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16

Unter diesen Begebnissen war der Winter gegangen, war der Frühling gekommen, hatte der Sommer seinen Einzug gehalten.

Das Korn stand schwer auf den Äckern, und in den dunklen Wäldern, die nach Moyland zu lagen, war sanfter Orgelton ...

In stillen Abendstunden wölkte sich ein köstlicher Weihrauch über den Roggen- und Weizenschlägen.

Das Korn blühte und feierte Hochzeit, und wenn die Johanniswürmchen wie glühe Lämpchen durch die verschwiegenen Heckenwege irrten, hörte man das brautliche Werben und Stammeln und das heimliche Zusammenschauern der Ähren, das kein Ende nehmen wollte. Eine Aussaat von Sporen und Blütenstaub war unter der spiegelklaren Kuppel des Himmels. Im Säuseln des Windes wurde eine große Liebeswelle über die Felder getrieben. Sie verlor sich erst am tiefen Horizont, der wie ein violetter Seidenfaden die Ebene abgrenzte.

Es war die Zeit, wo die am Niederrhein Kirmes machten.

Das war fröhliche Zeit! Überall wurde der Schafsdarm gestrichen und die Harmonika lang gezogen. Von allen Schenken und Tenten bammelten die Fahnen in preußischen und deutschen Kulören, auch päpstliche waren dazwischen, und wenn von den Tanzböden die Klarinette durch Mark und Bein gellte, dann kam's nicht darauf an – dann zogen die vom Niederrhein ihren alten Adam aus, als fingerten sie die Haut von einer Schlackwurst oder einer Pellkartoffel herunter, verstauten ihre Schwerfälligkeit, das Zugeknöpfte und Breitnasige in die blankpolierte Kirschholzkommode, ließen Gottes Wasser über Gottes Acker laufen, um kurzerhand in die fidele und putzige Kirmesjacke zu fahren. Die umliegenden Ortschaften setzten zuerst mit dem Trubel ein – ein lustiger Auftakt, der die glitzernden Karussells in Bewegung setzte, mit Moppen und Lebkuchen herumduftete und die kreischenden Weiber über die Dielen schwenkte, daß die Röcke bis zu den prallen Schenkeln aufwirbelten. Dazu beflügelte das Bombardon die unermüdlichen Paare, drückte die verschwitzten Blusen und Mannesröcke eng gegeneinander und ließ sein sonores und ebenmäßiges:

»Eck,
Dreck,
Speck
Und überhaupt so ...
Umphal – Umphal – Umpha ...!«

bis in die Zehenspitzen hineinkribbeln.

Die in der kleinen Stadt merkten auf, horchten in Richtung der verlockenden Klänge und wünschten das heilbringende Bombardon mit allen Masern und Fasern schon jetzt in ihre luftigen Zelte.

Das sollte nicht lange mehr dauern, aber dann konnte es losgehn.

Auch Franz Seegers befand sich mit seiner gesamten Verwandtschaft in einer gewissen Erregung. Am Kirmessonntag nämlich hatte das erste Aufgebot seiner Tochter von der Kanzel herunter zu erfolgen. Drei Wochen später war Hochzeit, und zu diesem Behuf machte der protzige Gutshof ein Gesicht, als müsse er an der Überfülle des eingebrachten Warenlagers ersticken. Ganze Ballen von bester Leinwand, Köperstoffen und Halbzeugen schichteten sich auf und wurden verschneidert. Das Brautkleid war in Bestellung gegeben, und als die Seidenproben einliefen, konnte Seegers sie nicht dick genug und teuer genug haben.

»Nur prima, prima!« rief er der Probiermamsell zu, klimperte die losen Taler in der Tasche gegeneinander und ließ zur Aufmunterung etliche davon dem freudig erschreckten Frauenzimmer in den Schoß hüpfen.

»Merci, Herr Seegers.«

»Nichts zu danken, Mamsell. Wenn der Ochse drischt, soll man das Huhn nicht von dem Dreschboden jagen. Verstanden, Mamsell?«

Eigenhändig zeichnete er die Ferkel, Hammel und Kälber aus, die zur Feier der Hochzeit Hals geben mußten, probierte an den teuersten Bordeauxweinen herum, um ja die nobelsten Marken anpräsentieren zu können, und wenn er nach des Tages Mühe und Arbeit auf seinem Hofe stand, dann konnte er sich stundenlang an seinem eigenen Glück und Wohlbehagen berauschen.

