Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV

Hochaufgerichtet hörte sie auf die verhallenden Schritte. Sie gingen den Flur entlang, verloren sich allmählich, um gleich darauf auf der Treppe wieder deutlich zu werden. Dann fiel unten die schwere Haustür mit einem dumpfen, eigentümlichen Laut ins Schloß ein, der sich bis in die obersten Gänge fortpflanzte. Als wenn dieses dumpfe Geräusch eine Ewigkeit hätte, so tönte es weiter. Sie konnte es nicht mehr los werden und verfolgte es mit pochendem Herzen.

Erasmus van Dornick kam nicht wieder. Scheinbar hatte er seinen Besuch noch ein Stück Weges begleitet.

Sie stand noch immer auf der nämlichen Stelle. Was war soeben gewesen? Was wollte er überhaupt von ihr? Berührte sie eine fremde Macht, oder begann hier ein Geheimnis seine unsichtbaren, aber starken und verhängnisvollen Kreise zu ziehen? – Erst jetzt, in der Einsamkeit, wo sie mit sich und ihren Gedanken allein war, nahm das Gesagte die richtige Fassung und Form an und bewegte sie bis auf den tiefsten Grund ihrer Seele. Wie von einem aufsteigenden Grauen gepackt, warf sie sich auf einen Sessel in der Nähe des Fensters. Alles Milde war von ihr gewichen.

Mechanisch hob sie die Hände – ihre weißen, fast gespenstischen Hände – und die sollte sie strecken und ganz leise und sacht auf ein krankes Menschenherz legen! – Das Abendlicht spielte darauf und ließ aus dem kalten Weiß das feine Geäder deutlich hervortreten. Von ihr wurde ein Wunder verlangt – und wem galt dieses Wunder? Sie kannte ihn kaum, nur dem Namen nach, von Hörensagen; sie hatte sein Bild nur einmal gesehen. Allerdings – der Flug seines Geistes war zu ihr gedrungen, etwa wie das Flügelrauschen eines gewaltigen Vogels, der mächtig aufwärts strebt, um dann spurlos in ungeahnte Fernen zu schwinden; aber das war auch alles gewesen . . . und nun trat er plötzlich wieder in ihren Gesichtskreis und senkte sich talwärts. Was sollten überhaupt die geheimnisvollen Worte bedeuten? Wer hatte ihm, seinem Freunde, das Recht gegeben, so gebieterisch über ihr Tun zu verfügen? Sie hatte ihn kaum noch erkannt; er war so ganz anders geworden, und wie eine zwingende Macht war es von seinen Lippen gekommen: Du sollst die Hände auf ein krankes Menschenherz legen . . . Sie hörte sie scharfumrissen – diese zwingenden Worte, sie fanden einen Nachhall in ihr und weckten Eindrücke, die sie mit tiefem Bangen erfüllten. Sie versuchte es, dieses Bangen von sich zu schütteln; aber es blieb und ließ sich nicht scheuchen. Immer wieder drang es auf sie ein und zermarterte ihr Denken und Fühlen.

»Er gehört dem Geschlecht der Ruhelosen an und sehnt sich nach Ruhe,« sagte sie tonlos. Sie befand sich wie unter dem Einfluß eines fremden Gestirns, dem sie nicht mehr zu entrinnen vermochte. Sie fing an zu begreifen, daß es entsetzlich sein mußte, immer dieselben Gedanken zu haben. Sie sah in die kommenden Tage. Wollte ein anderer in ihr Leben hineingreifen, es nochmals niederdrücken, knechten und unglücklich machen, wie es schon einmal passiert war – und das jetzt, wo sie endlich aufatmen konnte und die ersehnte Ruhe gefunden hatte? Und was sollte dann werden? Es ist vermessen, mit Empfindungen und Gefühlen zu spielen.

»Diese Leere, diese entsetzliche Leere . . .!« sagte sie schmerzlich.

Eine schwere Beklommenheit legte sich auf sie. Ermattet sanken ihre Hände herab – ihre schneeweißen Hände; dann fuhr sie leidenschaftlich auf und trat ans Fenster.

