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19

Na, so was ...! – Die Klarinette hatte die führende Stimme.

Aber wie wurde sie auch geblasen!

Ihre Töne kribbelten ordentlich in die Beine hinein, um von hier aus höher zu steigen und die Herzen der tanzenden Paare fester aneinander zu schmiegen.

Überhaupt die Klarinette! – und vornehmlich heute ...

Niemals in seinem Leben hatte der Schuster Kogeleboom sie so trefflich gemeistert.

Aus Eichen- und Fichtenkränzen heraus, hinter denen sich die Musizi aufgepflanzt hatten, spendierte er die köstlichsten Klangfiguren, als wären sie so billig wie Heidelbeeren gewesen.

Kogeleboom war wegen seines langen Atems bekannt. Dreißig Sekunden hindurch konnte er den nämlichen Ton halten und zwar so regelrecht und ohne Knoten, daß man meinen sollte, ein Reepschläger hätte ihn aus einem einzigen Riesenfaden gesponnen.

Wie der Durst, so die Leistung. Und Meister Kogeleboom hatte sich in dieser Hinsicht nichts vorzuwerfen. Der ›Seydlitzbitter‹ und die sitzende Lebensweise machten ihn wissend, machten ihn zu einem kundigen Thebaner.

Wie er mit seinen steifen Pechfingern und dem schiefen Mundwerk das alles fertigbrachte, war von jeher ein Rätsel gewesen. Aber die Tatsache blieb nun einmal bestehen: unter dem Zwiebelodem des Schusters wurde die Klarinette zu einem denkenden Wesen, zu einem verbuhlten Weib und einem Lied ohne Worte.

Wie eine Tänzerin führte sie den Reigen an, schlängelte sie sich durch die Stimmen der Geigen, wiegte sie sich auf dem schweren Gerumpel des Bombardons, um wieder wie ein geschwätziger Star auf der höchsten Kirchturmspitze zu sitzen und die klarsten Triller niederperlen zu lassen.

Jetzt wieder ...

Zum zweitenmal wurden die ›Rosen aus dem Süden‹ geblasen.

Ach, die köstlichen Rosen ...!

Die Töne dufteten, und unter ihrem Hauch verwandelte sich der niederrheinische Tanzboden in eine prächtige Halle. Die aufgewirbelten Staubpartikelchen flimmerten und glitzerten im Licht von hundert und aber hundert Stearinkerzen, die, zu Kreisen gereiht, von der Decke herabschwebten. Drei Faßreifen gaben ihnen Halt und Stütze. Leichte Girlanden, mit Papierfähnchen in den preußischen und deutschen Landesfarben besteckt, schwangen sich von einem Leuchter zum andern, zogen sich dann zur Musikantentribüne und liefen von hier aus die Wände entlang, die ihrerseits wieder mit rot- und weißgestreiftem Schirtingstoff austapeziert waren.

Überall flirrende Bewegung.

Der mittlere Raum blieb für die Tanzenden frei.

Rechts und links standen Tische bei Tische.

Die Schmalseite des Saales wurde durch einen niedrigen Auftritt gehoben. Hier war für die Honoratioren gedeckt: für die Bürgersleute, die etwas vorstellten, und die fetten Niederungsbauern, die im Kreise ihrer Verwandtschaft, ihrer Frauen und erwachsenen Töchter das Blaue vom Himmel schwadronierten, neben sich den lieben Gott und allenfalls noch den Herrn Landrat gelten ließen, im übrigen nur die eigene Würde und den eigenen Menschen zu schätzen wußten und eine Bouteille nach der andern bestellten – alles bodenständige und seßhafte Leute, mit der Scholle verwachsen und von dem Bewußtsein getragen, ihr liegendes Eigen frei von allen Lasten und Hypotheken zu wissen.

In ihrer Gesellschaft befanden sich auch die jungen Brautleute. Sie warteten hier auf Jakob Verheyen und Seegers, die versprochen hatten, gleich nach der Sitzung anzurufen und noch etliche Stunden mit ihnen zu verleben. Jetzt betreute sie eine behäbige Gutsbesitzerfamilie, deren Äcker unmittelbar an das Seegerssche Anwesen stießen.

Der pater familias, Theresens Pate, auch Ohm Lörksenbauer genannt, lärmte vergnügt und schon etwas angetrunken über die gedeckte Tafel hin.

»Hermann, mich soll der Teufel frikassieren, wenn ich während meiner Brautschaft so'n miserabeles Gesicht aufgesetzt hätte! Was, Mutter ...?!« und mit einem jovialen Schnalzer legte er den Arm um die Taille seiner Frau, die verlegen mit ihrer schwergoldenen Uhrkette spielte und zustimmend nickte.

»Aber nichts für ungut, Hermann! Das kann alles noch werden. Miese Brautschaft, fideler Ehestand! Was, Hermann ...?!« und um seinen Worten den gehörigen Nachdruck zu geben, hielt er einen vorüberfliegenden Lohnkellner bei den Rockschößen fest: »Hallo, Markör, noch fünf Flaschen Burdo! Wir müssen Hermann Verheyen und seiner Braut die Ehre erweisen!«

Thres strahlte, und als die Flaschen kamen und eingeschenkt wurde, klangen die Gläser zusammen, als sollte unter ihrem Geläut das zu erwartende Glück für ewige Zeiten eingeweiht werden.