Gierig sog er den Duft ein, der von den Kornfeldern herüberwehte. Er fächelte sich diesen fruchtbaren Duft zu und blähte die Nüstern. Er kaute diesen Duft, als hätte er schon jetzt frischgebackenes Weizen- und Roggenbrot zwischen den Zähnen. Er überschlug dabei als praktischer Mann den zu erzielenden Gewinn, und wenn er schließlich das Summa Summarum aufrechnete, dann war er mit sich und dem lieben Herrgott zufrieden, konnte es auch sein, denn sein Anwesen versprach ihm in diesem Jahre eine dreißigfältige Ernte.

»Ich hab's,« sagte er hierauf, streckte und dehnte sich kräftig in seinem blauen Leinewandkittel und revierte die Gegend ab. Hinter der schmalen Baumreihe lagen die Verheyenschen Mühlen und Guanoschuppen. Er konnte das Surren der emsigen Maschinen vernehmen. Die neuaufgerichteten Werke waren in vollem Betrieb.

»Soweit hätten wir dich, Jakob Verheyen, und hättest du mir 'nen Strich durch die Bilanz gemacht, und wäre Thres wegen des Pulcherschen Weibsbildes in die Nesseln gekommen ...«

Er schnalzte fidel mit Daumen und Mittelfinger: »Jakob, allerhand Achtung vor deiner barbarischen Forsche, aber ich brauche nur zu pfeifen, dann flattern die Hypotheken wie die zahmen Tauben von den Dächern herunter und fressen mir aus der Hand.«

Und dann pfiff er die Taubenlocke und machte die Manipulation des Erbsen- und Wickenstreuens dazu, daß er selber des Glaubens war, die Hypotheken kämen wirklich und leibhaftig als Taubenvögel geflogen.

»Marsch! – wieder auf eure Dächer,« rief er hierauf und lachte über diesen neuen Witz so kräftig und herzhaft, daß die auf dem Hof und in den Ställen schaffenden Knechte und Mägde davon angesteckt wurden und gleichfalls in ein helles Gelächter verfielen.

Auch die Elstern in den alten Baumkronen stimmten mit ein. Bei ihren Kugelnestern, wo bereits die zweite Brut die Kielfedern durchstieß, flogen sie ab und zu und vollführten ein ohrenbetäubendes Lärmen, gleichsam als müßten auch sie das unbändige Glück des Hofes, die in Aussicht stehende Kirmes und die kommende Hochzeit beschreien.

»Brav so!« winkte ihnen Seegers zu und sielte sich behaglich in dem Glanz der untergehenden Sonne.

Auf den Getreidefeldern aber standen die beleuchteten Grannen und Ähren in sanftem Licht, als wollten sie dem Herrn Himmels und der Erde ein geweihtes Kerzchen aufstecken. –

Der erste Kirmestag rückte näher und somit auch das vielbesprochene Aufgebot in der Kirche.

Gleichzeitig mit ihm fiel die Wahl des ersten Präsidenten für die Sankt Sebastianer zusammen, denn Herr Quirinus vom Oort hatte um die Wende des Mai das Zeitliche gesegnet.

Es war ein schweres und nachhaltiges Sterben gewesen. Wie ein Riese hatte sich der gezeichnete Mann gegen den Tod aufgelehnt und einen Knüppel begehrt, um den Eindringling aus dem Hause zu prügeln. Als aber alles nichts half, ließ er sich die kleidsame Montur der Bruderschaft anziehen, den Zylinder aufsetzen und den Hauptmannsdegen umgürten. So ausstaffiert, wurde es ihm leichter ums Herz. Er war wie ein Feldherr auf verlorener Walstatt, der alle Folgerungen, auch die letzten, mit lächelndem Munde hinnimmt, um rein und proper aus dem großen Debakel zu kommen. Als es nichts mehr zu erwarten und zu hoffen gab, entbot er seinen Adjutanten, Dores Jansen, ins Sterbezimmer. In voller Uniform, aber im Lehnstuhl und zwischen den Kissen sitzend, empfing er ihn.