Auf den gegenüberliegenden Ziegeldächern des Johannishospitals spielte der Abend noch mit seinen Lichtern und farbigen Reflexen. Darüber hinaus schoben sich dunkelgraue Massen in den heiteren Himmel. Es waren die Kronen der alten Bäume, die auf dem Hof der Beghinen standen und sich kaum merklich bewegten. Von ihnen ging ein Duft aus, der an Lindenblüten gemahnte; für sie aber war es ein fader Geruch, der langsam über die Stadt hinkroch und das Erinnern wachrief, als fielen welke Rosen von den Dächern herunter. Ihre Blicke hingen an den grauen Baumgruppen und wanderten weiter und weiter bis dorthin, wo der deutsche Wald grünte und auf der Magdeburger Börde die große Stadt lag, in der ihr Vater amtiert hatte. Dort war die Stätte ihres Leides und die ihrer Verfehlung. Auch die ihrer Verfehlung . . .? – Es breitete sich wie ein großer, dunkler Schleier darüber, aber unter seinem Gewebe ruhte ein verhaltenes Leuchten, ein Schimmern, das sich stetig hinzog und in der Erinnerung aufflackern konnte wie ein Licht der Verklärung. Und dennoch war Schuld da, und in diesem Bewußtsein gingen ihre Tage dahin, die ein Hauch unendlicher Wehmut umspielte. Gewiß, sie hatte manches vergessen, und vieles war abgeblaßt im Licht des Verklärten, aber dieses Vergessen war für sie kein Weg zur Freiheit geworden. Sie wußte: immer wieder regte sich in ihr das Gedenken an verflossene Stunden, in denen sie sündig geworden. Da war noch etwas übrig geblieben, was sie nicht fortnehmen konnte, was ihr anhaftete wie eine starre Fessel, wie eine liebe, süße Gewalt, die sie abschreckte und dennoch seltsam berauschte. Sie fand keinen Ausweg. Sie konnte lächeln und freudig erregt sein, sie konnte Augenblicke haben, wo sie sich mit dem Leben aussöhnte, aber dann wieder kam der fade Geruch nach verwelkten Rosen geweht, der ihr Inneres trübte und sie in Zwiespalt setzte mit sich und den Menschen. – Sie atmete tief auf. Die alten Baumkronen dahinten – wie sie geheimnisvoll heraufrauschten! – Sie dachte dabei an die grauen Linden, die fern drüben in der alten Stadt die Sankt Ulrichskirche umstanden. In dieser Kirche hatte ihr Vater Jahre um Jahre gepredigt. In Ehren ergraut, in dem mystischen Dunkel der Kirche fast wie ein Heiliger stehend, hatte er Menschenherzen erschüttert und Menschenherzen gen Himmel getragen. Er hatte Liebe gesät und dafür Liebe eingeerntet. Und da eines Tages war er nicht mehr der Alte von früher. Der Tod seines Weibes hatte ihn zwar gebeugt, aber nicht niedergeworfen – und doch war er niedergeworfen. Sein leuchtendes Auge hatte an Glanz, die beredte Zunge an Stärke und Überzeugung verloren. Wegemüde war er mit ihr nach Brügge gepilgert. Er glaubte in dieser Stadt die Widerspiegelung seines eigenen Lebens gefunden zu haben. Das tröstete ihn und machte ihm das Alter erträglich. Er fühlte sich heimisch hier, zumal seine Vorfahren einem niederländischen Geschlechte entstammten. Ja – ein Abglanz seines früheren Daseins kam wieder. Die Menschen aber, die er in der alten Heimat zurückließ, schüttelten die Köpfe und wußten nicht, was sie mit ihm und seinem sonderbaren Verhalten anfangen sollten. Etliche sagten: er sei an seinem Weib verblutet; andere: er wäre der Tochter wegen aus seinem Amte geschieden und habe auf einer entlegenen Scholle den Frieden gesucht und gefunden. Aber was sich auch begeben hatte – Bestimmtes wußte niemand, und somit schien alles nur ein bloßes Gerede gewesen zu sein. Mehr wie zwei Jahre waren darüber vergangen. Die Menschen vergessen so schnell. Erasmus van Dornick und seine Tochter wurden allmählich vergessen. Auch sie hatten nur noch geringe Verbindungen und Berührungspunkte mit der deutschen Heimat. Sie vermieden es, neue anzuknüpfen und blieben vereinsamt. Nur wenige kannten sie, aber die sie kannten, schlossen mit ihnen innige Freundschaft. Jetzt lag die große, tote Stadt um sie beide – und was ihnen anhaftete, verblaßte allmählich und schien an die Ewigkeit grenzen zu wollen. –