Ein brausendes »Vivat!« stieg von der Honoratiorentafel auf, erfüllte den ganzen Tanzboden und drang bis in die entlegensten Winkel. Alle streckten die Hälse und nahmen lauten Anteil an der klingenden Feier.

Das geschah in demselben Augenblick, als die ›Rosen aus dem Süden‹ zum zweitenmal einsetzten und der Staub wieder begann, glitzernd gegen die Kronleuchter zu wirbeln.

»Thres, alles Gute und Schöne!«

»Prost, Hermann!«

»Hermann, dein Spezielles!«

»Hermann, auf das, was wir lieben!«

Von allen Seiten strömten die Bekannten zu.

Auch Thyß Jansen war an seine Seite getreten, die Artilleriemütze schief über die Seite gezogen und eine Rose im Knopfloch.

»Hermann,« sagte er bedrückt vor sich hin, »nimm's mir nicht übel, wenn ich mir in diesem Momang in andere Umstände befinde. Hermann, ich und du, wir zwei beide sind von jeher immerst gute Freunde und Artolleriekollegen gewesen, und da sagte ich mir, Thyß, sagte ich mir, auf diesem erhabenen Kirmesfest bist du verpflichtet, deinem früheren Bundesgenossen den gehorsamsten Ausdruck vor die Füße zu legen. Hermann, es gilt, wenn auch vieles zwischen uns ist, was mir gegen den Strich geht. Hermann, so wahr ich hier stehe: gerne wäre ich in voller Montur und in kumplettem Lederzeug vor dir erschienen, um dir mit 'nem Glase Burdo unter die Augen zu treten. Da wir uns jedoch in bürgerlichen Verhältnissen befinden, Burdo aber, der Kostspieligkeit wegen, 'nem Schreinergesellen nicht zukommt, so steh' ich hier, wie ich bin und mit 'nem Seidel Bier zwischen die Finger. Und darum, auf das, was wir lieben. Indessen jedoch ... Hermann, nimm's mir nicht übel – auf deine Brautschaft kann ich nicht trinken. Das wäre Hochverrat an meiner innigsten Neigung, denn ich bin immerst ein ehrlicher Kerl und äußerst honorig gewesen. Aber in diesem Momang ... Hermann, ich denke an verflossene Zeiten und lasse das an dir leben, was ich an dir bewunderungswürdig taxiere und was schon unser ›Lieschen‹ und unser hochehrwürdiger Herr Regimentskommandeur als bewunderungswürdig betrachtet haben. Hermann« – und Thyß hob sein Glas in die Höhe und rief mit mächtiger Stimme über Tische und Bänke und über die Tanzenden fort: »Hermann, deine Kurasch soll leben, deine Tat als artolleristischer Kämpfer soll leben ... Hermann, die Rettungsmedaille soll leben!«

Und »Hoch!« ging das durch den Saal und nochmals »Hoch!« und zum drittenmal »Hoch!«

Nur in der Gesellschaft der vornehmen Bauern war eisiges Schweigen. Kein Laut kam von ihren Lippen. Alle sahen auf Hermann Verheyen, der, das Glas in der Hand, die Stunde nicht richtig ansprechen und hinnehmen konnte.

»Ich danke dir, Thyß,« sagte er fahrig.

Der war schon längst auf und davon und im Getriebe der hin- und herflutenden Menschen verschwunden.

Thres sah ihren Geliebten fassungslos an.

»Was wollte der Mensch nur?« fragte sie zögernd.

»Dämliche Redensarten machen,« gab ihr Pate zur Antwort. »Solche Kerls sind das tägliche Brot nicht wert, was sie zwischen die Zähne nehmen. Aber drum keine Feindschaft nicht, Hermann Verheyen. Für so was bist du nicht verantwortlich zu machen. Nur gebe ich dir den guten Rat, dir die klebrigen Schellackfinger vom Leibe zu halten. Wer um Thres Seegers gefreit hat, der muß sich dran gewöhnen, andre Luft um die Nase zu haben. Im übrigen allerhand Achtung von wegen deiner militärischen Dienstzeit. Das steht besonders verzeichnet und gehört nicht auf den Tanzboden. Aber das gehört auf den Tanzboden: deine Braut. Dafür bist du gekommen ... und somit: marsch ins Vergnügen.«

Der Alte hatte den richtigen Ton angeschlagen; alle pflichteten ihm bei, zumal auch die Musik kräftiger einsetzte und die Klarinette ihre schönsten und zierlichsten Figuren verstreute.

Ach, die köstlichen Rosen ...!

Thres hatte die soeben durchlebte Kränkung vollständig vergessen. Sie war darüber hingeglitten wie ein Fledermausflügel über ein spiegelndes und doch modriges Wasser. Der Walzer half ihr dabei. Die weichen Klänge legten sich schmeichelnd um ihre leicht erregbaren Sinne.

»Komm, Hermann,« sagte sie keuchend.