Auch Dores hatte es sich nicht nehmen lassen, dem sterbenden Hauptmann und Präsidenten das Honnör zu erweisen. Er erschien in weißleinenen Hosen, schwarzweißer Schärpe, baumwollenen Handschuhen und in einem grünen Rock mit vergoldeten Knöpfen. Von dem etwas fadenscheinigen und fuchsigen Zylinder nickte ein frischer Eichenbruch.

An der Tür nahm Dores die Hacken zusammen: »Ich melde mir gehorsamst zur Stelle.«

Der alte Herr stand da wie ein braver Grenadier, ernsthaft, würdig, ohne mit den Wimpern zu zucken. Nur eine helle Träne drängte sich vor und kam langsam ins Fließen.

»Näher treten,« rief es matt aus den Kissen heraus.

Dores trat näher.

»Jansen, ich wünsche, daß mein Nachfolger ein ganzer und ehrlicher Mensch ist.«

»Wird besorgt,« sagte Dores.

»Ferner bestimme ich: Pitt Pulcher hat die Verhandlung zu leiten, ohne Ansehn der Person und so, wie es Pitt Pulcher in der Gewohnheit besitzt.«

»Wird gleichfalls besorgt,« sagte Dores und versuchte dabei einen jovialen Ton anzuschlagen, obgleich sich seine Mundecken schon zum Weinen verzogen.

»Die Unkosten fallen auf mich. Fidel soll's im ›Blauen Anker‹ bei der Wahl hergehn, denn ich bin immer ein fideler Kostgänger des lieben Herrgotts gewesen.«

»Schön,« sagte Dores.

»So, das wäre wohl alles.«

Herr Quirinus vom Oort suchte nach Atem.

Sein Kopf sank nach vorne.

»Nun aber wird's Zeit,« sagte er leise, kaum hörbar. »Ich glaube, der Oberst kommt.«

»Ich glaub's auch,« meinte Dores.

»Na – denn ...« hauchte der Sterbende.

Dores wußte genug.

»Still gestanden!« kommandierte er mit gedämpfter Stimme ... und da ging geräuschlos die Tür auf, und ganz heimlich und sachte trat einer ins Zimmer.

»Achtung, präsentiert das Gewehr!«

Der Sterbende lächelte. Er hörte noch die Klänge des Präsentiermarsches, den Dores Jansen getragen in den Abend hineinpfiff.

Der Oberst aber war nicht von dieser Welt.

Dann war's alle.

Herr Quirinus vom Oort hatte die große Retraite vernommen.

Drei Tage später wurde er mit allen Ehren bestattet. Der Adjutant hatte den Sarg und die Beschläge geliefert. Pitt Pulcher hielt die Grabrede, und als er zu Ende war und die ersten Erdklumpen hinabschollerten, da krachte eine dreifache Salve über die letzte Ruhestätte des Verstorbenen hin.

»Grandios!« sagte der ›Hobel le Beau‹ und wischte sich mit dem Rücken der Hand über die Augen.

»Es schläft der Held, die dunkle Nacht bricht an,
Und Donnerschläge poltern unterm Himmel ...«

sang der Männergesangverein ›Freiheit und Eintracht‹, die Kapelle spielte nochmals den Chopinschen Trauermarsch, und dann ging es unter den Klängen:

»So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage
Bei der allerfeinsten Saufkompagnie ...«

wieder nach Hause.

Der ganze weite Gottesacker duftete nach Syringen und befruchteter Erde.

»Amen,« sagte Pitt Pulcher, der zurückgeblieben war und als letzter der Leidtragenden noch an der verschwiegenen Gruft stand. – – –

Wochen waren darüber vergangen. Das Korn stand schwer auf den Äckern, und in den dunkelblauen Wäldern, die nach Moyland zu lagen, war sanfter Orgelton ...

