharfe Kristalle tanzten vom Himmel herunter. Die Straßenlaternen standen wie große, dunstige Lichtflecke inmitten der flirrenden Sternchen, gerade wie damals, als er von seiner Stube in das emsige Schneetreiben hinaussah – damals, als er auf seine Kommilitonen Fritz Heiking und Heinrich vom Hövel gewartet. Unwillkürlich dachte er an vergangene Zeiten. »Wo seid ihr, ihr Lieben, mir alle geblieben . . .!« Das Herz klopfte ihm hörbar, als er durch die schneeweißen Gassen dahinging. Da lag es vor ihm – das Haus seiner Sehnsucht. Unsicheren Fußes betrat er die Stiegen. Die engbrüstige Fassade war dunkel. Nur in dem Oberfenster der Türe stand ein spärlicher Lichtschein. Jetzt zog er die Klingel. Nach längerem Warten wurde ihm von einem ältlichen Frauenzimmer geöffnet.

»Ist der Herr Justizrat zu Hause?«

Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an.

»Sie sind wohl fremd hier?« sagte es schließlich.

»Das allerdings – aber ich sollte doch meinen . . .«

»Der Herr Justizrat sind vor einem halben Jahre verstorben.«

»Und Fräulein Maria?«

»Ist mit der Mutter und ihrem Verlobten zu den Schwiegereltern gegangen.«

»Und wie heißt ihr Verlobter?«

»Regierungsrat Heiking.«

Er hörte die Worte wie aus weiter Ferne. Er empfand das Rätsel der Frauenseele, das unlösliche Rätsel, das bei subtil veranlagten Naturen zu Tränen zwingt und den Schatten des Todes vorauswirft. Er wandte sich und ging, ohne ein Wort weiter zu sagen, wieder durch die schneeblaue Nacht hin. Das Mädchen sah ihm nach, als hätte es mit einem Irren gesprochen. Noch an demselben Tage fuhr er heimwärts. Von ihr hörte er nichts mehr. Vergebens suchte er die Lösung des Rätsels zu finden. Das ganze Leben schien ihm eine Reihe von Widersprüchen zu sein, die er nicht entziffern konnte. Er suchte Trost in der Arbeit. Neue Entwürfe entstanden. Er wurde gefeiert, aber Vergessen brachte es nicht. Er konnte den Odemzug des täglichen Lebens nicht finden. Sein Geist glich einem stillen Gelände, über welches ein schwermütiges Abendläuten dahinging. – Sein Jugendfreund Heinrich vom Hövel hatte inzwischen die große Nummer gezogen. Frischweg von der Juristerei fort und schon nach glücklich bestandenem Staatsexamen, war er, einem tiefeingewurzelten Drange gehorchend, kurzerhand in die Malerjacke geschlüpft und ließ sich von dem Geheimnis der Sankt Lukasgilde umfangen. Sein Schritt war kein unüberlegter gewesen. Die Zeit brachte Früchte. In einer Kunststadt am Rhein ansässig, verlebte er die Sommer- und Herbstmonate an der flandrischen Küste. Er meisterte diese Gegend mit einem seltsamen Können. Etwas Großzügiges haftete seinem Schaffen an, das, mit dem der alten Niederländer verwandt, dennoch den markanten Pulsschlag des eigenen Ichs nicht zu leugnen vermochte. Maler und Dichter blieben durch die alte Freundschaft verbunden. Mehrmals waren sie zusammen gekommen, und zwar regelmäßig dann, wenn die gemeinsam verlebten und schwerdurchkämpften Stunden des Abiturientenexamens sich jährten. Bei einer solchen Gelegenheit, und zwar bei der letzten, sahen sich die beiden tief in die Augen. Die Gläser klangen durch die Stille der Nacht hin, und als sie verklangen . . . »Mensch!« sagte plötzlich Heinrich vom Hövel, »so geht es nicht weiter. Du verblutest ja an der alten Wunde. Der Norden bringt keine Heilung. Versuche es mal mit dem heiteren Süden . . .« und Hans Behrend verstand ihn. Während noch im nördlichen Deutschland die Märzschauer regierten, hatte er das Land seiner Jugendträume – Capri – gefunden. Noch am Abend seiner Ankunft ging er in den Park hinaus, der an das ewige Meer stieß. Hinter ihm lag das Hotel Quisisana strahlend erleuchtet. Palmen und Wellingtonien stiegen geheimnisvoll in den tiefblauen Himmel. In den Kirschlorbeerhecken spielten glitzernde Fünkchen. Vom Meer her kamen weiche Saitenklänge; dann ließ sich eine sonore Männerstimme vernehmen: »O dolce Napoli . . .« Er war tief bewegt. Die Tränen wollten ihm kommen. Anderen Tages, als er wieder unter dem Gesäusel der Wellingtonien hinschlenderte, trat ihm der Portier des Hauses entgegen. Mit der Linken hob er leicht die goldgeränderte Mütze.