Sie schob ihren vollen Arm in den des Geliebten. Sie drängte ihn mit sich, in den Trubel hinein, in die flirrenden, tanzenden und flüsternden Paare hinein. Ihre Lippen öffneten sich durstig und wie in stiller Verzückung. Die alte, unbezwingliche Leidenschaft hatte sich wieder an sie geworfen – die Gier nach dem Manne. Das war Thres Seegers wieder, Thres in all ihrer Leichtfertigkeit, mit all ihrer Freude am Genuß und dem übermütigen Lachen, das sie von ihrem Vater geerbt hatte. Die wütigen Zweifel, die sie noch kurz vor dem Betreten des Tanzbodens beherrschten, waren spurlos aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Sie wollte ja nichts weiter als das Leben genießen, ein Leben mit heißen Pulsen und herrischer Mannesliebe, selbst wenn es mit einer Sünde erkauft werden mußte. Sie dachte erneut an die schwülen Roggengassen, von denen ihr die Obermagd erzählt hatte, an die verschwiegenen Sommernächte, die so hell waren, daß man jede einzelne Ähre zählen konnte. Und solche Sommernächte glaubte sie in den Armen Hermanns zu finden ... endlose, durstige Nächte, die selbst den Morgen vergaßen.

»Hermann, nu aber vorwärts!«

Ihre weißen Zähne lachten ihn an, ihr warmer Atem streifte ihn. Er fühlte die Nähe ihres festen und kräftigen Leibes.

Da riß er sie an sich, fast mit roher Gewalt ... und drehte sie durch das Staubgewirbel und das Kerzenflirren und schloß die Augen, um sie nicht zu sehen, um sich nicht zu sehen und die ekelhafte Welt nicht zu sehen. Es gibt Tage im Jahr, die sind voller Jubel und Blumen und haben doch den Tod zwischen den Rippen. Noch schlimmer, wenn solche Tage sich zu einer einzigen Stunde verdichten ... und eine solche Stunde war bei ihm, jetzt in diesem Augenblick, wo er mit Thres Seegers, mit seiner Braut, das eigene ›Ich‹ in das sichere Verderben und Sterben hineintanzte ... Was hatte er noch zu gewinnen? Anna Pulcher war ihm für immer verloren. Sie hatte ihm ja selber und aus freien Stücken heraus den Abschied gegeben. Warum also das lange Warten und Zögern? Am liebsten hätte er den kalten Lauf einer Pistole an die Schläfe gesetzt, um dem langsamen Absterben ein kurzes Ziel zu stellen. Aber was half ihm das alles? Er selber hätte sich allerdings aus dem Leben und von seinen Qualen fortgestohlen, aber sein Vater ... Gleichzeitig hätte er auch diesen über den Haufen geschossen ... und um diesen Preis die ersehnte Ruhe – und das Vergessen – und den Kirchhoffrieden zu kaufen ... Pfui Teufel nochmal ...!

Ein bitteres Lachen gellte über den Tanzboden.

»Hermann, was lachst du?«

»Habe ich wirklich gelacht?«

»Aber natürlich!«

»Dann ist es vor Freude gewesen.«

Sie wollte sich in seinen Armen schütteln: »Nimm dich in acht. Sie sehn schon alle auf uns.«

»Wollen wir nicht aufhören, Thres?«

»Ach, du! – weiter, immer nur weiter.«

Ihre Blicke glühten. Ihre Formen strafften sich, die Blumen, die sie im Haar trug, welkten ab und fielen zu Boden. Achtlos trat sie darauf und fühlte sich glücklich, den Wildgeruch des Mannes bei sich zu haben.

»Hermann, immer so weiter! – Hermann ...!«

Die ›Rosen aus dem Süden‹, die köstlichen Rosen ...! – wie sie die Sinne entflammten!

Auch über Hermann Verheyen fielen sie her, aber so welk und fade, wie sie soeben aus den Haaren von Thres Seegers gefallen.

Oben auf der Musikantentribüne stand Thyß Jansen.

Von hier aus sah er auf das bunte Treiben, das Schwirren und Walzen zu seinen Füßen.

Ein volles Glas Bier stand neben ihm auf der Brüstung.

Jetzt tat er einen tiefen Schluck, um sich Mut zuzutrinken. Und dann noch einen und wieder einen ... Er suchte und suchte. Endlich hatte er die beiden gefunden.

Sie schwebten unten vorüber.

Da reckte sich Thyß und stieß seinen Kopf durch das Laubgewinde.

»Doppelt hält besser,« sagte er grimmig vor sich hin. Dann packte er den Henkel und rief mit lustiger Stimme, die aber den Satan im Nacken hatte, über die tanzenden Paare: »Hermann, auf das, was wir lieben! Hermann, deine Kurasch soll leben, deine Rettungsmedaille soll leben! – Hermann, es gilt! – aber nicht deiner Brautschaft ...! Hoch und Vivat. Hermann Verheyen ...!«

Der Lörksenbauer bekam Witterung: »Da soll doch ein dreimal himmelhohes Gewitter ...!«

Die Menschen drängten zusammen.

Etliche hielten mit Tanzen inne.

Der Ankerwirt kam und sah nach dem Rechten.

Thres bohrte ihre Fingernägel in den Arm ihres Verlobten.

»Sollen wir nicht aufhören?« fragte er nochmals.

»Des infamen Menschen wegen?« gab sie zischelnd zurück. »Das wäre noch schöner. Jetzt gerade erst recht. Wetter, immer nur weiter ...!« und wieder ging ihr Fuß über die knirschenden Dielen, während der Lörksenbauer unentwegt Thyß Jansen beobachtete und den Hals einer leeren Bordeauxflasche umspannte.

Die Ordnung schien wiederhergestellt, als Thres Seegers plötzlich den Kopf in den Nacken warf und über die Schulter stierte ...

