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23

Hermann Verheyen hatte kaum die Wohnung des Küsters erreicht, als hinter ihm hastige Schritte laut wurden. Er achtete nicht darauf und war gerade im Begriff einzutreten, als ein Duft nach Weihrauch und Wachs ihn umwölkte und sich ihm eine schwere Hand auf die Schulter legte.

»Herr Verheyen, ganz submissest zu fragen, Sie kommen wohl in Pulcherscher Sache?«

Hermann wandte sich: »Allerdings ...«

Blasius Roloffs, der sich mit einem blaugewürfelten Taschentuch die Sardellenhaare betupfte, stand vor ihm. Er war atemlos. Das Gleichgewicht des sonst so ruhigen und in sich gefesteten Mannes schien aus dem Senkel gekommen.

»Also in der Pulcherschen Sache,« stieß er hervor. »Wir hörten bereits. Jeden Augenblick ist das Schlimmste zu befürchten, kann die Katastrophe hereinbrechen ... und daher, wenn es erlaubt ist zu reden, so kommen Sie von wegen der Glocke. Sie soll geläutet werden, sie soll in kraft eines alten Vermächtnisses ...«

»Kein Zweifel ... und darum vorwärts, Herr Roloffs!«

Hermann Verheyen stand auf glühenden Kohlen.

Herr Roloffs duftete stärker. Er streckte die langen Arme gen Himmel. Er knüllte das blaubedruckte Taschentuch zusammen, um es gleich darauf wie ein Fähnlein fliegen zu lassen. Seine Brust ging keuchend, und wieder nahm er sich den Schweiß von der Stirne. Dann flatterten ihm die Worte vom Munde, wie aufgescheuchte Spatzen von einem Erbsenfeld: »Das ist es ja eben! Sie sehen mich barhaupt ... Alles ist sozusagen aus heiterem Himmel gekommen ... Wenn es erlaubt ist zu reden: der Herr Dechant haben in fraglicher Angelegenheit bereits Order gegeben. Wir pflichteten ihm bei und haben alles getan, das nötige in die Wege zu leiten. Nichts wurde verabsäumt, auch nicht das geringste. Die Pulsanten wurden bestellt, und wir möchten uns daher ganz submissest erlauben ...«

»Ja, aber, Herr Roloffs ... die Zeit drängt. Es kann nicht lange mehr dauern ...«

»Herr Verheyen, das ist es ja eben ... uns fehlen die Schlüssel! – Wir haben die Schlüssel nicht. Ohne mein Wissen hat sie der Herr Kirchenmeister in Verwahrung genommen, oder besser gesagt: heimlich entwendet. Ich sage Ihnen: ohne mein Wissen ... Er hat sie einfach erschlichen ... vor einer Stunde etwa ... Ich war anderweitig beschäftigt ... komme nach Hause und sehe das Unglück ... ich jage zum Turmportal – verschlossen ... ich suche durch die Kirche den Eingang zu erzwingen – auch verschlossen ... und bin dann zur Mühle gelaufen ...«

»Und da wollen Sie behaupten, Herr Roloffs ...«

»Ja, von dort kommen wir her ... von der Mühle kommen wir her ... in diesem Moment ... aber es war absolut gar nichts zu machen, absolut gar nichts.«

»Herr Roloffs,« schrie Hermann, »er hat die Schlüssel nicht hergeben wollen?!«

»Der?!« fragte der Küster. »Unter keiner Bedingung, absolut unter keiner Bedingung. Er war wie besessen ... reineweg aus allen Fugen und Kanten ... Wir flehten ihn an: keine Möglichkeit. Wir übermittelten ihm die Order des Herrn Dechanten: alles vergebens. Wir sprachen von dem Vermächtnis, von altverbrieften Rechten der Familie; wir beschworen die Zeiten, wo ein Kaspar Christian Pulcher in Köln regierte: nichts war zu schaffen. Ihr Vater – er stand zwischen Himmel und Erde. Ganz allein zwischen Himmel und Erde. Herr Kirchenmeister, rief ich ihm zu, es geht um Leben und Sterben ...! Da schrie er von der Mühle herunter: Der kann ohne Anne-Susanne verrecken ...!«

»Herr Roloffs ...!«

Hermann mußte sich an der Türklinke halten.

