Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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XVIII

Der Turm der Brügger Hallen ragte trotzig in den nächtigen Himmel. Noch vor wenigen Stunden war alles klarsichtig gewesen; jetzt stieg finsteres Gewölk auf.

Von einem Frontzimmer des Hotels du Commerce schimmerte ein erhelltes Fenster über den Großen Platz hin, auf dem die Hallen lagen und die ehernen Gestalten Jan Brendels und de Konincks die Fahnenwacht hielten. Abgesehen von einzelnen Laternen, deren Flammen unruhig hin und her flackerten, war es wohl der einzige Lichtschein in der ganzen Umgebung. Ringsum eine bedrückende Ruhe und ein schweigsames Dunkel . . . Selbst der Portier des Hotels hatte in seiner kleinen Loge den Gashahn abgedreht und sich niedergelegt; keine Gäste standen mehr aus. Morgen war auch ein Tag, an dem er frische Gelder einheimsen konnte. Der Nachtzug Berlin-Köln-Ostende dampfte schon längst dem Meer zu, und die wenigen Passagiere, die er mitgeführt und in Brügge abgesetzt hatte, ließen sich von dem schlummermüden Hauch der alten Stadt und ihrer Mystik umweben. Das Hotel du Commerce war abgestorben, abgestorben wie die alten Fassaden, Kirchen und Türme, die phantastisch von der toten Stätte in die Nacht hineinwuchsen, die steinernen Häupter mit grauer Asche bedeckt, bar des Pulsschlages einer früheren Zeit und nur vom Schmerz umgittert, der um die Vergangenheit klagte. Schlug eine Uhr an, so schleppten sich die einzelnen Töne müde über die lichtlosen Häuser, um sich in irgendeinem entlegenen Winkel zu verkriechen. So verlassen wie in dieser Stunde war die Stadt noch niemals gewesen; nur das Frontzimmer im ersten Stock des weitläufigen Hotels blieb erleuchtet, wollte die Lider nicht schließen und sah wie ein heißes, fieberkrankes Auge, das den Schlaf nicht finden konnte, nach dem Glockenturm der Hallen hinüber. Seit dem Einlaufen des Nachtzuges Berlin-Köln-Ostende war mehr denn eine Stunde verflossen. –

Alte Kupferstiche in vergilbten Barockrahmen hingen an den Wänden des saalartigen Raumes, von dessen kassettierter Decke die erleuchtete Krone schwebte. Auf dem Kamin mit den flandrischen Säulen tickte eine Stutzuhr, die schon längst Mitternacht hinter sich hatte. Die eingedunkelten Tapeten schluckten das Licht auf, so daß man kaum das breite Himmelbett gewahrte, das in seiner urväterlichen Gestalt und den schwer niederfallenden Gobelins fast die ganze, dem Fenster gegenüberliegende Schmalseite des Zimmers einnahm. Ein weicher Teppich dämpfte die Schritte; sie gingen wie auf einer dichten Schneedecke. Alle Winkel und Ecken lagen umdüstert; nur auf dem gespreiteten Tisch ruhte ein tagheller Schein, unter dem ein lautes Schluchzen war, das plötzlich abbrach, als die Hand des verzweifelten Mannes das Papier berührte, das ihm alles genommen.

Er preßte die hämmernde Stirn gegen die Tischkante; schreien konnte er nicht. Der Schmerz stieß ihm den Ton immer wieder in die Kehle zurück.

»Was soll das jetzt?! – Was soll das nur werden . . .?!«

Es war Hans Behrend.

Vom jungen Morgen bis spät in die Nacht hineingefahren, war er seit einer Stunde wieder in Brügge. In aller Herrgottsfrühe hörte er die märkischen Kiefern rauschen, sah den märkischen Sand – dann stampften die westfälischen Eisenhämmer – er sah Lippe und Ruhr – links von ihm zogen die monotonen Höhen des Haarstrangs vorüber – dann winkte der Rhein – der ewige Dom stieg auf . . . Er achtete nicht darauf, so schön und mächtig sich auch die gegliederten Steine wie riesenhafte Kristalle aufschichteten. Am Spätnachmittage passierte der Zug die stolze Kaiserstadt an der belgischen Grenze. Dann kam wallonische Erde. In Lüttich rauchten die Schlote. Brüssel, Gent . . .! – Es war späte Nacht geworden. Die matte Gasflamme an der Decke des Wagenabteils wollte nicht zur Ruhe kommen. Er saß allein zwischen den Polstern und zählte die Lichter, die noch in Gent brannten. Aber der Roland schwieg. Damals läutete er, und seine Schläge erzählten ihm die ernste Geschichte des vlämischen Volkes – auch die der schönen Maria von Burgund. Heute fehlte der großen, gewaltigen Glocke die Stimme. Der Zug polterte durch die sternlose Nacht hin. Die weite Ebene rollte sich unter dem klingenden Räderwerk auf. Er raste durch ein eingeschlafenes Land. Die Sekunden wurden zu Minuten, die Minuten zu endlosen Stunden . . . Dann kam Brügge, ausgestorben: – die tote Stadt unter dem mächtigen Bahrtuch.

Hans Behrend sah nur wenige Leute auf dem verödeten Bahnsteig. Er suchte mit bangem Herzen die Stelle, wo er Abschied von ihr genommen hatte.

Heinrich vom Hövel empfing ihn.

Nach Sankt Anne zu kommen, war keine Gelegenheit mehr. Es lag auch nicht in der Absicht Heinrich vom Hövels.

Sie gingen dem Hotel du Commerce zu. In dem saalartigen Gemach mit der kassettierten Decke erfuhr er alles.