Sie glaubte wieder das starke Flügelrauschen zu hören. Ihre Unruhe wollte nicht weichen. Sie dachte an früher. Da war noch ein Versprechen übrig geblieben – und dieses Versprechen . . . Allein der Tod stand dazwischen, und die Hand ihres Vaters hob sich drohend . . . Wie still und abgeklärt war früher ihre Seele gewesen! – Dann war das Hungern nach Liebe gekommen und mit ihm die Schuld, die sie noch tiefer in ihr Elend hineinstieß. Das machte sie herbe, ungerecht, das prägte ihren Zügen eine ungewollte Duldung auf – und Duldung verbittert. Dem Durchlebten stand sie feindlich gegenüber, und doch wollte sie dieses Durchlebte nicht missen. Sie ging in die Irre. Sie suchte und fand nicht den Ausgang, und bei diesem Irregehn prägte sie in ihrer Ratlosigkeit den Gedanken von der Knechtschaft des Weibes.

Ah, dieses Ringen in ihr, dieses verzweifelte Ringen . . .! – und nun noch das kranke Herz, dem sie ihre Hände auflegen mußte! – Wie sollte das enden . . .?!

Sie kam aus diesem Zwiespalt nicht heraus. Mit weitaufgerissenen Augen sah sie über die tote Stadt hin, als suche sie ein Märchenland, wo sie ausruhen konnte nach all dem Sehnen und Bangen auf Erden. Aber ein schwimmender Nebel lag vor ihr, und doch gab sich alles so klar und fernsichtig, als wäre ein zartes Goldnetz über die Landschaft gebreitet. Die alten Linden jenseit des Johannishospitals ließen sich von dem zarten Weben des Abends umschauern. Es lag wie ein rosiger Kuß auf den Bäumen, der wie eine verliebte Welle die Blüten beseelte, sie näher brachte und einte, um dann wieder sanft zu ersterben. Es war eine Umarmung zwischen Himmel und Erde, das keusche Spiel einer ewigen Liebe.

Jetzt fühlte auch sie den warmen Odem, der aus der Tiefe heraufstieg und sie wie mit Schmetterlingsflügeln berührte. Aber sie hatte kein Teil daran.

Da streckte sie die Arme in verzehrender Sehnsucht. Die trunkene Liebeswelle jedoch berührte sie nur, beseelte sie nicht und flutete, ohne ihr Erlösung zu bringen, vorüber, um fern von ihr in den Rausch eines glücklicheren Herzens unterzutauchen.

»Nichts, nichts!« flüsterte sie in ihrer Hilflosigkeit. Es lagen Tränen in ihren Worten; ermattet sanken ihre Arme herunter.

Dann glaubte sie . . .

Sie wurde aufgeschreckt.

Wiederum wurde die Klingel gezogen, die alle Räume mit ihrer kalten und harten Stimme durchgellte. Sie wußte: jetzt kam der Vater zurück. Sie hörte das Mädchen zur Tür gehen; da wandte sie sich vom geöffneten Fenster. Ihr Goldhaar leuchtete noch einmal auf. In den verlorenen Ecken des weiten Raumes spannte bereits die Dämmerung ihre grauen Tücher, und sie schritt hinein, um sich von ihnen bedecken zu lassen. Die alten Kupferstiche an den Wänden traten zurück. Draußen aber lächelte der Abend und bestreute Giebel und Dächer mit durchsonntem Schaumwerk, das bis zur höchsten Spitze der Liebfrauenkirche aufflatterte und nicht schwinden wollte. Am tiefen Himmel standen noch vereinzelte Wölkchen; auch sie waren vergoldet. Ähnlich ruhen lichte Flitter auf Kissen und Sterbelaken, bis alles vorbei ist, und die dunkle Lade sie fortnimmt. Dann dringt nichts mehr zu ihnen – nichts mehr, nichts mehr.

Jetzt gingen Schritte im oberen Hausflur. Bald darauf erschien der Prediger, die Blicke ernst und still auf seine Tochter gerichtet.