Der Küster hob beschwörend die Hände: »Herr Verheyen, die Sache ist furchtbar, so gegen eine heilige Satzung zu wüten. Aber wenn es erlaubt ist zu reden, so möchten wir sagen: die heiligen Sterbesakramente und 'ne Handvoll Kirchhofserde tun's auch – bringen gleichfalls die ewige Ruhe – sind auch dazu angetan, das Sterben leichter zu machen ... Da Herr Pulcher nun aber gewillt sind ...«

Hilflos ließ er die Arme herunter und machte die Bewegung eines Menschen, der nichts mehr zu vergeben hatte und keinen Ausweg mehr wußte.

»Und Sie können unter keinen Umständen ...«

»Wie sollten wir können ...!«

Da ging ein Riß durch den jungen Körper: »So werde ich selber ...«

»Sie, Herr Verheyen?!«

»Ja, und wenn nötig mit Gewalt.«

»Aber wir bitten Sie, um es submissest zu sagen ...«

Hermann kannte sich nicht mehr. Der Zorn rüttelte und schüttelte ihn. Er packte den Küster bei den Schultern: »Wenn Sie es nicht können, so muß die Axt es besorgen.«

»Das Kirchenportal ist heilig!«

»Noch heiliger ist die Sache eines sterbenden Mannes!«

Damit stürmte er fort, der Mühle zu, der Hanselaerer Straße zu, verfolgt von den Blicken des Küsters, die entgeistert hinter ihm herliefen.

»Jesus, Maria und Joseph!« stammelte Herr Blasius Roloffs, lehnte sich an den Türpfosten und verschränkte die robusten Hände. Der würdige Mann begriff das alles nicht, fand sich in dieser Wirrnis nicht mehr zurecht. Er war mit seinem Latein zu Ende. So etwas war in der kleinen Gemeinde noch nicht auf die Beine gestellt worden. Er kam sich vor wie ein verwunschener Geist in einer einsamen Kirche, der keinen Ausgang mehr fand und sich nun verurteilt sah, stetig gegen die bleiverglasten gotischen Fenster zu stoßen.

Er kannte Hermann Verheyen. Der war kein Freund von nichtssagenden Redensarten. Wo der zupackte, da flogen auch Späne. Er hörte bereits die Axt gegen die geweihten Planken krachen.

»Der Mensch ist fähig dazu,« stöhnte er in dumpfer Verzweiflung vor sich hin. Seinem Rock entströmte eine neue Wolke von Myrrhen und Weihrauch.

Er flocht die Finger ineinander und entwirrte sie wieder.

Sollte er dem Herrn Dechanten die ganze Sachlage unterbreiten? War er gezwungen, die Polizei anzurufen? Sollte er sich in eigener Person dem Vorhaben des jungen Mannes entgegenstemmen? Alles Fragen, die ihn wie lärmende Krähenvögel belästigten. Er fand keinen Ausweg. Seine Augendeckel fielen herunter. Es lag ihm wie Blei in den Gliedern.

»Lieber Gott,« sprach er verweht vor sich hin, »wenn es gestattet ist zu reden, so möchten wir uns ganz submissest erlauben ...«

Er kam nicht weiter.

Eine feine, silberweiße Schlangenlinie züngelte jenseits der großen Mühle auf, um spurlos zu schwinden. Wie eine geschmeidige Pantherkatze war sie über die Flügel gesprungen. Ein dumpfes Murren folgte. In der Wetterwand war leise Bewegung. Ein fernes, unbestimmtes Rauschen lief über die Stadt hin. Es kam von den Bäumen her, die in der Niederung standen. Menschen traten aus den Häusern, um nach dem Rechten zu sehen. Schatten gingen über die Erde und wischten mit ihren grauen Händen die letzten sonnigen Scheine fort, die sich hier und da angeklebt hatten. Mit ihrem Schwinden fiel ein dichter Aschenregen vom Himmel. Und doch ruhte das Wetter. Nur ab und zu teilte Gott, der Herr, den Vorhang auseinander, um mit seinem grellen Feuerzeug zu spielen. Gleichzeitig tönten Posaunenstöße von weit her. Sie tasteten sich langsam herauf, um jenseits der Häuser wieder matt und lautlos in die Wiesen zu fallen.