Da überkam ihn die Zeit seiner Jugend und die Zeit seiner hoffnungslosen Liebe und die Zeit seiner heißen, wirklichen Liebe, an der er zu genesen gedachte – und mußte nun sehen, daß alles umsonst war und eine entsetzliche Hand ihn dem Abgrund zustieß.

»Der Tod ist hinter mir . . .!« schrie er auf, dann brach er zusammen, die Stirn gegen die Tischkante gedrückt, mit der Rechten das Papier zerknitternd, das sie ihm durch Heinrich vom Hövel zugestellt hatte.

Keine Tränen; nur ein jämmerliches Schluchzen – sonst gar nichts.

Lange, endlos lange Minuten vergingen.

Heinrich vom Hövel schritt über den geräuschlosen Teppich. Mit aller Gewalt brachte er den Aufruhr, der in ihm tobte, zum Schweigen; doch wie er auch grübeln und nachsinnen mochte – er fand keinen Ausweg und fürchtete, daß es für den Ärmsten keine Rettung mehr gab, daß er ein verlorener Mann war, dem nur erübrigte, das endgültige Fazit unter sein Leben zu setzen. Vielleicht konnte er ein neues Dasein beginnen, konnte hinüber retten, was noch zu retten war, konnte aus den Trümmern wieder aufbauen, aber auf einer anderen Stätte, geführt von einer weiblichen Hand, die ihm die Erinnerung von der Stirne strich, die stärker als die wundertätige Hand war, die ihn zu heilen gedachte und doch nicht zu heilen vermochte . . . vielleicht auch nicht . . .

Dennoch versuchte er es, ihm den armen, gebeugten Nacken zu strecken.

»Hans,« sagte er mit selbstquälerischer Fassung, mit einer Ruhe, hinter der der Henker mit dem Strick stand, um sie noch stiller zu machen, »sei doch nicht so ganz niedergeworfen. Nur nicht gleich mit der Flinte ins Korn. Arbeite, schaffe – das gibt Ablenkung. Hier hilft kein Mundspitzen; es muß eben gepfiffen werden. Die Augen auf! Windzeit und Wolfszeit wollen kommen. Begegne ihnen. Wer sich verloren gibt, ist schon vor der Katastrophe gerichtet. Also ruhig, mein Junge, und denke daran, daß sich auch die widerspenstigsten Gelenke einrenken lassen. Man muß nur wollen.«

Da streckte sich Hans Behrend.

»Was?!« stöhnte er auf. Mit glanzlosen Augen sah er den Sprecher an. »Man muß nur wollen?! – Was verstehst du darunter?«

Mit der Faust knöchelte er auf den Tisch.

»Wo das hier geschrieben steht – von ihr . . .? – Wo du mir das selbst in die Hand gedrückt hast? – Wo ihre schmalen, reinen Finger das niedergelegt haben? – Mensch, das ist ja mit ihrem Herzblut geschrieben!«

Er verfärbte sich und packte das zerknitterte Stück Papier, so wie man irgendein furchtbares Ding anpackt, das einem das Leben absprechen will. Dann las er mit fliegendem Atem, was er schon zehnmal gelesen hatte:

»Hans, verzeih' mir; ich flehe Dich an, mich begreifen zu wollen. Du bist noch immer bei mir, und das ist das Furchtbare in meiner gegenwärtigen Lage. Ich habe ausgehalten wie eine Verzweifelte. Nun ist trotzdem gekommen, was ich befürchtete. Das Schicksal ist eben stärker, gewalttätiger als ein gequältes Menschendasein. Ich liege am Boden. Das Unabänderliche geht seinen Gang. Ich wundere mich, daß ich noch lebe – aber ich kann unter den obwaltenden Umständen nicht anders handeln. Es muß sein, damit ich ehrlich bleibe; ich will es, so wahr mir Gott helfe, so wahr ich hoffe, selig zu werden. Suche nicht an meiner Entscheidung zu rütteln. Es wäre vergebens. Er ist wiedergekommen und verlangt sein Recht. Ich muß es ihm geben. Mein Entschluß ist unabänderlich, obgleich ich hierdurch meinem ersehnten Glück unbarmherzig die Tür weise. Die Gründe hierfür sprechen zu deutlich. Aber ich greife nach Deiner Hand und bitte Dich auf den Knien: Komme nicht wieder. Wir dürfen uns nicht mehr sehen; Du würdest mir sonst das Herz abstoßen. Gewiß – das ist nicht das Schlimmste. Gewiß nicht! – allein ich kann Deinen Anblick nicht mehr ertragen. Du würdest mich irrsinnig machen. Ich fühle es, das langsame Sterben kommt. Eine Verzweiflungstat meiner seits – das wirst du nicht wollen. Lebe wohl, Hans, und vergiß Deine arme

Anna-Maria.«

Seine Faust fiel schwer auf den Tisch.

»Und da willst du mir vorreden wollen . . .«

Wie ein Trunkener war er in die Höhe gefahren.

»Heinrich, und da sprichst du mir von widerspenstigen Gelenken, die sich einrenken lassen?!«

Die beiden Männer standen sich dicht gegenüber.