»Herr Behrend . . .

»Allerdings.«

Hans Behrend warf einen kurzen Blick auf die Adresse des ihm behändeten Briefes. Scheinbar mit verstellter Handschrift verfaßt, wies das Kuvert weder Freimarke noch Poststempel auf.

»Von wem?« fragte er leichthin.

»Ein Angestellter des Hauses . . .«

»Und sonst . . .

Der Portier zuckte die Achseln.

»Ich danke.«

Er brach das Kuvert auf. Auch hier auf dem zierlichen Bogen die nämlichen Züge – scheinbar verstellt und dennoch mit etlichen Zeichen behaftet, die ihm das Bild einer geliebten Handschrift vorzuspiegeln vermochten. Er las: »Ich habe Sie gestern von meinem Fenster aus gesehen. Jeglichen Traum weise ich von mir; ich kann mich nicht irren. Wollen Sie mich noch einmal begrüßen – nun wohl, so bin ich heute abend gegen sieben Uhr auf dem schmalen Fußpfad zu finden, der von der Punta Tragara zu den Faraglioni hinführt. Leben Sie wohl.«

Das war alles. Nichts weiter. Keine Unterschrift, kein sonstiges Zeichen . . . alles! – Und dennoch . . . aber das war ja völlig ausgeschlossen! Er suchte auf andere Gedanken zu kommen, brannte sich eine Zigarre an und folgte den Rauchwölkchen mit forciertem Interesse. Auch das währte nicht lange. Sein Geist ließ sich nicht zwingen; wiederum begann er in dem alten Andachtsbuche zu blättern. Und dann: er hielt Umschau unter den Gästen des Hotels. Er suchte im Park, wo die weichsinnlichen Klänge des Metrawalzers ertönten. Im Speisesaal blickte er bei jedem einschmeichelnden Frou-Frou auf. Er fand nicht, was er suchte. Alles unbekannte Gesichter! – Also gedulden . . .! – Ewige Minuten . . .! – sie krochen dahin wie Schnecken. – Schon eine geraume Zeit vor der festgesetzten Stunde hatte er den schmalen Fußweg betreten. Der Strand lag vereinsamt. Die Sonne war untergegangen. Wie ein purpurner Scheiterhaufen loderten ihre letzten Strahlen gen Himmel. Das Meer nahm einen violblauen Ton an. Eine weiße, rätselhafte Linie schien die Unendlichkeit der ruhigen Fläche begrenzen zu wollen. Aus dichten Schaummassen wuchsen die Faraglioni sichtbar in den friedlichen Abend. Ein rosiger Kuß haftete noch auf ihren äußersten Klippen. Ein großer, schwarzer Vogel strich langsamen Fluges über sie fort. Noch einmal zuckten die Purpurflammen aufwärts. Dann verloren sie an Farbe und Fülle, um schließlich ganz zu ersterben. Mit ihrem Schwinden stand hinter Anacapri eine silberne Helle. Der Mond war im Aufstieg begriffen. – Mit seinem Aufstieg bewegte sich eine hohe Frauengestalt zwischen Lorbeerbüschen und Klippen, die den engen Fußpfad begrenzten. Ein sanfter Wind blies ihren dunklen Schleier gegen das Meer an. Zögernd war sie näher gekommen. Noch konnte er nicht ihre Züge erkennen, aber er hatte das dumpfe Gefühl, daß ihn die nächste Minute um den Verstand bringen würde. Jetzt stand sie vor ihm. Er hätte aufschreien mögen.