So tanzte sie weiter, den Blick immer auf ein und dieselbe Stelle gerichtet ... und dieser Blick wurde zum Panther.

Also doch!

Da stand ›Eine‹ am Ausgang –- bei den faden Kränzen – am Türpfosten gelehnt ... ohne Bewegung – ohne Leben ... still wie der Tod – und bleich wie der Tod ... und sah mit zusammengekrampften Händen und weitgeöffneten Augen in das bunte Treiben hinein, das sich um sie wie in einem Zauberkasten bewegte.

Lautlos war sie erschienen, so wie ein Schatten die Wand entlang gleitet. Niemand hatte ihre Ankunft bemerkt, aber auch niemand. Alle waren mit sich selber und den Kirmesgästen beschäftigt ... und so stand denn die Ärmste mutterseelenallein, von keinem gegrüßt, von keinem aufgefordert, von keinem bemitleidet.

Nur zwei glühende Blicke ...

In diesem Augenblick flog Thres Seegers mit häßlichem Lachen vorüber. Sie hatte alle Farbe verloren.

Anna Pulcher biß die Lippen zusammen. Alles lag in einer entsetzlichen Klarheit vor ihr – ihr vergangenes und ihr noch kommendes Leben.

Wie eine Bildsäule ragte sie auf. Nur ihre jungfräuliche Brust hob und senkte sich in abgemessenen Pausen.

»Hermann!« keuchte sie leise und drehte die Fingergelenke in- und gegeneinander.

Was sie früher verheimlichen konnte, ließ sich nicht mehr verhüllen. Alles sank unter ihr fort, ins Bodenlose hinein, ins Nichts, in die furchtbare Öde, wo die Schatten wohnen. Sie vergaß ihren Vater – und Stephan – und das Glück ihrer Familie – und alles das, was sie feierlich gelobt und versprochen hatte.

Sie sah nur die beiden.

Sie zählte die einzelnen Schritte, das Drehen und Schleifen ... Sie jagte sinnlos einem verlorenen Glück nach, das sie, einem furchtbaren Zwange gehorchend, von sich gestoßen, um es jetzt wieder mit allen Fasern und Masern eines verzweifelten Herzens an sich zu reißen. Dann dachte sie wieder: »Geh deines Weges. Du hast ja verzichtet. Du bist der großen Liebe nicht würdig, denn eine große und heilige Liebe nimmt ihren Weg über den Nacken von Vater und Mutter ... und du hast diese große und heilige Liebe von dir gewiesen, anstatt mit ihr über den Nacken deines Vaters zu schreiten ...«

Sie rang nach Erlösung, nach Wahrheit.

Sie fühlte, wie ihr Puls aussetzen wollte.

Eine Stimme war bei ihr; die raunte ihr zu: »Ja, Anna Pulcher, geh deines Weges.«

Schon wollte sie gehen.

Da fiel eine purpurblaue Nacht über sie her.

Thres Seegers ...! – und wieder das höhnische Lachen von eben.

Die andere, das Weib mit den Pantheraugen, warf sich in den Armen ihres Geliebten herum: »Ich danke dir, Hermann ...«

»Was heißt das?«

»Ich meine nur, Hermann,« sagte sie mit fliegender Hast, »du bist nobel gewesen.«

»Wieso denn?«

Da hielt sie den Fuß an – mitten im Tanzen – mitten in dem wirren Getriebe ... und riß ihn zur Seite – an eine offene Stelle.

Hier zeigte sie lachend auf den Eingang: »Hermann, die hast du mir wohl aus Liebe bestellt und zum Präsent machen wollen?«

»Wen meinst du?«

»Wen denn anders als dein früheres Liebchen. Da steht sie – die Webermamsell – das aufdringliche Weibsbild ...!«

Jetzt sah er durch das flirrende Drehen ...

Ein Schrei wollte aus seiner Kehle heraus. Er stieß ihn zurück und umgriff ihre Hände: »Aber wie kannst du ...? Diese Herzlosigkeit ...«

»Laß mich los!« knirschte sie zwischen den Zähnen. »Du sollst mich loslassen. Das ist bestellte Arbeit gewesen.«

Seine Fäuste packten nach: »Ich muß mir verbitten ...«

»Du ...?!« rief sie gellend. »Ich sage dir nochmals: Das ist bestellte Arbeit gewesen ...«

Sie sprach nicht weiter. Mit einem jähen Ruck brach die Musik ab. Die ›Rosen aus dem Süden‹ lagen entblättert am Boden. Durch das soeben noch fröhliche Treiben ging ein Frösteln und Frieren.

Die Menschen strömten zusammen. Die Blicke aller waren auf Anna Pulcher gerichtet.

Wie schön sie war! Wie still und zuversichtlich in ihrem großen Elend. Das Mitleid flog ihr wie zahme Tauben zu. Sie mußte es fühlen ...

Der Lörksenbauer schwankte näher.

Um Hermann Verheyen war Sturm. Seine Sinne brausten. Ein wilder Hammer pochte ihm gegen die Schläfen. Er sah befreundete Herzen, befreundete Menschen. Noch immer hielt er die Hände der Erregten umklammert.

Thres Seegers schäumte. Sie warf den Oberkörper zurück: »Du sollst mich endlich loslassen. Du hast mich belogen, betrogen – mit der da betrogen ...«

»Du – nimm Vernunft an, denn wenn ich dir sage ...«

»Ich glaube dir nicht mehr. Bestellte Arbeit, nichts weiter ... Also doch ein Lump! – aber der da ...«

Ihre Blicke loderten.