»Hans, du hast mich nicht richtig verstanden.«

»Warum nicht?«

»Ich wollte nur sagen: laufe nicht Sturm gegen Dinge, die vorläufig unüberwindlich erscheinen. Suche in erster Linie den Burgfrieden deines Innern wiederzufinden. Das steht an vorderster Stelle. Es gibt in der Welt größere Aufgaben zu verfechten, als solche, die lediglich dem Herzen entspringen. Laß unter dem Messer deiner Leidenschaft nicht die große Liebe zur Kunst und zu deinem Volk verhauchen. Das bist du dir schuldig, das bist du der Menschheit schuldig. Sie haben ein heiliges Anrecht darauf. Dein Geist darf nicht untergehn. Du darfst ihn und seine Schaffenskraft nicht selbstquälerisch vernichten. Das mußt du begreifen und wirst du begreifen. Du hast keine Verfügung darüber. Was in dir ruht, bestimmt, dem Schönen und der Wahrheit zu dienen, Gedanken zu formen und aufwärts zu heben, das ist nicht dein unmittelbares Eigentum. Beileibe nicht! Es ist weiter nichts, als ein dir von einer höheren Gewalt übertragenes Lehn, das du nach bestem Wissen und Wollen zu schützen hast, selbst auf die Gefahr hin, auf der Strecke liegen zu bleiben. Das allein hast du als Richtschnur deines künftigen Lebens zu betrachten. Und wirft dich der Jammer zu Boden, stößt dich die Not mit Füßen – die Fahne deines Geistes muß fliegen. Zerre sie nicht in den Staub. Du bist ein Priester der Kunst, der Offenbarung; es wäre ein Frevel, die heilige Flamme des Opferaltars kleinmütig niederzudrücken, einer Leidenschaft wegen löschen zu wollen. Du bist auf dem besten Wege dazu, wenn du nicht deiner haltlosen Stimmung gebietest.«

In jäher Hast faßte er die Hand seines Freundes und packte sie, als wollte er sie zerbrechen.

»Hans, höre mich: das allein wollte ich sagen; ich meine es ehrlich mit dir.«

»Und sie . . .?« fragte Hans Behrend. Alles Blut war aus seinem Antlitz gewichen. »Du,« stöhnte er auf, »hat sie nicht in mein Leben gegriffen – ohne Ahnung, was eigentlich die Liebe eines Mannes bedeutet, was es heißt, die Brust eines Mannes langsam, wenn auch unbewußt, mit reinen Lilienfingern zu zerfleischen? Anna-Maria! – Anna-Maria . . .

Er tastete in die leere Luft, als müsse er Halt gewinnen, um nicht niederzustürzen.

»Und jetzt ist dieser Mensch noch gekommen . . .! – Mein Gott und mein Himmel . . .

Heinrich vom Hövel mußte ihn halten.

»Und was willst du mit ihm?« fragte er düster.

Da schlug ihm ein blinder Zorn entgegen.

»Was ich mit ihm will?« kam es ingrimmig zurück. »Ich will ihm an den Hals. Entweder er oder ich – das will ich.«

»Das wirst du nicht,« sagte Heinrich vom Hövel mit aller Bestimmtheit. Fast scharf, zurückweisend hielt er ihm diese seine Meinung entgegen.

Hans Behrend trat einen Schritt vor.

»Wie kommst du dazu, dich so kategorisch in meine Angelegenheit zu mischen?«

»Weil ich dein Bestes will.«

»Und wenn ich behaupte . . .«

»Das verfängt nicht bei mir.«

»Und wenn ich mich genötigt sehe, Rechenschaft von ihm zu fordern?«

»Dann sage ich dir klipp und klar: du hast kein Recht dazu. Es wäre ein törichtes Draufgehn und stände ganz außerhalb deiner und meiner Verstandesbegriffe. Nein, Hans, man darf sich nicht lächerlich machen. Lege dir die Sachlage doch mal auseinander, seziere sie bis in die innersten Fasern, gehe auf den Ursprung der Dinge zurück – nein, bitte, laß mich ausreden – wäge mit dem Verstand und nicht mit dem Herzen, und du wirst zugeben müssen, daß es töricht wäre, ihn für den Entschluß Anna van Dornicks verantwortlich zu machen. Vergib dich doch nicht. Zerschelle doch nicht an einem Menschen, der, im Licht besehen, kaum würdig ist, dir die Riemen zu lösen, dem es fern lag, dir an die Ehre zu kommen. Frage dich selber: was ist der Zweck seines Hierseins, was will er? Nur verbriefte Titel besitzen. Er pocht auf seinen Schein und verfolgt seinen Weg mit der verfluchten Sicherheit eines Mannes, der gewohnt ist auf einem straffgespannten Draht zu spazieren. – Daß es so kommen mußte, ist furchtbar; dennoch muß ich dir gegenüber nochmals ausdrücklich betonen, daß er zweifellos in seinem Recht ist und eigentlich nichts getan hat, dein Ehrgefühl auch nur in etwa zu tangieren. Auch ihr Brief bestätigt diese meine Auffassung – und daher . . .«

Hans Behrend glaubte nicht richtig zu hören.

»Und daher . . .?« fragte er vor sich hinbrütend.

»Liegt die Entscheidung bei ihr und nirgendwo anders – und sie hat schon entschieden. Finde dich damit ab, besinne dich auf dich selbst. Nur der unbesonnene geht am Weibe zugrunde – und sollte es dir passieren: es wäre ein Jammer für die Kunst und die Menschheit. Was aber auch kommen mag: der andere bleibt aus dem Spiel, wird aus dieser Affäre einfach ausgeschaltet, hat überhaupt mit der ganzen Sachlage nichts zu schaffen, und solltest du dennoch den verzweifelten Mut haben – Mensch, ich weiß, was ich tue.«

»Soll das eine Drohung sein?«

Der Gequälte wurde bleich bis in die Lippen hinein.

»Das überlasse ich deinem Ermessen. Aber, Hans, Hans, Hans . . .! – du großes, liebes Kind, sei doch vernünftig und höre auf den, der dich kennt bis in die innersten Nieren und dich von jeher liebte, als wärest du sein eigener Bruder gewesen!«

Er warf die Arme um ihn.