»Du – hier?« sagte er heftig. Er glaubte, die Welt müßte sich aus den Angeln heben.

Tastend griff er nach ihren Händen.

»Ja,« sagte sie leise. »Mir wurde der Süden verordnet; ich gedenke noch einen Monat zu bleiben.«

»Und dein Mann?«

»Ist glücklich in seinem Berufe.«

»Und du?«

Sie wandte sich ab und sah über das Meer fort, auf dessen tiefblauer Fläche die ersten Mondfüßchen tanzten.

»Und du?« fragte er noch einmal.

Sie gab keine Antwort. Unentwegt gingen ihre starren Blicke über die Wunder, die der Abend verschwenderisch aufgetan hatte. Da stieg Bitterkeit in ihm auf. Sein vergangenes Leben und das, was noch kommen würde, lag vor ihm. Ihre Hände waren aus den seinen geglitten.

»Dieses Mal werde ich ruhig von dir gehen,« sagte er schließlich, »denn ich glaube dich glücklich zu wissen. Ich will deinen Frieden nicht stören.«

Da wandte sie sich. Mit blasser Hand fuhr sie ihm sacht über die Stirn.

»Wer hat schwerer zu tragen,« fragte sie ruhig, »du oder ich? – Du hast das Leben noch vor dir, während meine Tage in stiller Trauer dahinziehn.«

Die letzten Worte gingen unter in einem verhaltenen Schluchzen.

»Und du liebst mich noch immer?« fragte er wie in dumpfer Betäubung.

»Ja,« sagte sie leise.

»Und mehr wie den andern . . .

Statt einer Antwort nahm sie seinen Kopf zwischen ihre Hände und küßte ihn lange. Da riß er sie an sich, bog ihren Oberkörper zurück und preßte seinen Mund auf ihre zuckenden Lippen. »Aber dann verstehe ich nicht . . .« keuchte er mit rauher Betonung. »Du mußtest doch wissen . . .«

»Ja,« nickte sie heftig, »aber ich konnte nicht anders.«

Sanft, ohne sich seinen Liebkosungen zu entziehen, wand sie sich aus seiner starren Umarmung. Ihre Hände verstrickten sich, und wieder gingen ihre feuchten Blicke über das traumhafte Meer hin. Eine verschwenderische Fülle von Licht rieselte über die endlose Fläche. Und wieder das verhaltene Schluchzen von eben . . . und da wußte er, daß sie nach Worten suchte, die den dunklen Punkt aus vergangenen Tagen aufklären sollten. Sie begann tonlos und in abgerissenen Lauten zu sprechen, aber sie sprach in logischer Weise, einzeln die Fäden entwirrend, die, schließlich zu einem Ganzen verflochten, ihre Handlungsweise erklären und das Unerbittliche ihres Schicksals darlegen sollten. Ihre Stimme erstickte fast, als sie zum Schluß kam. »Wäre ein anderer Ausweg möglich gewesen,« sagte sie endlich, »ich hätte mich mit der Verzweiflung einer Ertrinkenden an den kleinsten Strohhalm geklammert. Und wie habe ich nach Rettung geschrien! – Aber konntest du helfen? – Nach dem Tode des Vaters standen wir vor einer gähnenden Leere. Aller Mittel entblößt, ging meine Mutter einem bedauernswerten und freudelosen Dasein entgegen. Ihrem Lebensabend waren nur Kummer und Sorgen geblieben – und um diese zu scheuchen, um den Namen meines Vaters zu retten . . . ich tat, was ich mußte, wenn auch der Flügelstaub von meinen Schwingen dahin war. So ist denn alles gekommen, wie es das Schicksal bestimmt hat. Und was es getan hat, das war ehrliche, aber fanatische Arbeit, so daß mir nichts weiter übrig blieb, das Unabänderliche ergeben, wenn auch blutenden Herzens zu dulden. Das ist mir bis heute gelungen, und ich gedenke es auch in Zukunft zu tragen. Du aber,« und ihre Stimme nahm einen schmerzlichen Ton an, »sei stark, handle wie ich und suche dich mit dem abzufinden, was keine Änderung zuläßt. Vergönne mir aber ein verborgenes Plätzchen in deiner Brust, und halte lieb deine arme Maria.«