»Was willst du?«

Zum erstenmal schrie sie auf.

»Das kümmert dich nicht. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Aber gut, du kannst es immerhin wissen ... dem Weibsbild dahinten, der Dirne, die Hand ins Gesicht setzen – das will ich ...!«

Bevor er es verhindern konnte, hatte sie sich seiner Umschnürung entwunden und stand jetzt mit wogender Brust und verzerrtem Gesicht vor Anna Pulcher, die ihrem verzehrenden Haß mit kirchenstiller Ruhe begegnete.

Alles hatte sich mit Gedankenschnelle ereignet.

Weib gegen Weib, zwei kämpfende, ringende Weiber, und doch so verschieden in ihrem Kämpfen und Ringen ...

»Was hast du überhaupt im ›Blauen Anker‹ zu schaffen?« zitterte Thres Seegers.

Ihr Faust hob sich jählings.

Vor der Hoheit Annas sank sie wieder herunter.

»Willst du mir etwa den Eintritt verbieten?« fragte diese; dann sagte sie ruhig, ohne Bewegung: »Thres, ich habe gehört und gesehen ... Jetzt weiß ich: ich habe mir keinen Vorwurf zu machen. An deiner Seite wäre er elend geworden ... Noch soeben – ich gedachte zu sterben. Jetzt nicht mehr. Ich bin einem verpflichtet ...« und ihre Stimme nahm einen jubelnden Ton an: »Leben will ich – endlich mal leben. Mag kommen, was will. Und kämpfen will ich und siegen, denn ich bin die Stärkere – und mein ist die Liebe ... Hermann ...!«

Und Hermann Verheyen war bei ihr.

»Anna ...! – Geliebte ...! – endlich, endlich ...! – und du bist doch noch gekommen ...!«

»Sieh, wie ich kam ...« und ihre Arme hoben sich langsam – fast feierlich – wie im Erstaunen ...

Thres Seegers warf sich zurück.

»Erstickt an eurem Glück – ihr zwei beiden!« keuchte sie heiser. »Da haben sich die richtigen zusammengefunden ...«

»Thres, vergib mir ... ich konnte nicht anders ...«

»Bettelgesellschaft – infame ...!«

Der Brautring klirrte zu Boden, und mit hellem Gelächter warf sie sich an die Brust des Lörksenbauers.

Zwei Menschen aber, zwei durch die Not des Lebens verschlagene und durch die Not des Lebens doch zusammengekettete Menschen hatten sich wiedergefunden ... und sie sahen, wie die Vergangenheit in das Meer des Vergessens untertauchte – und sahen, wie die Gegenwart mit verhärmten und doch leuchtenden Augen heraufzog.

»Hermann ...!«

»Anna ...! – Geliebte ...!«

»Endlich! – endlich ...!«

»Bist du arm geworden durch mich,« sagte sie leise, »so arm, so arm ...«

»Und jetzt wieder so glücklich.«

»Ach – du, du, du ...!« hauchte sie schmerzlich.

Ein seliges Schluchzen war um sie.

Immer enger schlossen sich die Menschen zusammen. Sie umhegten die beiden wie Schutzgeister.

Der Lörksenbauer aber lärmte und fluchte: »Das ist ja 'ne ausgetragene Gemeinheit, 'ne Hundsfötterei ...!«

Er schrie nach dem Polizeidiener, nach dem Pastor, nach dem Gericht ...

»Franz Seegers soll kommen ...! Franz Seegers ...!«

Hoch von der Tribüne kam eine Stimme herunter. Ein Bierseidel wurde geschwenkt.

»Hermann,« jubelte Thyß, »nun bist du wieder der barbarische Artollerieheld von früher. Allerhand Achtung und meinen gehorsamsten Ausdruck. Hermann, auf das, was wir lieben! Hermann, deine Herzallerliebste soll leben! Die geht noch über die Rettungsmedaille. Hermann, du hast dir selbst übertroffen ...!« – und die Musik setzte von neuem ein, und alle kamen und beglückwünschten Anna Pulcher und Hermann Verheyen ... und wieder wurden die ›Rosen aus dem Süden‹ geblasen ...

Der Lörksenbauer aber packte eine ihm zur Hand stehende Bierflasche und knallte sie gegen die Dielen: »Kreuzgewitter, dreimal verfluchtes! – Franz Seegers soll kommen ...! Franz Seegers ...!«

* * *

Inzwischen ...

Die große Ruhe, die Pitt Pulcher geboten, hatte Franz Seegers im Sitzungszimmer der Sankt Sebastianer schon lange vorher unter den Tisch gepoltert.