»Er läßt dich nochmals grüßen,« sagte er nach einiger Weile. »Ich habe ihn bis zu den Hallen begleitet. Wie immer, so fühlte ich mich auch heute wohl in seiner Nähe. Er ist nicht wie alltägliche Menschen. Er ist anders geartet, eine Herrennatur, und erinnert mich an eine kernige Eiche mitten im Heideland. Sein Körper wurzelt tief im Erdreich, und seine Gedanken greifen in den Himmel. Ich glaube, er hat das Zeug in sich, Menschen glücklich zu machen.«

»Von wem sprichst du?« fragte sie geistesabwesend.

»Von ihm, der hier war,« entgegnete Erasmus in seiner vorigen Ruhe. »Sein Umgang läutert und erhebt, und die Worte sprechen aus ihm, die heilig sind: Kommet zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Er ist eben eine kernige Eiche – eine Stätte der Zuflucht, und als er von mir ging, da sagte ich mir: Da geht der Mann, dem ich mein Bestes anvertrauen könnte.«

Sie verstand ihn nicht. Sie sah ihn mit großen Augen an.

»Was willst du damit sagen?« meinte sie schließlich.

»Es gibt Tage,« versetzte der Prediger, »die voller Lerchenschlag sind, die weder Abend noch Nacht kennen, denn es wird nicht dunkel in ihnen – es sind eben heitere Tage, aber es gibt auch solche, die sich frostig anlassen. Sie wissen nichts von einer sanften Dämmerung, sie haben nichts mit dem milden Hinüberträumen freundlicher Sommertage gemeinsam. Ohne Übergang, unvermittelt und kalt bricht plötzlich die Nacht über sie herein, und Finsternis umhüllt sie – und ich glaube, ich habe mit einem solchen Tage zu rechnen.«

»Ich weiß nicht, wo du hinauswillst,« sagte sie in tiefer Betäubung.

Nie Nähe des Vaters machte sie unsicher.

»Du willst mich nicht verstehen,« entgegnete er nach kurzem Besinnen. »Wenn du aber verstehen wolltest, so wäre mir eine dumpfe Last von den Schultern und eine graue Sorge aus dem Herzen genommen. Es ist still um uns, allein diese Stille entspricht keineswegs unserem Lebensbedürfnis. Sie ist die logische Folgerung von dem, was mich tiefer beugte und meinen Scheitel ergraute. Sie mußte kommen; das lag in den Verhältnissen der verflossenen Jahre begründet. Nicht, daß ich über sie grollte. Im Gegenteil: sie hat auch ihr Gutes gehabt. Sie ließ vergessen, und für mich ist sie die Quelle eines neuen Daseins geworden. Ob auch für dich, muß die Zukunft lehren. Jetzt noch mag sie deiner Stimmung genügen, aber meine Stunden sind keine ewigen Stunden. Der Tag, von dem ich vorhin sprach, könnte unvermittelt hereinbrechen – und wenn er käme, so fürchte ich, du wirst an die Worte erinnert: Ich suchte die Stille und bin zufrieden geworden. Jetzt aber, wo ich allein bin, kann ich mein eigen Selbst nicht mehr finden. Ich hoffte auf das Licht, und siehe – es kam nur die Finsternis.«

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und senkte die Lider.

»Ja – so ist es,« sagte er mit aller Bestimmtheit. »Wenn man seine irdische Sendung nicht richtig bestellt hat, geht man nicht gerne durch das ›dunkle Tor‹, das wohl den Eintritt verstattet, aber keinen zurückläßt. Es wäre mir leichter ums Sterben, wenn ich dich geborgen wüßte. Ich fühle es, du stehst seinem Herzen näher, als du weißt. Was ihn beglückt, könnte auch dich beglücken – und du würdest aufwärts gehoben.«

»Du irrst,« sagte sie leise. Ihre Blicke erschlossen sich wieder. »Ich verehre den Menschen in ihm; seine Kunst spricht zu mir, wie die Natur spricht. Es liegt eben etwas Großes in seinem Können und Schaffen, aber das verpflichtet mich nicht, ihn und seine Kunst auch mit den Augen des Weibes zu sehen. Das sind grundverschiedene Dinge. Sie berühren sich nicht und haben keine Gemeinschaft des sinnlichen Empfindens. Es bleibt ein müßiges Unterfangen, vereinen zu wollen, was nicht für einander bestimmt ist.«

»Und wenn ich dir sage . . .«

Das versonnene Licht war aus seinem Antlitz gewichen.