Um die vierte Nachmittagsstunde war die Treibhauswärme unerträglich geworden. Sie drang aus den Pflastersteinen und hing zwischen den Straßen. Der aufkommende Wind war nicht imstande, ihr das Bedrückende zu nehmen. Schweren Fußes und mit lechzender Zunge torkelte sie durch die Gassen, sah in die Häuser hinein und wischte sich den Schweiß von der Stirne.

Inzwischen passierte Hermann Verheyen das verschlossene Turmportal. Hier stieß er auf eine Gruppe von verstörten Menschen. Die meisten von ihnen waren in Hemdärmeln. Es waren die Pulsanten, die Blasius Roloffs auf Geheiß des Dechanten zusammengetrommelt hatte. Nur Thyß und der ›Hobel le Beau‹ fehlten noch.

»Sind die beiden Jansen nicht da?« fragte Hermann.

»Waren da,« versetzte der Schuster Kogeleboom, »aber wie das so ist, Herr Verheyen ... Wir stehen hier und können nicht vorwärts, und da wollen denn die beiden ein übriges machen ...«

»Wo sind sie denn hin?«

»Nach Hause, um den richtigen Schlüssel zu holen. Na, ich kenne den Schlüssel.«

Er spuckte in die Rechte und machte einen pfeifenden Lufthieb.

»Dann wartet man. Ich bin gleich wieder zur Stelle.«

»Wollen's besorgen ...«

Hermann hörte nicht mehr. Er stürmte weiter und mußte quer über den Kirchplatz. Als er die Mitte gewann, sah er die väterliche Mühle über den niedrigen Häusern emporwachsen. Alles Licht war von ihr genommen. Hinter ihr braute das Wetter. Rauchgraue Schichten drängten sich neben- und übereinander, schoben sich vor, um wieder langsam rückwärts zu kriechen. Zeitweilig büschelte ein helles Leuchten über der Mühlenkappe, verteilte sich und schickte weißglühende Streifen zur Seite. Fast lautlos geschah es. Nur dann und wann schien es so, als würde tief am Horizont eine Kegelkugel geschoben.

Bis jetzt hatte es Hermann vermieden, seinen Gedanken eine bestimmte Richtung zu geben. Es war ihm furchtbar, seinen Vater mit der jetzigen Situation in Verbindung zu bringen. Jetzt tat er es, und mit Flammenschriften trat es ihm vor die Seele: Rache bis in den Tod hinein. Das war seinem Vater Gesetz geworden. Sogar den Segen eines friedlichen Endes sollte Pitt Pulcher nicht haben. Droben im tiefen Dunkel hing Anne-Susanne, gewillt, den Mund aufzutun und dem Tod alle Schrecken zu nehmen. Unter ihrem Geläut sollte er still und schön und verklärt werden. Es sollte ein Sterben sein, wie das Hineindämmern des Tages in eine warme, glückliche, sternhelle Sommernacht. Und das wollte sein Vater verhindern.

Er hätte aufschreien mögen.

Seit drei Tagen war er nicht mehr unter die Sparren des Elternhauses gekommen. Am Tisch der braven Schreinersleute, bei Frau Jansen, Thyß und dem ›Hobel le Beau‹ hatte er die schwersten Stunden seines Lebens durchlebt, aber auch gelernt, das Schwerste ertragen zu können. Der Plan einer Umwertung der gegenwärtigen Dinge war hier in den Zustand der Reife getreten, und er fühlte sich Manns genug, sich nach diesem wohlüberdachten Plan ein neues Dasein zusammenzuzimmern. Mit dem wurde er fertig. Jetzt galt es nur noch, die Axt an die Torturmplanken zu legen. Oder sollte sein Vater ... Vielleicht noch konnte er ihm das Verächtliche, das Sträfliche nehmen; konnte er noch in letzter Stunde ohne Axthiebe auskommen –- der Welt gegenüber und dem Seelenheil seines Vaters zuliebe. Gut denn, er wollte ein letztes versuchen. Also zuerst in die Mühle. Wenn hier kein Ergebnis, dann hatte die Gewalt zu regieren. Ultima ratio regis. Es ging nicht anders. So stand es auf den Bodenstücken seiner lieben Geschütze geschrieben. Ultima ratio ...