Noch etliche Tage ... und da wehten in der kleinen Stadt die Kirmesfahnen, die Böller krachten, und der Wirt vom ›Blauen Anker‹ schnipselte Stearinspäne in seinem großen Festlokal umher, um den Tanzboden für den Abend glatt und geschmeidig zu machen. Fünfundzwanzig langschaftige Kerzen benötigte er hierzu. Als die letzte verschnitzt war und eine gleichmäßige Schicht von weißen Talgflöckchen die rauhen Dielen bedeckte, ließ er seine erste Aufwartemagd kommen und legte ihr den rechten Arm um die behäbige Taille. Sie kannte das. Ihre schwere Brust unter dem derben Zwillichhemd preßte sich ihm prall gegen die Weste. Hinten blitzte es aus dem Schlitz ihres leichten Kattunrockes. Dann ging's los, und nach einer dreimaligen Runde hatte der Tänzer die Überzeugung gewonnen: die Sache fleckt. Wer gut schmiert, der gut fährt, gab seiner Partnerin noch einen verliebten Klaps auf die Breitseite und begab sich alsdann in den Honoratiorensaal, um auch hier nach dem Rechten zu sehen. Heute galt's. Ein großer Tag war für den ›Blauen Anker‹ gekommen. Drüben die Tanzerei und hier die Wahl des neuen Präsidenten für die Sebastianer. So und so viel Bouteillen kamen auf den heutigen Abend. Solche mit blauen und solche mit gelben Siegellackpfropfen. Die machten Kasse. Er überschlug in Gedanken den zu erwartenden Gewinn und versuchte, einen scheuen Blick in die von der Schützengesellschaft gemietete, giftgrün austapezierte Stube zu werfen.

»Tür zu!« brüllte ihn einer an, »sonst werden hier so Propter und Prätorius unsere besten Zirkels durchstochen.«

»Dann nicht,« meinte der Ankerwirt, drehte bei und überließ das Honoratiorenzimmer sich und seinem eigenen Schicksal.

Trotz des heiligen Sonntagmorgens waren Thyß und der ›Hobel le Beau‹ eifrigst damit beschäftigt, das Lokal in solenner Weise herzurichten, das heißt, Thyß mehr als ausübender Künstler, während sich der Alte damit begnügte, den beratenden und kritischen Teil abzugeben, denn er befand sich bereits in vollem Wichs und hatte somit allen Grund, den Rock mit den vergoldeten Knöpfen, die Schärpe, die Baumwollenen und die weißleinenen Hosen in jeder Hinsicht zu schonen. Das tat er denn auch, fühlte sich lediglich als Anordner und Beirat, indem er den aufzuhängenden Kränzen den richtigen Schwung verlieh und die unter Glas und Rahmen gestellten Ehrenpreise der Schützengilde so unter Efeuranken brachte, daß sie auch einem gänzlich Unbeteiligten in die Augen fallen mußten.

Nachdem noch der verwaiste Präsidentenstuhl geschmückt, der silberne Pokal auf den Tisch gestellt und jeder einzelne Sessel haarscharf ausgerichtet worden war, genehmigte sich Dores einen herzhaften Schluck aus der mitgebrachten Pulle, nahm die Hacken zusammen, grüßte militärisch und sagte: »Mein Sohn Thyß, ich habe dir eine wichtige und ausnehmende Botschaft zu melden.«

Thyß horchte auf, wie einer, dem irgend jemand zuflüsterte: »Nu aber Achtung. Jetzt kommt was.« Hierauf zwirbelte er mit seinen Schellackfingern an dem fuchsroten Schnurrbärtchen herum, erwiderte den Gruß seines Erzeugers gleichfalls in militärischer Weise und ließ sich alsdann in den Präsidentenstuhl fallen, um besser und gediegener hören zu können.

»Thyß,« sagte der Alte, »es gibt Dinge im menschlichen Leben, die weder Anfang noch Ende besitzen. So ein Ding ist der heutige Kirmestag, denn er besitzt weder Anfang noch Ende. Verstehe mir richtig, ich meine nicht von wegen morgens und abends, sondern von wegen seiner pompösen Betätigung bis in die dunkelsten Urzeiten.«

»Woso?« sagte Thyß.

»Einen Momang,« versetzte der ›Hobel le Beau‹

Die Frage kam ihm ungelegen. Er mußte nachsinnen, um sich nicht wie ein Gänserich durch ein Knäuel Strickgarn verwirren zu lassen. Er fühlte selber: er hatte zu wuchtig und weit ausgeholt, um mit derselben tiefgründigen Wuchtigkeit die angefangene Rede auch in den sicheren Port zu steuern. Aber dem Mutigen hilft Gott. Dores bekriegte sich wieder.