»Sei doch vernünftig, sei wieder ein Mann, der nach Arbeit verlangt und Kampf und Sieg und dem harten Leben! – Nur so gesundest du, nur so geht dein Stern nicht unter, der ins graue, ewige Meer will.«

Die Stimme versagte ihm.

Hans Behrend wankte. Mit einem kurzen Laut brach er in sich zusammen, faßte sich aber. Den Kopf zurückgeworfen, sah er Heinrich vom Hövel an.

»Es ist gut so,« sagte er endlich. »Du wirst recht haben; der Mensch mag die Luft weiter genießen, die mich anekelt. Er mag an ihrer Überfülle ersticken.«

»Das ist mal verdammt schön und vernünftig gesprochen! Gut Ding, was sich bessert.«

»Aber eins mußt du mir doch schon gestatten,« sagte Behrend nach einigem Zögern.

»Hans – und das wäre?«

»Ich will morgen zu ihr.«

»Trotz des Briefes?«

»Ja – trotz ihres Briefes; aber frage nicht weiter. Das ist meine letzte Bedingung.«

Heinrich vom Hövel atmet tief auf.

»Dann gehe,« sagte er schließlich, »ich will dich nicht halten und kann dich nicht halten. Die Seemenschen sagen: Es ist freiwillige Tat . . . aber« – und seine Stimme nahm etwas Drohendes an, wie eben – »mag die Entscheidung auch fallen wie sie will: Du gehst nicht über Bord. Das erwarte ich von dir. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Heinrich – ich gehe nicht über Bord.«

Vom Hövel streckte ihm die Hand hin: »Also bis morgen. Und wo treffen wir uns?«

»Am Minnewater.«

»Um welche Stunde?«

»Gegen elf.«

»Gute Nacht.«

Da verließ er ihn und zog leise die Tür hinter sich ins Schloß. Seine Schritte verhallten in den endlosen Gängen.

Hans Behrend drehte das Licht ab. Unausgekleidet warf er sich aufs Bett. Vom Großen Markt her malte eine Laterne ihren gelblichen Schein auf die dunklen Tapeten. Das breit hingelagerte Brügge sah gespenstisch ins Zimmer. Der Turm der weiten Hallen wurde immer größer und größer. Hin und wieder tat er den Mund auf. Dann fielen die einzelnen Schläge gleich matten, ehernen Vögeln auf die tote Stadt hin, die, von düsteren Mauern umgeben und von einem sternlosen Himmel überdeckt, wie in einem riesigen Sarg lag.

Hans Behrend hörte auf die einzelnen Stunden. Die Müdigkeit wollte sich nicht einstellen. Erst gegen Morgen schlief er ein. Er durchlebte im Traum noch einmal die Tage einer glücklichen Kindheit. Sommervögel gaukelten über Blätter und Blüten, der Wind fuhr mit leisen Fingern durch nickende Roggenähren und spielte darauf wie auf goldenen Saiten. Später fand er sich wieder in der Löbkerschen Bude. Draußen fielen die Schneeflocken – leise, ganz leise. Die Leute gingen kaum hörbar vorüber. Im eisernen Kanonenofen knatterte ein lustiges Feuer. Auf der großgemusterten Tapete hing das Bild der schönen Maria, der Herzogin von Burgund, die so jung sterben mußte. Ihr Bild wurde lebendig. Es trat aus dem Rahmen heraus, nahm ihn bei der Hand und führte ihn durch die verschneiten Straßen bis gegen das Meer, das die vlämische Küste bespülte. Als er das Meer sah war Sommerzeit, und die Malven blühten an den niedrigen Giebelfronten der Häuser von Sankt Anne ter Muiden. Er selbst aber war zum Manne gereift, sein Name tönte, und das Schicksal hatte ihm silberne Fäden um Bart und Schläfen gesponnen. Und sein Herz war schwer. Blutstropfen hingen daran. Sie waren rot wie flammende Rosen, die im Sommerwind wehen. Er hörte den Fall der einzelnen Tropfen, und er wäre niedergebrochen, wäre nicht die schöne Anna-Maria gewesen, denn siehe: sie öffnete ihm mit reinen Händen die Pforten des Heiles.

Er sah in einen paradiesischen Garten. Da war keine Not darin, und fehlten Tränen und Herzeleid und alle Sorgen, die den Fuß straucheln machten.

Sie aber schritt voraus und winkte ihm mit ihren wundertätigen Händen – und winkte und winkte . . .

Da er aber folgen wollte, hob sich ein Sturm und sauste und brauste und packte mit eisernem Griff die Pforten an und spielte damit, als wären sie ein Gerät für Kinder gewesen – und schloß sie für immer.

Es war ein fernes, dumpfes Gepolter.

»Anna-Maria! – Anna-Maria . . .!

Er glaubte, ein gemarterter Frauenkörper sei hinter den zugeworfenen Planken niedergefallen.

Dumpf und schwer redete der Hallenturm in seine Traumwelt hinein. Da fuhr er auf. Das erste, bange Leben regte sich in den Straßen von Brügge. Verschlafen sah der Morgen ins Zimmer. –

Und der ernste, bittere Gang kam für ihn. Er hatte einen Klang im Ohr, als würde ihm das Armesünderglöckchen geläutet. Er konnte ihn nicht los werden. Wie von unsichtbaren Händen in Bewegung gesetzt, tönte ihm das trostlose Glöckchen von allen Seiten entgegen. Es schien aus dem mit Gras bewachsenen Straßenpflaster zu klingen. Es hallte ihm nach, als er die Heilige Blutskapelle passierte.