Er biß die Lippen zusammen.

Seine Blicke umkreisten die Mühle. Trotz des stärker werdenden Dunkels sahen sie noch alles in unverminderter Schärfe. Sie zählten jede Windrute, jede Einzelheit des hohen Geländers. Aber was sie eigentlich suchten, fanden sie nicht. Der Umgang, auf dem noch vor kurzem Jakob Verheyen gestanden hatte, war leer.

Hermann hatte einen Fluch zwischen den Lippen.

Als triebe ihn eine unsichtbare Gewalt, so hastete er weiter. Er rollte den Weg vor sich auf. Unter ihm brannte das Pflaster.

Hinter seinem Rücken brummte die Turmuhr.

Er zählte die einzelnen Schläge.

»Erst vier,« sagte Hermann. »Gott sei gedankt! Herr, schenke ihm nur noch eine halbe Stunde – das übrige soll schon besorgt werden.«

Er mußte am Hause Pitt Pulchers vorüber. Die Läden waren noch nicht vorgelegt. Ein gutes Zeichen. Der Körper des hingestreckten Mannes hatte sich noch nicht unterkriegen lassen.

Auf der Türschwelle stand Stina Mengels, die ängstlichen Blicke nach oben gerichtet. Ihre Gedanken waren bei Anne-Susanne, hoch oben hinter dem alten Gemäuer, in schwindelnder Höhe, wo jetzt ein Falkenpaar kreiste, das durch den Anmarsch des Gewitters seine Ruhe verloren hatte. Zeitweilig kamen grelle Blitze aus den ziehenden Schwaden.

»Der für uns mit Dornen gekrönt wurde, erbarme dich unser!« so betete Stina.

Warum schwieg die Glocke noch immer?

»Der für uns mit Ruten geschlagen wurde, erbarme dich unser!«

Die Stille hielt an. Die Glocke konnte die Sprache nicht finden. Das Gebet nahm an Innigkeit zu. Die Stille, die entsetzliche Stille! Stina begriff das alles nicht. Die Läuter waren doch vorübergegangen. Aber nichts regte sich zwischen Himmel und Erde.

»Der du für uns am Kreuze gestorben bist, erbarme dich unser!«

In diesem Augenblicke fielen ihre verzweifelten Blicke auf Hermann.

Sie lief ihm entgegen.

»Hermann, ich bitte Ihnen, wenn bald die Glocke nicht läutet ...«

Sie streckte ihm die Hände zu. Ihre Ohrgehänge klingelten.

»Es geschieht um Leben und Sterben! Hermann, die Sakramente tun es allein nicht ... aber das andere ... ohne das kann er nicht in die Totenlaken hinein ... wenn jetzt die Glocke nicht läutet ... Ach, du lieber Herr Jesus! – Hermann, Ihr müßt nämlich wissen: der liebe Gott wartet nicht lange.«

»Stina, das weiß ich. Gott, das weiß ich ja alles!«

Er wehrte die Hände ab, die sich ihm entgegenstreckten.

»Nur noch 'ne Viertelstunde soll er den Atem behalten ...! Und wenn ein Unglück geschieht – ich läute die Glocke!«

Damit nahm er seine Mission wieder auf. Das Blut hämmerte ihm gegen die Schläfen. Er fühlte die einzelnen Schläge.

Hinter ihm schrie Stina Mengels den Namen des Gekreuzigten gegen den stummen Turmkoloß, dessen Helm rostfarbene Schatten umflogen. Wie eine erdrosselte Stimme kam es von der Höhe herunter. Der erste Windstoß verfing sich in dem Ziegelgemäuer, um dann wieder abzuflauen.

Stina sank langsam in die Knie. Ihre Hände legten sich schmerzhaft zusammen: »Herr, erhöre uns! Herr, erbarme dich unser! Herr, erlöse uns von den Übeln, jetzt und in der Stunde unseres Todes!«

Mit dem jagte Hermann über den großen Markt. Die Kirmes hatte dort noch ihre bunten Reste übriggelassen: Papier- und Strohfetzen, niedergelegte Buden und vernagelte Kisten, die der Abfuhr harrten. In der Linde mitten auf dem Markt war ein Rauschen und Brausen. Überständige Blätter wurden ins Weite gerissen.