»Abstimmen! – abstimmen ...!«

Er hatte das große Wort. Mit der ihm zu Gebote stehenden Unverfrorenheit suchte er alle Vorzüge seines Mandanten in die richtige Beleuchtung zu stellen. Seine Worte rasten wie Dreschflegel auf einer knochentrockenen Tenne. Was wollten alle Bewerber in der ganzen Umgebung überhaupt gegen Jakob Verheyen? Pitt Pulcher – recht schön, aber nur ein Waisenknabe im Hinblick auf den kolossalen Großkaufmann und Mühlenbesitzer. Als erster im Kirchenvorstand, als Standesperson und besonders in seiner Eigenschaft als Mensch war keiner würdig genug, ihm nur die Riemen an den Schuhen zu lösen. Bis weit über die Klever Gemarkung hinaus, bis ins Holländische hinein ließen sich zu jedermanns Einsicht noch die Spuren seines Ansehens nachweisen. Außerdem: ein richtiger Präsident mußte etwas in die Suppe zu brocken haben, mußte die Geldsäcke nebeneinander pflanzen können wie Soldaten im Gliede, um der Schützenfahne ordentlich Wind unter Tuch und Quasten zu blasen, sonst blieb die ganze Wahl nur 'ne Talmigeschichte. ›Butter bei die Fisch!‹ – ›Monetens heraus!‹ – Darauf verstand sich der steinreiche Mühlenbesitzer. Also weshalb nicht Jakob Verheyen?

Seine dröhnende Zusprache wirkte. Etliche nickten ihm Beifall, dann mehrere. Die Landwirte und größeren Besitzer drängten sich an ihn heran und gaben unverhohlen zu verstehen, daß sie die vorgebrachten Gründe einzuschätzen verständen und willens seien, ihre Stimmen schon dem Richtigen zukommen zu lassen. Ebenso wie Pitt Pulcher habe auch Jakob Verheyen seine großen Verdienste. Außerdem sei letzterer jünger an Jahren und somit besser geeignet, straffes Regiment zu halten und die Satzung zu ehren. Die andere Partei widersprach, suchte die niedergelegten Behauptungen zu entkräften und erklärte rund heraus, nur Pitt Pulcher wählen zu können. So der Postsekretär, Dores Jansen und der Bäckermeister ter Meeren.

Ein bedrohliches Murren lief durch die Reihen der Gegner. Immer lebhafter und lauter wurde das Für und Wider erörtert. Die Gläser füllten sich schneller und leerten sich rascher. Franz Seegers überschlug heimlich die Stimmen. Auf die seiner Kollegen konnte er mit Bestimmtheit rechnen, waren ihm viele doch bis aufs Blut verpflichtet und daher gezwungen, nach seiner Laune zu tanzen.

Noch einmal nahm er das Wort, um es gleich darauf an Jakob Verheyen zu richten.

Der saß mit zusammengezogenen Brauen und übereinandergeschlagenen Armen hinter dem Weinglas, ohne eine Silbe zu sprechen, scheinbar gleichgültig und doch von dem fieberhaften Wunsch durchglüht, den Triumph des heutigen Abends an seine Person zu heften. Aber nur nichts merken lassen! Keine Aufregung ... und so saß er denn wie ein lebendiges Steinbild, als Franz Seegers loslegte: »Aber ich bitte dir, Jakob! – Jakob, in Dreiteufels Namen noch mal! – stelle dich hierhin. Ich hab's schon einmal gesagt: Du bist von uns allen der alleinige Könner. Du riechst Katzendreck im Finstern. Jakob, laß dich nicht lumpen. – Meine Herren! – ich für meine Person und im Namen meiner engeren Freunde bringe den Großkaufmann und Mühlenbesitzer Herrn Jakob Verheyen in Vorschlag. 'ran mit die Kugeln! Jakob, die weißen für dich, die schwarzen für deinen Konkurrenzmann ... 'ran mit die Kugeln! – und schon meinen herzlichsten Glückwunsch im voraus ...«

Pitt Pulcher erhob sich.

»Nur, um keine Zweifel hochkommen zu lassen,« sagte er ruhig, »habe ich die Erklärung abzugeben: Ich bin unter den obwaltenden Umständen gezwungen, eine etwaige Wahl abzulehnen. Aber ich rufe nochmals, bevor die Kugeln entscheiden: Augen auf und Scheuklappen herunter! Meine Herren! – ohne Ansehn der Person ... aber über dreihundert Jahre sind vorübergegangen, und nach den Akten sind alle Hauptleute der Sebastianer mit reinem Gewissen gekommen und zu Gott berufen ... Jeder Präsident hat goldenes Korn umzulegen, Gotteskorn, Himmelskorn ... wer aber nicht rein ist und dereinstmals ein hartes Sterben zu erwarten hat, ein solcher macht alles zuschanden und streut Hederich unter den kostbaren Weizen ... In diesem Fall: Hände vom Tabernakel ...! und nun, meine Herren, da sind welche, die ein hartes Sterben zu gewärtigen haben. Zum Exempel ... Jakob Verheyen, was willst du überhaupt in unserer Gesellschaft? Kannst du goldenes Korn umlegen, Gotteskorn, Himmelskorn? Entspricht dein Leben und Suchen, dein Schaffen und Wirken der Satzung? Wenn ja, dann erhebe dich und lege die Hand auf die Fahne – und rufe Gott zum Zeugen an – und schwöre ...«

»Das ist Tusch!« brüllte Franz Seegers. »Das ganze Geschwatze hängt mir schon zum Kittel heraus ... und du, Jakob Verheyen ...«

Er trat an die Seite des Angerufenen – in seiner ganzen Wucht und Schwere und in seiner ganzen brutalen Siegesgewißheit, als plötzlich ...

»Donnerkiel!« rief Dores Jansen und spitzte die Ohren. »Der Skandal auf dem Tanzboden ... da muß was passiert sein ...!«

»Unsinn!« hielt ihm Franz Seegers entgegen. »Das gehört nicht zur Sache. Hier steht Wichtigeres auf dem Tapet ...«

Der Wirt drängte erregt den Kopf durch die Türe: »Ich bitte Ihnen, Herr Seegers ...«

»'raus! Wir können hier keine Ankerwirtens gebrauchen!«

Die Tür schnappte zu.