»Kehr' um, kehr' um – du bist doch verloren, verloren, verloren . . .

Erst jetzt bemerkte er, daß er einen Umweg machte. Da ging er nach den Hallen zurück und folgte der winkeligen Häuserzeile, die am Dyver vorbeiführte. Aber wohin er sich auch wenden mochte – das aufdringliche Läuten und Klingeln wollte nicht absterben. Er sah sich um, ob vielleicht ein Priester mit den Heilssakramenten käme. Er wußte: vor der goldenen Kapsel wurde stets eine Schelle geläutet, um die Vorübergehenden in die Knie zu zwingen, geschah es doch des Allerhöchsten wegen, der zu einem Sterbenden wollte. Ganz in seiner Nähe hallten die Klänge. Der Priester mußte jeden Augenblick um die nächste Ecke biegen; aber niemand kam, keine menschliche Seele – und das eherne Zünglein tönte weiter und weiter. Jetzt schien es von der Liebfrauenkirche zu kommen. Es verstärkte sich von Sekunde zu Sekunde; es nahm einen grollenden Ton an. Es war kein Glöckchen mehr, was die Luft erzittern machte; es war eine Glocke geworden.

»Kehr' um, kehr' um – du bist doch verloren, verloren, verloren . . .

Die gewaltigen Klänge drückten seinen Nacken tiefer. Nur mit Mühe vermochte er sich aufrecht zu halten.

Er schleppte sich weiter. Die Heilige Geist-Straße nahm ihn auf. Etliche Frauengesichter mit Klöppelhauben auf den zurückgestrichenen Haaren standen hinter den Fenstern. Niemand vernahm die mächtige Glocke; nur er vernahm sie, nur er konnte sie hören.

»Kehr' um, kehr' um . . .

Es war zu spät.

Da lag schon das düstere Haus mit den ausgetretenen Treppenfliesen und der abgebröckelten Klinkerfassade. Traurig, wie die übrigen Häuser der nächsten Umgebung, sah ihn auch dieses Haus an, das alles umfaßte, was ihm lieb und teuer war auf dieser Erde. Seine Liebe, seine einzige Liebe! – die eine entstellende Larve vorgelegt hatte, um ihn unerkannt und unbarmherzig niederzustoßen.

Die Tür stand geöffnet; er brauchte keine Klingel zu ziehen.

Noch einmal überkam ihn das Gefühl seiner gänzlichen Ohnmacht und seines Alleinseins. Er hatte Angst vor dem Tode und dennoch Scheu vor dem Dasein. Der Gedanke erfaßte ihn: könnte ich schon sagen, ich habe ausgelitten, wenn auch mit Schmerzen; aber ich bin wunschlos geworden. Ich habe das Leben versäumt, meine Tage sind nichtig gewesen; meine Arbeit zerflattert wie Spreu vor dem Winde. Es ist gut so und besser als leben, denn ich habe keine Furcht vor meinem eigenen Selbst mehr. Sie ist mir genommen; Gott war barmherzig.

Hoffnungslos ging er über die Schwelle. Er trat in ein verwunschenes Haus ein. Die weiten Korridore mit ihren kahlen, getünchten Wänden, die hallenden Treppenstiegen, die öden Nischen mit ihrer Nacktheit, die jedes Geräusch in Geisterstimmen zurückgaben – alles das mutete ihn an, als habe er eine Stätte betreten, die herbstlich absterben wollte.

Hier konnte man Tote aufbahren.

Niemand begrüßte ihn, niemand empfing ihn.

Er erreichte die erste Etage, wandte sich hierauf der nächsten Tür zu und legte, nachdem er leise angepocht hatte, die Hand auf den Drücker.

Aber niemand gab Antwort.

Da riß er die Tür auf . . .

Er wollte ja gar nichts. Er wußte zu genau, was eintreffen würde. Hier gab's keine Überraschung für ihn, ebensowenig wie einer Überraschungen fürchtet, der bei klarem Verstande über ein schwelendes Moor geht. Unter ihm wankt der Boden, die graue, gähnende Tiefe tut sich auf, zuckende Flämmchen spielen um seine versinkenden Füße – das ist so alltäglich. Und wenn der Tod selbst käme, und wenn der Wahnsinn erschiene – was verschlug das noch weiter? Mochten sie kommen. Er hätte sie als Erlöser betrachtet.

Das weite Zimmer lag in endlosem Frieden. Er sah nichts und hörte nichts. Nur ein gedämpftes Tageslicht fiel über die verblichenen Möbel. Ein Fenster stand offen. Kaum merklich bewegte sich die Gardine im Luftzug. Auch das gewahrte er nicht. Er hatte nur das unbestimmte Bewußtsein, als wenn sich eine schlanke Hand langsam erhöbe, um nach seinem Herzen zu greifen.

Jetzt sah er . . .

Er starrte das Weib an, das totenblaß und mit verstörten Mienen sich erhob.

»Also du kommst?«

Sie hielt sich fest und schaute zu Boden. Dann schlug sie die Blicke auf. Erstaunt und mit einem fast kindlichen Ausdruck sah sie den Weg entlang, den er gegangen war.

Er rührte sich nicht von der Stelle.

Mechanisch rang sich ihr Name von den kalten Lippen herunter.

»Anna-Maria . . .

»Die bin ich nicht mehr,« sagte sie mit vernichtender Ruhe, »aber ich bin die, die du suchst – und du hast ein Recht darauf, mich für ehrlos zu halten.«

»Anna-Maria, hast du kein liebes Wort für mich, ein einziges Wort nur?«

Sie sah ihn mit leeren Blicken an, und er fühlte, wie sie auf ihn geheftet waren – diese entsetzlichen Blicke.