»Denke an den Baum im Heideland,« sagte er mit kalter Betonung. »Er breitet die Arme nach dir. In seinem Schatten ist wohl sein. Du hast manches zu tragen.«

Ihre Mundwinkel verlängerten sich zu einem schmerzlichen Lächeln.

»Ich bedarf seiner nicht und genüge mir selber. Was ich zu verwinden habe, kann ich ohne seine Hilfe verwinden. Das Weib steht ebenbürtig neben dem Manne. Es ist ein Wesen für sich. Es bedarf keiner Stütze, und manches wäre anders gekommen . . .«

»Das war nicht deine frühere Ansicht.«

»Die Jahre bringen das mit sich,« sagte sie frostig.

»Du willst dich also auflehnen gegen das, was wir von jeher als überliefert und heilig ansahen?«

»Im gewissen Sinne – ja.«

»Also dahin zielst du?« sagte er traurig. »Ich sehe, deine Ruhe ist von dir gegangen. Du weißt nicht, daß Liebe das ewige Leben bedeutet.«

»Ja,« entgegnete sie hart, »das weiß ich.«

»Nein – sonst könntest du dich nicht in diesem Zwiespalt befinden.«

Er war dicht an ihre Seite getreten. Es stieg in ihm auf, als müsse er schwerdurchkämpfte Zeiten noch einmal durchleben. Das Müde verlor sich. Der vornübergebeugte Mann streckte sich wieder, und in fieberhafter Hast krampften sich seine Hände zusammen.

»Du solltest einen Spiegel befragen,« rief er mit erhobener Stimme, »und du würdest sehn, wie du dich verändert hast im Laufe der Jahre. Was ist von deiner rührenden Einfalt und dem kindlichen Frieden deines Gemütes übrig geblieben? Glaubst du, ich sähe nicht, was in dir vorgeht? Früher – ja, da wähnte ich in dir und deinem Lächeln den Himmel zu finden, da war es mir, als blickte ich in ein sonniges Land voller Blüten, wie sie die Hand des Schöpfers ausgestreut hatte. Jetzt ist das anders geworden. Rauhreif ist über dein Antlitz gefallen, und dein Herz ist voll Bitternis.«

Sie gab keine Antwort. Langsam ließ sie den Kopf auf die Brust herabsinken; dann machte sie eine Bewegung, als wollte sie das Zimmer verlassen.

»Wohin willst du?«

»Dorthin, wo ich dein hartes Wort nicht mehr höre.«

»Du bleibst,« sagte er mit zerrissenen Lauten und trat zwischen sie und die Türe.

Hochaufgerichtet, mit glühenden Augen und strähnigen Haaren, war er wieder der Alte von früher. So hatte er oft auf der Kanzel in der Sankt Ulrichskirche gestanden, so und nicht anders – wenn es über ihn kam, wenn er an verkehrte Sinne pochte und die Stirnen seiner Zuhörer dem Staube näher brachte. So und nicht anders . . .

Unentwegt waren seine Blicke auf sie gerichtet.

»Daß ich's nur sage,« kam es ihm schartig vom Munde, »denn es muß mir schließlich doch von der Seele herunter. Ich will, daß du dein eigenes Herz wiederfindest, daß du herauskommst aus deiner Zweifelsucht und dem verderblichen Suchen, das dich verzehren muß. Du haderst mit deinem Geschick. Auch in dir regt sich der obstinate Geist der Moderne. Was sie beseelt, ist auch auf dich übergegangen. Es ist der ewige Kampf um die Herrschaft auf Erden. Das moderne Weib mit seinen unheiligen und zersetzenden Anschauungen ist in dir lebendig geworden, welches keine größere Sehnsucht kennt, als die Befreiung von dem, was die Natur ihm vorschreibt und ihm Gottes ewige Gesetze befehlen.«

»Du verstehst mich nicht,« sagte sie halblaut, aber mit gekniffenen Lippen, »du irrst dich – du begreifst mich nicht und weißt gar nicht, um was es sich handelt.«

»Ich irre mich nicht,« sagte er überlegen. Alles Milde war in seiner Stimme erfroren. »Mit verhaltenem Schmerz, mit Unmut und Bitterkeit blickst auch du auf die geheimnisvolle Stelle der Schrift, welche lautet: Dein Wille soll dem Manne unterworfen sein, und unter Schmerzen sollst du deine Kinder gebären.«

»Ich sage dir nochmals . . .!« schrie sie entsetzt auf.