So taumelsüchtig wie diese Blätter waren Hermanns Gedanken. Er wußte kaum, daß er am Rathaus und an der städtischen Wage vorbeikam. Noch einmal tauchte der Schattenriß der Mühle auf – rauchschwarz und mit Gespensterarmen. Dann sank sie unter. Hinter den schmalen Giebeln, die erdfarbig in den Himmel hineinragten, verschwand sie.

Nur noch wenige Schritte, und er bog in die Hanselaererstraße ein, die schnurstracks auf das elterliche Anwesen zuführte. Er sah weder rechts noch links. Er bemerkte die Leute nicht, die vor den Haustüren standen und das unheimliche Geschiebe am Himmel beobachteten. Da saßen Graupeln und Hagelkörner drin, fähig, alles auseinanderzuklopfen.

In der Mitte der schmalen Straße, rechter Hand, wo die Spinngewebe die Fensterscheiben mit Festons austapeziert hatten, stand einer auf den ausgetretenen Treppenstufen – eine Enaksgestalt, ein Mann mit einem brandfuchsroten Bärtchen unter der Nase und mit Fäusten, denen man zumuten konnte, ein hartes Talerstück auseinanderzubrechen. Mit der Rechten umgriff er einen langen Stiel, dessen blankes Endstück den Boden berührte. Er schien auf jemand zu warten. Häufig drehte er den Kopf und sah in den dunklen Hausflur.

Hermann bemerkte ihn nicht.

Schon wollte er an dem kleinen Hause vorüber.

Da wurde er angerufen.

»Hermann, ich bitte dir, Hermann ...!«

»Thyß – du ...?!«

»Hermann, meinen gehorsamsten Ausdruck, aber wohin denn so eilig?«

»Zur Mühle.«

»Gibt's nicht. In der Mühle ist doch nichts zu machen.«

Er trat näher.

»Ich sage dir, Hermann, da ist nichts mehr zu machen. Der Mensch ist deinem ganzen Vorhaben über. – Hermann, ich weiß alles. Herr Roloffs hat mir bereits die ganze Offenbarung gegeben. Wir Jansens und du, wir müssen die Geschichte 'raushauen. Wir sind die nächsten dazu. Pitt Pulcher muß sein Sterbegeläut haben, und da dein eingeborener Vater nicht mit die Schlüssel 'rausrückt, so muß, mit Respekt zu vermelden, hier dieses die Sache besorgen.«

Damit hob er die Axt und ließ die gierige Schneide unter dem dunklen Himmel aufblinken.

»Es geht auch ohne die,« fuhr Hermann auf.

»Ich bitte dir, Hermann ...!«

»Laß mich. Dort muß ich hin – in die Mühle ... Und wenn es mein Tod ist: ich will sehn, ob ich's mit 'nem Lumpen oder mit 'nem ehrlichen Menschen zu tun habe.«

»Mit 'nem Lumpen ...!«

Mit geschulterter Axt trat der ›Hobel le Beau‹ über die Schwelle. Die kleinen Augen brannten wie Feuer und Zunder.

»Hermann, er ist zwar dein auserwählter Erzeuger, aber ich kann ihn nicht anders benennen. Er gibt die Schlüssel nicht her, und will aus dieser Schikane heraus dem alten Herrn Pulcher den Eintritt in die Himmelspforte verunstalten. Hermann, setze mir nackig in Indigo ...«

»Dores, und wenn ich gegen meinen eigenen Vater ... ich muß auf die Mühle ...«

»Zu spät. Die Mühle ist leer. Totenleer. Dein Vater ist soeben vorübergekommen. Hinten durchs Gäßchen. Wohin? Das kann kein Teufel nicht wissen. Und darum und deshalb ...«

»Und das alles ist Wahrheit ...?!«

Die Worte stöhnten.

»Hermann, so ist es.«

Der ›Hobel le Beau‹ machte sich lang.