»Nein – ich habe dir nichts mehr zu sagen.«

»Ach, du – denke doch an mich, denke an die Verstorbene.«

»Hans, ich habe dir nichts mehr zu sagen.«

»Und was wird aus mir?«

Er stierte in ein endloses Dunkel.

»Vergiß und suche glücklich zu werden. Was aus mir wird, das weiß ich. Frage an über Jahr und Tag – und sie werden die Antwort geben. Ich wollte dir und mir diese Stunde ersparen – und du bist dennoch gekommen.«

Ihre Worte erlahmten.

»Also das ist das Ende?«

Sie nickte stumm. Über ihre vergrämten Züge irrte ein krampfhaftes Zucken. Sie schloß die Augen mit einem seltsamen Mienenspiel, das plötzlich erlosch. Sie erinnerte sich . . . So hatte sie auch zum ersten Male mit ihm auf der großen Düne gestanden. Das Meer rauschte herauf, und ein Ostindienfahrer schwebte am tiefen Horizont mit vollen Segeln vorüber.

»Ja,« sagte sie endlich, »das ist das Ende.«

»Ich wußte es.«

Sein Bild stand in dem gegenüberhängenden Spiegel, und er sah, wie ein jäher Riß sein Antlitz entstellte, den der Schmerz hineingepflügt hatte.

Mit einer furchtbaren Klarheit lag die Stunde vor ihm.

Er hob den Kopf in die Höhe.

Er hatte sie zum letzten Male gesehen.

Noch einmal streckte sie ihm die Hand entgegen.

Er achtete nicht darauf. Er wandte sich und verließ das Zimmer.

Die Tür schloß sich hinter ihm – mit einem dumpfen Geräusch. Er hörte den Ton, als wenn er immer mächtiger würde.

Er hatte ihn schon im Traum vernommen.

Da ging er durch die vereinsamten Gänge, den tödlichen Pfeil in der Brust. Er brauchte ihn nur herauszuziehen, um still zu verbluten.

Auf der Treppe kamen ihm Schritte entgegen. Er glaubte . . . Sein Herz setzte aus. Die Wunde erstarrte.

Jahre mußten überbrückt werden, lange, qualvolle Jahre – und zwei Menschen begegneten sich . . .

Hans Behrend hielt sich am Treppengeländer.

Damals auf der Löbkerschen Bude – damals und jetzt . . .! – Wie das durch sein Gehirn flog! – wie ein Schiff in Not, wie ein zerrissenes Segel im Sturm . . .

Die Stunde verlangte nach Ausgleich. Sie schrie danach, wie ein weidwund geschossenes Tier auf der Strecke schreit. Hei, wie das zerrissene Segel im Sturm flog . . .!

Aber Hand ans Steuer . . . Er dachte an Heinrich vom Hövel und sah seinem Gegner starr in die Augen.

Und dennoch . . .

»Du,« kam es aus ihm heraus, jäh, zerfetzt, wie verzweifelt, – »nein, du – ich klage nicht um sie, ich klage nicht um mich. Ich habe keinen Haß für sie; auch das Mitleid ist abgestorben wie Halme, die die Sense umgelegt hat. Aber du . . .«

Eine wütige Verstörung hatte sich an ihn geworfen.

»Ich ziehe die Bilanz der verflossenen Jahre bis heute – und sie ist erbärmlich gewesen. Zum zweitenmal greifst du brutal in mein Leben, zum zweitenmal setzt du mir den kalten Lauf vor die Stirne . . . Aber glaube nicht, du seist Sieger geblieben. Der Sieger bin ich!«

Er beugte sich rücklings und hielt ihm die Faust vors Gesicht.

»Was wollen Sie von mir?« stammelte Heiking. Er war erdfahl geworden.

Hei, wie das zerrissene Segel im Sturm flog . . .!

»Der Sieger bin ich! – Mich hat sie geliebt – die tote Maria! – und für mich ist sie gestorben auf dem Wege zur Punta Tragara. Verstehst du: auf dem Wege zur Punta Tragara. Die Liebe bleibt über die Ewigkeit hinaus. Ewig ist sie bei mir – die tote Maria!«

Ein Schiff in Not – aber die Hand lag am Steuer . . .

Da lachte Heiking auf. Er beherrschte den Augenblick. Er stand über den Reden eines irren Mannes. Gleich Nadelkristallen schoß es aus seinen gekniffenen Augen. Er reckte sich auf. Er hatte nur wenige Worte, aber die trafen.

»Ein Pyrrhussieg,« sagte er mit herbem Sarkasmus. »Eim Pakt mit dem Tode – auch nicht übel. Und trotzdem: das Leben hat recht. An diesem Leben bist du gescheitert. Ich aber lebe und freue mich dessen.«

Und seine Hand ging nach der Türe, hinter der Anna van Nornick weilte.

»Und sie ist das Leben!«

Das saß wie ein Axthieb.

»Sie . . .?!« schrie Behrend.

Also das war der Ausgleich?

Er hörte ein dumpfes Brausen, er vernahm selbstgefällige Schritte, die aufwärts stiegen und sich auf dem oberen Flur langsam verloren. Dann war es ihm, als hätte eine ferne, weltfremde Stimme gerufen . . . Und die Stimme war so süß und verhieß ihm das Licht und das Vergessen und alles das, was er auf Erden nicht finden konnte.