Sie sah ihn mit großen Augen an: »Ja, du – wie du sie damals geliebt hast – damals vor Jahren.«

»Und wie ich dich heute noch liebe!«

Zäh kamen die Worte von seinen Lippen herunter. Das ganze Ungestüm seines verhaltenen Sehnens war in ihm rege geworden. Er war näher getreten und hatte die Arme gebreitet – und da fanden sie sich in dumpfer Weltvergessenheit und hielten sich lange umschlungen. Der Duft des Weibes war bei ihm. Er fühlte den dämonischen Zauber und alles, was seine Brust bewegte. Da hielt's ihn nicht länger. Gemartert lag er zu ihren Füßen, hielt ihre Knie umarmt und preßte sie an sich, trunkenen Blickes die herrlichen Linien ihres Körpers in sich aufnehmend.

»Maria, Maria!« brach es in ihm los, »und was hindert dich jetzt noch, die alten Fesseln zu sprengen?! – Wirf sie von dir und folge mir in das klingende Leben. Jetzt habe ich die Macht, dich glücklich zu machen. Ich will – und du mußt, denn du hast mir eher gehört vor Gott und den Menschen.«

In fiebriger Hast packte er wieder ihre Hände und drückte sie krampfhaft. Seine Blicke hingen an ihrem zuckenden Munde.

Alles Leben war aus ihrem Antlitz gewichen.

»Ich wußte, daß es so kommen würde,« sagte sie mit erkünstelter Ruhe.

Was war das? – Was sollten diese Worte bedeuten?

Fast zornig war er vom Boden gefahren.

»Du willst nicht?« fragte er trocken.

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.

Ihre Augen begegneten sich.

»Du mußt.«

»Nein. Ich kann nicht.«

»Aber wenn du mich liebst . . .«

»Eben deshalb, weil ich dich liebe. Ich habe alles bedacht und alles vorhergesehen, wie es gekommen ist. Während der verflossenen Nacht war die Verzweiflung bei mir. Ich habe gesonnen – und keinen Ausweg gefunden. Ich mußte diese Aussprache haben; das war ich dir schuldig – das bin ich mir schuldig gewesen. Ob sie Erlösung bringt, ob wir unseren Seelenfrieden hierdurch wiedergewinnen – das zu ermessen, ist nicht unseren Kräften gegeben. Ich lebe dumpf und abgehetzt neben ihm her. Ich glaube ihm und glaube ihm nicht. Ich verstehe ihn und verstehe ihn nicht. Manchmal ist mir so, als wenn er mir unrecht täte. Gleich darauf denke ich anders, aber das weiß ich: er wird schwerlich eine Trennung gestatten . . . und dann du: wir sind nicht mehr dieselben Menschen von früher. Dir ja, dir lacht noch das Leben – aber was habe ich zu erwarten? Und wenn ich auch wollte, du weißt ja: ohne des andern Einwilligung wird keine Ehe geschieden – und um das zu erreichen, vorher deine Geliebte zu werden . . .«

Sie zuckte schmerzlich zusammen. Sanft hatte sie ihren Arm um seinen Nacken geschlungen. Ihr Mund verzog sich zu einem wehen Lächeln. Dann sah sie ihm jäh und starr in die Augen.

»Töte mich lieber,« sagte sie herrisch. »Aber um jenen Preis das Glück zu gewinnen . . . Nein, du – das kannst du nicht wollen.«

Sie hatte mit einer beinah grausamen Härte gesprochen.

»Maria, Maria . . .

Er küßte sie mit gläubiger Inbrunst. Heiße Tränen fielen auf ihre Stirne.

»Nein, du,« sagte sie schaudernd, preßte die Hände gegen seine Brust und beugte sich rücklings, »das hieße ja, das Heilige unserer großen Liebe erwürgen. Ich darf so nicht handeln und kann so nicht handeln. Niemals! – Verstehst du? Ich wollte dich noch einmal sehen, noch einmal die Stunde genießen und dann dich bitten: Gehe. – Ich habe keine Kraft und keinen Willen mehr. Sie sind gebrochen in mir; und wenn du bliebest, du würdest mich sündig machen – und das darfst du nicht wollen.«

Er vermochte keine Antwort zu geben.