»So'n Dämel von Kerl! – Du aber, Jakob: läßt du dir das von dem Mann mit die große Glocke gefallen? Das wäre noch netter, und das könnte ihm passen. Mit die verfluchten Glockengießers und Glockenanbeter zum Deibel! – Jakob, nu aber 'ran, sonst geht dein ganzes Honnör in die Wicken, und du kannst dir einbalsamieren lassen.«

»Ich danke.« sagte Verheyen höhnisch über die Schulter und legte die Arme fester zusammen. »Im übrigen, Seegers, es bedarf bei mir keines Anwurfs. Ich bin mir selber Manns genug, mein Recht zu holen – selbst von einem Pitt Pulcher zu holen.«

»Bravo!« rief Seegers.

»Unerhört!«

»Weitersprechen!«

»Kommt schon,« nickte Verheyen und stürzte ein Glas Rotwein herunter.

Dann ein zweites.

Hierauf erhob er sich, schob die Hände in die Hosentaschen und nahm den Alten wieder an: »Na, Pulcher nu mal 'raus mit der Sprache. Was soll ich?«

»Was ich vorhin schon sagte. Schwören sollst du, daß du ein gerader und ehrlicher Mensch bist – hier auf die Fahne – hier auf das Banner der Sebastianer ...«

Und Pitt Pulcher streckte die Hand aus und wies auf das heilige Zeichen: »Ja. Jakob Verheyen, dort auf die Fahne – im Namen des allwissenden Gottes.«

»Du bist wohl verrückt?! Du bist wohl dem Tollhaus entlaufen ...?!«

»Nein, Jakob Verheyen, das nicht ... und drum gebe ich dir den guten Rat: schwöre nicht auf die Fahne, sonst könnte es dir später passieren, daß dir die Schwurfinger zum Sarg herauswüchsen ...«

»Da soll doch der leibhaftige Satan ...!«

Verheyen taumelte zurück bis an die gegenüberliegende Wand.

Von hier tobte er los, während die anderen aufsprangen und den Wütigen zu halten versuchten.

»Auseinander, ihr alle! Ich habe mit dem da zu reden, mit dem da, dem die Frechheit und der Dünkel auf der Stirne sitzen und Sturm laufen gegen vernünftige Köpfe. Mensch, was ist dir unter den Schädel gefahren? Ich kann doch nicht dafür, daß mein Hermann deine Tochter nicht wollte und sich nach einer besseren umsah ...«

»Jakob Verheyen ...!« drohte Pitt Pulcher.

Noch war er ruhig, noch hielt er sich in Gewalt; aber nicht viel mehr durfte kommen, dann konnten sich die Dämme darauf gefaßt machen, daß die Hochflut über sie fortbrauste und sie mitreißen würde in Tod und Verderben.

»Hast du noch was vorzubringen, Jakob Verheyen?« fragte er eisig.

»Warte man ab, du drei- und viermal durchgesiebter Prahler und Pocher ...! – und so ein Mensch will mich zum Meineidigen stempeln – will mein Wort und mein Leben nicht für voll ästimieren – will meine Hand durch den Sargdeckel hindurchstoßen lassen ...! Himmel, Herrgott, Gewitter ...! – Her mit der Fahne ...! – Ich will schwören ... dreifach und mehrfach ...! – Her mit der Fahne ...! – Gottverdammich, her mit der Fahne ...! Ich bin ehrlicher und reiner als du, denn du hast es fertiggebracht, dir durch nichtswürdige Kniffe, durch Lug und Betrug dein Weib zu erschwindeln und sie vorzeitig auf die Hobelspäne zu strecken. Wäre sie die meine geworden, damals, vor Jahren, sie lebte noch heute. Du aber ... durch deine Verrücktheit, durch dein Prophetentum hast du ihr die Tage zu Nächten gemacht und die Nächte zu Totenkammern. Mich liebte sie, aber ich konnte nicht helfen, aber du, du ... du hast es fertiggebracht, ihr den Lebensdocht abzudrehn und sie auf die Laken zu werfen ...«

»Jakob ...!«

»Und so einer will nun kommen, um mich vor aller Welt zu verludern und durch die Gosse zu ziehen ...! – Her mit der Fahne, her mit der Fahne ...!«

Jakob Verheyen warf den rechten Arm in die Höhe und streckte die Finger.

»Ich ...! – ich ...! – ich ...!« schrie Pitt Pulcher. Sein gesundes Auge schoß Flammen und Blitze. »Ich, Jakob Verheyen ... ich hätte mein armes Weib auf die kalten Laken und die Hobelspäne geworfen ...?!«

Mit beiden Fäusten packte er zu und riß sich Rock, Weste und Chemisettchen auf, so daß seine nackte Brust zum Vorschein kam.

»Mutter, hier ist mein Herz! Lisbeth, die du jetzt im Himmel bist, du sollst entscheiden: ist mein Herz falsch oder ehrlich gewesen – falsch oder ehrlich ...? Mutter, ich warte auf Antwort ...!«

Da war's alle.

Nur ein Brausen schlug an sein Ohr – ein höhnisches Lachen – ein Scharren und Stühlerücken ... Dann brach er an der Tafel zusammen, die Arme über den Tisch gestreckt und die Stirne gegen die Kante ...