Er hörte das Armsünderglöckchen nicht mehr. Etwas Befreiendes ging über ihn fort. Er war sich klar darüber, was geschehen mußte. Noch einmal wähnte er den Duft blutroter Rosen zu spüren. Es waren die Rosen von damals, die so heiß wie ihre Liebe geblüht hatten. Er entsann sich ganz genau, es waren dieselben Rosen.

Er strich mit der Hand durch die Luft, als wolle er sich des aufdringlichen Duftes erwehren, dann ging er still und gefaßt und ohne jede Erregung dem Minnewater zu.

Seelenruhig folgte er den verödeten Straßen. Hier hatte ihr Fuß gewandelt, dieselbe Luft hatte hier ihre Stirn umfächelt – er dachte kaum noch daran. Sein Erinnern versagte, obgleich er fühlte: unheimliche Krallen bohrten sich immer tiefer und tiefer.

Seine Ruhe war scheinbar.

Jetzt tauchte der weite Spiegel auf. Alte Weiden schaukelten ihr grünes Haar ob dem tiefschwarzen Wasser. Darüber hinaus erhob sich die Liebfrauenkirche.

Ein letzter, weher Blick . . .

Dort ruhte die schöne Maria. –

Am Minnewater stand Heinrich vom Hövel.

Als dieser des Freundes ansichtig wurde, ging er ihm entgegen und legte den Arm in den seinen.

»So wäre auch das erledigt,« sagte er mit einer Betonung, die das Gegenteil befürchtete. »Auch wirklich alles erledigt, mein Junge?«

»Alles,« war die bündige Antwort. »Nur eins nicht. Und ich möchte nicht gerne . . . Weißt du: da ist noch etwas, was ich verpaßt habe, was mir nachträglich leid tut. Sie reichte mir die Hand hin. Ich sah diese Hand nicht und wollte nicht sehen. Das war unrecht von mir. Ich hätte sie annehmen sollen. So scheidet man nicht, wenn man weiß, daß alles vorbei ist und man sich nie wiedersieht in diesem Leben.«

Er atmete auf.

»Heinrich, willst du mir einen letzten Dienst erweisen? Es ist wirklich der letzte.«

»Jetzt?«

»Ja – noch in dieser Stunde. Gehe zu ihr und bringe ihr meine Grüße.«

»Hans,« sagte vom Hövel und faßte ihn fester am Arm, »du kommst mir so unheimlich still und gefaßt vor. Du gibst mir Rätsel zu lösen.«

»Wie sollte ich nicht, wo ich das Schlimmste hinter mir habe. Ich will in die Heimat.«

»Was nennst du ›Heimat‹?«

»Das, was Vergessen bringt; in der Heimat vergißt man.«

»Mensch, du hast doch keine dummen Geschichten im Kopfe?!«

»Sei außer Sorge – und ich frage dich nur: willst du hingehn oder nicht?«

»Wenn es denn sein muß: ich gehe, aber du mußt mir versprechen, den Kampfplatz des Lebens nicht wie ein Schelm zu verlassen.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Tu willst mich nicht verstehen,« sagte Heinrich vom Hövel.

Sein Blick flammte auf.

»Verstehst du mich jetzt?«

»Ja, ich verstehe.«

»Und du erwartest mich hier – hier am Minnewater?«

Hans Behrend biß die Zähne zusammen.

»Ja – ich erwarte dich hier,« sagte er schließlich.

»Gib mir die Hand drauf.«

»Warum das?«

»Du sollst mir die Hand drauf geben.«

Die Stimme klang gebieterisch, fast drohend.

»Früher gehe ich nicht von der Stelle. So wahr mir Gott helfe!«

Da gab ihm der Ärmste zögernd die Rechte.

»Also es bleibt dabei,« sagte Heinrich vom Hövel, sah seinen Freund noch einmal lange und traurig an, dann ging er zu Anna van Dornick, während die weißen Schwäne Kreise um Kreise zogen, und das Minnewater wie flüssige Lava vorübergurgelte. Die große Glocke in der Liebfrauenkirche läutete die Mittagsstunde ein. Die ehernen Klänge suchten in den Himmel zu steigen; aber die dicke Luft drückte sie nieder. Sie fielen immer tiefer und tiefer, bis sie schließlich in der flüssigen Lava des Minnewaters versanken.

* * *

Im Wetter war ein stetiger Wandel.

Seit einer guten Stunde rollte die See wieder. Alle Fischkutter hatten die Garnelengründe verlassen und lagen vertaut zwischen den Buhnen, von Knocke bis Henst hin, wenigstens an fünfzig Stück, die Segel eingebracht und unruhig stampfend. Auch die Ausflüglerboote hatten sich in ruhigeres Wasser begeben.

Der Himmel war fernsichtig. Ab und zu blänkerte unter kurzer Sonne das Meer auf. Dann taten die Wellenköpfe so, als lägen sie in Frieden mit Gott und den Menschen; sie freuten sich und lächelten und waren doch tückische Hunde, die das Weiße ihrer Augen zeigten und nur drauf warteten, sich wie eine gierige Meute auf Deck zu werfen, um ihren Anteil zu holen. Alle sahen es nicht, aber ein Kundiger sah, wie ein straffer Nordwest hinter ihnen war, sie aufhetzte und mit weitausgeholter Peitsche traktierte. Unter der Peitsche lief ein kurzes Gebelfer, lange Striemen fegten über das Wasser, bis es schließlich in der grauen Tiefe aufmurrte, und auch die Sorglosen und Unkundigen nachdenklich wurden und lange Gesichter machten.

Es war so um sechs Uhr herum.