»Hermann, ich habe dir schon einmal gesagt: Du mit deiner Rettungsmedaille und deinem artolleristischen Heldentum, du kannst schon 'ne gehörige Portion Wahrheit vertragen. Herr Pulcher will in die Bretter hinein. Aber bevor er hineinwill, muß er die Gnade der ewigen Barmherzigkeit haben. Und das ist für seinetwegen Anne-Susanne. Das steht ihm zu, das ist sein Recht und ist mit 'nem richtiggehenden Siegel verzeichnet. Nu kommt dein Vater und tut ihm dieses ehrwürdige Siegel zertöppern. Mit anderen Worten: er will ihm noch bei's Sterben die Wohltat sanfter Kissen benehmen. Hermann, nimm's mir nicht übel, aberst drum muß ich ihn so Propter und Prätorius für 'nen Lumpen verschleißen. Hermann ...! – ich sagte schon eben: er gibt die Schlüssel nicht 'raus. Aberst hier ist ein besserer; und Thyß hat den zweiten ...«

Er zeigte auf die blanken Schneiden.

»Hermann,« fuhr er ingrimmig fort, »damit kommen wir zu Anne-Susanne. Recht muß bleiben, und geht es nicht anders, dann muß die Axt dafür einstehn. Das ist meine bedeutsame Meinung, und vertrittst du den nämlichen Turnus, dann bitte ich dir, mir solches in die Hand zu beschwören.«

Damit hielt ihm Dores Jansen die Rechte hin.

Und Hermann schlug ein.

»Denn los dafür!« gebot der Alte, »sonst können wir den braven Herr Pulcher nicht mehr die letzte Ehre erweisen. Das Gewehr über!«

Thyß und der ›Hobel le Beau‹ schulterten ihr Handwerksgerät.

»Noch eins,« sagte Dores. »Hermann, das sind die nämlichen Äxte, mit die wir die prächtige Fichte umgelegt haben. Das ist damals gewesen, als Pitt Pulcher mir sagte: Dores, daraus werden reguläre Bretter geschnitten. Schön, sagte ich. Und wenn das besorgt ist, meinte Herr Pulcher, dann kannst du mir aus die nobelsten davon das letzte Häuschen anmessen. Nu ist es soweit. Die Bretter sind fertig. – Bataillon, marsch!«

Damit schritten die drei ihres Weges, gefolgt von etlichen Neugierigen, die nicht wußten, was sie mit der sonderbaren Sache anfangen sollten.

Die Brust Hermanns stürmte. Er zog wie durch einen blutroten Nebel. Aus diesem wuchsen zwei mächtige Gestalten heraus, die des sterbenden Pitt Pulchers und die seines Vaters, beide gesonnen, seine heiße Liebe zu morden. Aber er war noch da, er selber – und hatte nicht der Kaplan gesagt: Über allen Anfechtungen des Lebens steht die Liebe? Ja, das hatte er gesagt, als er über die Schwelle trat, um die Tröstung der letzten Wegzehrung in das stille Haus des noch immer eigenwilligen Weberkönigs zu tragen. Und dennoch ... der blutrote Nebel wälzte sich gegen ihn an und suchte, ihn in die Knie zu zwingen ...

»Herrgott noch mal!« stöhnte er auf, »mir ist so, als wäre mir schon eine Kugel gegossen. Als müßte ich ...«

»Du?!« lachte Thyß, »du mit deiner barbarischen Forsche ...! – Die Kugel möchte ich sehen ...«

»Weiter, immerst man weiter!« fiel der ›Hobel le Beau‹ein, noch 'ne Viertelstunde, und der Alte hat sein Recht ... und wenn er sein Recht hat – Hermann, dann läutet dir Anne-Susanne das Glück und das Leben vom Himmel herunter ...! Hermann, das ist meine herrliche Meinung ...!«

Aber ihnen zerriß der Wettermantel.

»Hermann, da siehst du ...!«

Gottes Hand griff durch den zerrissenen Mantel und warf zuckende Garben über die Erde.

Eine tiefe Stille folgte, als wollte das herrische Licht nichts neben sich dulden. Dann ein dumpfes Dröhnen und Poltern. Es kam tief aus der Niederung her, wie das Brechen und Krachen von Speichen. Dann rollte ein majestätischer Donner über die Stadt hin.

»Hermann, es kann dir nicht fehlgehn ...!«


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