So saß er ohne Bewegung.

Franz Seegers schob sich an Verheyen heran: »Jakob, du bist zu weit gegangen mit die bockigen Pferde. So was wirft den Stärksten zu Boden.«

Dores hatte die Hand am Degengriff liegen.

Der Postsekretär und der Bäckermeister ter Meeren sahen stur vor sich hin.

Jetzt hob Pitt Pulcher den Kopf – und murmelte Unverständliches – und tastete nach dem Schreibgerät, das neben den Akten lag – und nahm einen Bogen Papier – und riß einen Fetzen herunter ...

Dann schrieb er.

Auf allen Gesichtern lag eine bange Erwartung. Pitt Pulcher jedoch schrieb und schrieb – ungelenk und mit steifer Hand – und doch standen die Buchstaben fest und steil nebeneinander. Es war ein Spruch aus der Bibel ...

Jetzt war er damit fertig geworden, stemmte sich auf und wuchtete seinen Körper schwer in die Höhe. Den beschriebenen Zettel umklammerte er mit der Linken.

Sein gesundes Auge ging von einem zum andern.

Jeder zuckte zusammen.

Der »Hobel le Beau« nahm sich ein Herz und schnürte sich an die Seite des stillen Mannes: »Herr Pulcher, ich bitte Ihnen, machen Sie keine Dummheit, Herr Pulcher.«

Der Alte winkte gleichgültig ab. Er war fertig mit sich, seinem Gewissen gegenüber und der Welt gegenüber. Er hatte keine Rücksicht zu nehmen. Die furchtbare Anklage nahm alles hinweg, wie eine Feuersbrunst alles hinwegnimmt. Es gibt Augenblicke, die hauen das Schweigen auf dem Amboß zusammen und läuten Sturm. Er war keinem verpflichtet; auch Heinrich van Egern nicht mehr ...

Und so stand er denn mit aufgedrückten Knöcheln, ein Prophet, ein biblischer Seher, einer der da kam, zu richten die Lebendigen und die Toten.

Das Unglück wollte jetzt in Wahrheit von der Mühle herunter.

Die Stunde der Vergeltung erschien.

»Ich habe Gericht zu halten ...« sagte er mit scheinbarer Gelassenheit, und dennoch mit einem Ton in der Stimme, der allen das Blut vom Herzen zurückdrängte. ter Meeren suchte zu vermitteln.

»Läßt sich die Geschichte nicht anderweitig regeln, Herr Pulcher? Ich meine nur: was soll hier angestellt werden?«

»Das ist meine Sache, ter Meeren. Ich habe nur eine Botschaft zu übermitteln und eine kleine Rede zu halten. Der Schluß ist außerdem privatim an Jakob Verheyen gerichtet. Meine Herren ...!«

»Herr Pulcher, hören Sie auf,« sagte Dores. Auch ihm pochte das Herz gegen die Rippen.

»Meine Herren ...! – Also ich habe mein armes Weib auf die Hobelspäne geworfen ... und doch ist Gott mein Zeuge, daß ich sie liebte und ehrte wie die Äpfel in meinen Augen. Aber wer sie auf die Hobelspäne gestreckt hat ... Meine Herren! – da sind welche, die schlagen das Glück einer Familie zusammen, als wenn sie Holzkloben spalten. An ihrer Axt hängen blutige Tränen – Mannestränen und solche von Frauen. – Jakob Verheyen, ich frage noch einmal: Was willst du überhaupt in unserer Gesellschaft? – Deines Bleibens ist nicht länger unter dem heiligen Banner, denn ich melde für dich den Bankrott an – den Bankrott an Leib und Seele ... Ich stelle dich aus zum Verkauf ... Meine Herren! wer bietet ... wer bietet auf diesen elenden Bankrottierer ...? – Meine Herren, zum ersten – zum zweiten ... Wer will ihn, wer hat die Courage ...? – Wer will diesen Lumpen ...?!«

Ein Wutschrei gellte dem Sprecher entgegen.

Alle sprangen auf, drängten zusammen ...

»Hundeseele, verfluchte ...!«

Jakob Verheyen hatte gerufen und gleichzeitig seinen Genickfänger aus der Tasche gezogen.

Das Messer blitzte ...

Gierig wie das Auge des gewalttätigen Mannes stand es über dem Nacken Pitt Pulchers.

»'runter damit!« donnerte der Alte und hielt ihm den beschriebenen Zettel vor Augen.

Da sank das Messer, als wäre die fallende Sucht in den Arm Jakob Verheyens gefahren.

Er taumelte zurück.

Pitt Pulcher folgte ihm und raunte ihm zu: »2. Buch Moses, 20. Kapitel, 14. Vers ... Du sollst nicht ehebrechen, Jakob Verheyen.«

Und dann machte er kehrt und rief mit hallender, frohlockender, jubelnder Stimme: »Zum dritten und letzten ... wer will diesen Lumpen ...?!«

Türen wurden geöffnet und Türen geschlagen.

Der Ankerwirt stürzte ins Zimmer: »Herr Seegers, Sie sollen auf den Tanzboden kommen ... da auf den Tanzboden ...«

Pitt Pulcher aber schritt hinaus in den Abend, in den schönen, lauen niederrheinischen Abend – in die Nacht voller Sterne.

 


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