Die Sonne drückte nach unten. Von Walcheren bis Blankenberghe lag der Strand unter ihrem kurzen Blinkfeuer. Mürrische Wellen unterliefen die Bäuche der verstauten Ewer und Fischkutter. Die meisten Besitzer hatten sich wieder an Bord begeben, sahen mit stahlharten Blicken ins Wetter und warfen doppeltes Ankergeschirr aus.

Zehn Minuten später . . .

Keine Änderung trat ein. Eine rotangestrichene Masse, schwankte das Leuchtschiff ›Wielingen‹ zwischen der Heyster und Knocker Bank, hatte alle Körbe hoch und machte Miene, sich von den Ketten loszureißen. Unermüdlich torkelte der Kapitän mit dem Punschgesicht über die Planken. Er hatte einen dunstigen Kopf und wollte die bohrenden Geister in der frischen Luft los werden. Sein Ölrock schlug im Wind und klatschte ihm wie ein nasses Stück Segel um die unsicheren Beine. Er war miserabel gestimmt. Seit zwölf Stunden war er nicht aus dem verfluchten Ölrock gekommen – und dann das Poltern im Kopfe . . .

Immer auf und ab, immer hin und her . . .

Die See nahm ein böses Gesicht an.

Klaas Buhle kauerte auf dem Gangspill und priemte. Er dachte an seine Mutter, die er heute vor zwölf Jahren in die schwarze Lade getan hatte. Gegen Abend erschien ihre Seele. Dann sollte sie sich in der Kajüte an einem Kerzenlicht wärmen. Er saß schwer in Gedanken und simulierte sich eine schöne Rede aus, die er bei der brennenden Kerze zu halten gedachte. Er wollte ihr sagen, daß er noch immer gut beiwege sei, daß bald etwas in der Heyster Bucht passieren würde und so . . . das wollte er sagen. Darüber grübelte er nach, während der Knasterbart als Wachthabender auf Achterdeck stand und strenge Order hatte, alles Neue, was er vor Augen kriegte, ungesäumt anzurufen.

Und wieder waren zehn Minuten vergangen.

Die Sonne duckte sich unter. Im steifen Wettermantel zog es über das blauschwarze Wasser. Das Feuerschiff wiegte und wogte. Es knackte in den Ketten wie in Fingergelenken.

Da bog etwas in Richtung von Heyst her.

Immer näher, immer näher . . .

Mit weißen Kämmen rollte die See an.

Der Kapitän wurde auf die Seite geworfen.

Da kam es von achtern: »Boot in Sicht!«

»Wo?!« brüllte das Punschgesicht.

»Backbord voraus!«

Der Seelenmensch war an die Reling getreten.

Auch der Kapitän.

Das Wasser röchelte und gurgelte.

Fünf Minuten später . . .

Der Kapitän hob breitbeinig das Glas auf.

»Gotts den Donner!« rief er mit einmal, »das ist ja . . .«

»Was los?!« keuchte Klaas Buhle.

»Hoho! – das ist ja dem dicken Banning sein ›Meisje‹!«

»Und alles Tuch gibt der Mensch her!« schrie Klaas Buhle dazwischen.

Der Kapitän war nüchtern geworden. Er ließ das Glas herunter.

»Bei diesem Wetter . . .! – Gottssträflich . . .! – Wie kann er sein ›Meisje‹ verleihen . . .?!«

Das Sprietsegel hoch, schoß das Boot durch das kochende Wasser.

Jetzt sah man es nicht mehr. Da hob es sich wieder . . .

Alle Matrosen waren an die Reling gelaufen.

»'ne Seele, 'ne menschliche Seele . . .

Klaas Buhle hatte gerufen und streckte dabei die Hände, als müsse er ein Unglück beschwören.

Jedem stand das Herz still.

Wieder zwei Minuten . . .

Nur ein Mann war in dem schwachen Fahrzeug zu sehen. Wie eine Nußschale wurde es hin- und hergeschleudert . . . noch eine Minute: und dann ein Krachen und Splittern.

Das Segelgeschirr war gebrochen.

»Mann in Not!« rief der Kapitän und gebot: »Jolle klar!«

Jetzt sah man nichts mehr.

Das Boot rasselte an der Leeseite nieder.

»Freiwillige Tat – wer mitgeht . . .

Das Kommando jagte wie zündendes Feuer über Bord hin.

Da sprangen der Knasterbart, Klaas Buhle und die halbe Mannschaft nach.

»Mit Gott!« rief das Punschgesicht und mußte sich halten, um nicht umgeschmissen zu werden.

»All right!«

»All right!« kam es zurück, aber da kroch es plötzlich wie dicke, weiße Watte von allen Seiten heran. Schwaden bei Schwaden . . . und fast keine Hand mehr vor Augen zu sehen.

Der Kapitän und die übrige Mannschaft stierten und stierten, aber sie hörten nur die Arbeit der Riemen und das Stöhnen des Meeres . . . und plötzlich ein helles Gelächter, als wenn ein Wahnsinniger gelacht hätte.

»Gottverdammich . . .

Dem Kapitän kroch eine schwere Angst über den Ölrock.

Die Watte wurde immer dichter und dichter.

Sie hörten und sahen nichts mehr.

Der Kapitän ließ die Lichter aufmachen, obgleich es noch Tag war. Hoch flogen sie von Backbordseite gen Himmel.

Und sie kamen nicht wieder und kamen nicht wieder . . .

Nach etlichen Stunden verging der Nebel. Der Wind jedoch war stärker geworden. Er neigte auf Sturm zu, konnte aber hierbei den richtigen Atem nicht finden, obgleich das Wetter schwer und bedrohlich blieb.

Erst spät in der Nacht kehrte die Mannschaft zurück. Der Seelenmensch aber und der Knasterbart waren an Land geblieben.

 


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