»So ist es,« dekretierte Erasmus van Dornick. »Statt geduldig und als Märtyrerin hinzunehmen, was ihm das Los bestimmte, will sich das Weib von heute aufbäumen gegen uralte Satzung. Eine Spur davon hat sich auch in dein Wesen, in dein ganzes Verhalten eingeschlichen. Das sah ich kommen – und habe geschwiegen. Das wußte ich lange – und fand nicht den Mut, in deine Wirrnis zu greifen. Aber ich sage dir: Wahn ist alles und jedes. Der Flug der Begeisterung, den die irregeleitete Weiberseele nehmen möchte, wird gehemmt durch eine unerbittliche Fessel. Und diese Fessel . . . Sie haftet am Weibe, sie bleibt beim Weibe, und keiner nimmt sie dem Weibe. Es ist lediglich eine elende Phrase, wenn emanzipierte Frauen das Gegenteil sprechen. Sieh dir eine solche an, die stetig entsagte. Das ist kein Weib mehr, das nicht nach dem Stammeln und dem Kuß eines Kindes begehrte . . . und ich sage dir nochmals: eine solche weiß nicht, daß Liebe das ewige Leben bedeutet.«

»Vater . . .

Mit einem klagenden Laut war Anna van Dornick aufgefahren. Beide Arme streckte sie von sich. Sie warf den Kopf zurück. In der heftigen Bewegung hatte sich ihr Haar gelöst. Wie eine schwere goldene Welle strömte es nieder, als wollte es auf dem Boden zerfließen.

»Ich will nicht entsagen und darf nicht entsagen!« knirschte sie zuckenden Mundes. »Aber das Weib hat das Recht, seine Liebe nach eigenem Ermessen . . .«

Sie verstummte plötzlich, als hätte sie die Sprache verloren – aber was sie gesprochen hatte, lag ihm wie Sturm in den Ohren.

Was war das? – Hatte er richtig gehört? – Und da stand sie – seine einzige Tochter. Mit einem Sprung war er bei ihr. Er faßte sie bei den Armen und drückte ihren Oberkörper zurück.

»Du,« stöhnte er heiser, »ich kann doch nicht glauben, daß die alte Geschichte . . .«

Der Blick des Predigers lohte mit finsterem Haß auf. Sein Denken wandte sich rückwärts. Er stand wieder auf der Kanzel in der Sankt Ulrichskirche – er sah die Menschen zu seinen Füßen – er bändigte sie, er führte sie, er triumphierte . . . und dann war das heimliche Reden gekommen . . .

Das trat in sein Gedächtnis zurück; es packte ihn wieder.

»Also doch noch die alte Geschichte!«

Sie gab keine Antwort. Ein Stürmen und Drängen kam über sie. Sie wollte sich losreißen – weit fort über die Schwelle . . . aber ihre Kräfte versagten. Da warf sie die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn – kraftlos, verzweifelt.

»Lege die Hand nicht in alte Wunden!« jammerte sie auf.

Da sah er sie an – und als er sie ansah . . .

War das noch seine Tochter? Ihr Antlitz war kalt und bleich geworden, als hätte der Tod es berührt. Nur der Schmerz, der ihre Lippen umspielte, wollte nicht sterben.

Erasmus van Dornick war weich gegen seinen Willen geworden. Er fühlte ein liebes Herz an seinem schlagen. Da neigte er das Haupt und tastete nach der Hand seines Kindes. Jetzt wußte er: er hatte noch nicht die richtige Stunde gefunden.

»Es ist gut,« sagte er leise, »ich will vergessen, denn die Liebe währt ewig.«

Noch immer ruhte sie an seiner Brust; ihre Hände legten sich wie eine Fessel um die hämmernden Schläfen, als müßten sie ein altes Erinnern erwürgen.

Die beiden sprachen nicht mehr.

Die großen, schattenhaften Augen des toten Brügge sahen durchs Fenster.

 


 << zurück weiter >>