»Sei doch stark,« sagte sie unter heftigem Schluchzen, und noch einmal ruhten ihre Lippen zusammen.

»So komm,« meinte er gefaßt. Er war still wie ein Kind und gefügig wie ein Kranker geworden.

Hand in Hand gingen sie heimwärts. Eine Nachtwandlerin, apathisch, gefühllos, schritt sie an seiner Seite dem ferngelegenen Garten des Hotels Quisisana entgegen.

Das Meer rauschte stärker. Am schroffen Fuß der Faraglioni stäubten glitzernde Funken. Auf den Wassern war die sonore Männerstimme von gestern: »O dolce Napoli . . .«

In der Nähe der ersten Häuser, die verschwiegen unter dem Mond lagen, schlang sie noch einmal die Arme um ihn. Stumm und selbstvergessen sah sie ihn an. Krampfhaft biß er die Lippen zusammen. Dann trennten sie sich. –

Anderen Tages ging Gottes herrlichste Sonntagsfrühe über das köstliche Eiland. Hans Behrend machte sich fertig, um mit dem ersten Schiff nach Neapel zu fahren. Meer und Erde lagen in unendlicher Klarheit. Als er die Terrasse verließ, hörte er das Rauschen von Frauengewändern. Er wandte sich. Es war Maria.

»Ich seh' dich nicht wieder?« sagte sie mit schmerzlicher Stimme.

Er gab ihr die Hand.

»Nie mehr,« sagte er ruhig, dann ging er, ohne sich nochmals umzusehen, zur Großen Marina hinunter.

Sie sah ihm mit wehen Augen nach – aber es waren Augen, die keine Tränen mehr hatten. Auf Capri wurde die erste Morgenglocke lebendig. –

Er war seit Tagen daheim. In Deutschland hatte inzwischen der Frühling seinen Einzug gehalten. – Unter den Hecken und an den Uferrändern war es blau von duftigen Veilchen. Die Waldanemonen schlugen ihre Lider auf, und Narzissensterne schauerten den kommenden Ostern entgegen. Und dann . . . Am Abend des dritten Tages saß der Vereinsamte in seinem Arbeitszimmer am Fenster. Im Dämmerlicht überflog er die Zeitung. Es war ein mechanisches Lesen, lediglich dazu angetan, seine innere Unruhe niederzukämpfen. Da las er: »Capri, den 25. März. Am Fuß der Faraglioni wurde die Leiche einer Deutschen gefunden. Man vermutet in ihr die noch jugendliche Frau eines höheren Regierungsbeamten. Wahrscheinlich verunglückte sie auf einem Spaziergang zur Punta Tragara.«

Lautlos sank er in die Knie. Er breitete die Arme und versuchte ihren Namen zu rufen; er konnte das Wort nicht mehr finden. Im Fieber sah er die Welt an. Eine brutale Faust warf ihn nieder. Erst nach Wochen genas er. Es war nur ein halbes Genesen. Hoffnung und Zukunftsfreude gingen über die erwachende Erde. Sein Geist aber sah rückwärts. Er fand, was er suchte: sie war abgestürzt am Abend des Tages, wo er Capri verlassen hatte. Seit dieser Erkenntnis war er gezwungen, eine Tote zu lieben.

* * *

Mehr denn zwei Jahre vergingen.

Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe sang . . .

Ja – was die Schwalbe sang . . .! – Im wachsenden Dunkel hatte sie ihren Singsang verloren. Ein Duft nach Lindenblüten drang in das vereinsamte Zimmer. Im matten Dämmerlicht glitt sein Auge noch einmal über die Schriftzüge seines Freundes Heinrich vom Hövel. Mit nervöser Hand fuhr er sich über den dunkeln Spitzbart, dann nahm er Stock und Hut und ging in den Abend hinaus. Bald darauf betrat er das Telegraphenamt, verlangte ein Depeschenformular und schrieb: »Montag dort. Erwarte mich mit dem Ostender Expreßzug.«

Als er das Telegraphenamt verließ, trat er in leuchtendes Mondlicht. Seine Seele war klar und ruhig geworden.

 


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