»Woso?« fragte er nun seinerseits und musterte Thyß von oben bis unten – das bekannte Mittel, Zeit zu gewinnen und sich durch einen unbequemen Wissensdurstigen nicht aus der Fassung bringen zu lassen. »Ganz einfach. Ich muß erst 'ne bürgerliche Haltung 'rauskriegen, um meine Gedanken besser destillieren zu können. Rührt euch!«

Dores machte sich's bequem, stellte den linken Fuß vor und sagte mit düsterer Stimme: »Ich sehe schwarz und weiß in die Zukunft. Es geht um Leben und Sterben, sozusagen um Hölle oder glorreiche Seligkeit. Thyß, setze mir nackig in Indigo – aberst ich hab's im Gefühl: es will hier auf Kirmestag ein großes Malör, aberst auch ein herrliches Auferstehen erscheinen. Thyß« – und die Worte zitterten vor großer Erregung – »der heutige Tag wird deinem Freunde Hermann ganz miserabel bekommen, weil er so Propter und Prätorius seine heilige Liebe abschwört, um Thres Seegers die ihre zu kriegen. In 'ner halben Stunde werden sie öffentlich von die Kanzel gerufen, und das bedeutet ein namenloses Unglück für die Pulcherschen Leute und Hermann.«

Thyß nickte.

»Darum seh' ich schwarz in die Zukunft, denn es kann um dessentwegen, wie der Prophet sagt, sich noch 'ne bedeutsame Tränenkomödie entwickeln. Aberst ich sehe auch weiß in die Zukunft. – Thyß, besieh dir den Stuhl, auf dem bis zu seinem gottseligen Ableben der Herr Quirinus vom Oort sich ausnehmend befunden hat. Der Präsident ist tot, es lebe der Präsident! – und ich hab's dem Toten feierlich in die Handschuh' geschworen ...«

»Halt!« unterbrach ihn Thyß, der in schweren Gedanken vor sich hingestiert hatte. »Erst kommt Hermanns Sache und die von Anna Pulcher an die Reihe. Ich habe drüber nachsimuliert. Hermann kann es allein nicht. Bei die Artollerie war das eine andere Sache. Wenn ich nu an Hauptmann Liese schreiben tun täte, um Hermann wieder in die richtigen Arme zu bringen! Der holt ihn aus der Predullig 'raus und schmeißt der übrigen Package seinen Ehrendegen mang die infamigen Beine. Vater, ich wende mir an meinen hochwürdigen Hauptmann. Der tut's. Der ist kumpabel für so was.«

Der Alte winkte ab.

»Zu spät!« sagte er mit gebrochener Stimme. »Die Partie deines eingeborenen Freundes ist gänzlich marode. Aberst dem Toten hab' ich's feierlich in die Handschuh' geschworen: Auf den Präsidentenstuhl wird nur einer erhoben, der so proper ist wie das Tischzeug deiner lieblichen Mutter. Thyß, setze mir nackig in Indigo – Franz Seegers kommt nicht in Betrachtung, auch Jakob Verheyen nicht, der mit allen vieren hineinspringen möchte, um sein Aussehn noch pompöser zu machen. Aberst einer kommt in Betrachtung ... Thyß!« – und der ›Hobel le Beau‹ streckte die Hand aus – »die Fahne der Sebastianer wird in Ehren gehalten. Da stehe ich für, so wahr mir Gott helfe im Leben und Sterben und bis in die ewigsten Zeiten. – Das ist mein weißer Blick in die Zukunft, und mit Rücksicht auf diese weißliche Zukunft ...«

Er wurde unterbrochen.

Die Sonntagsglocken riefen herüber. Auch Anne-Susanne war dazwischen. Wie eine Königin schwebte sie über den andern, und wie eine Königin zog sie über die Stadt hin, um von hier aus über die blumigen Wiesen zu schreiten.

Anne-Susanne ...!

Dores Jansen tupfte sich mit dem Handrücken gegen die Augen: »Wir müssen ins Hochamt. Nu kommt die Tränenkomödie.«

Jedes Wort war mit einem Trauerflörchen behaftet.

Vater und Sohn machten sich fertig.

Der Alte stülpte den fuchsigen Zylinder über; Thyß fuhr in den Sonntagsrock.

Gemeinsam verließen sie den ›Blauen Anker‹. Jeder hatte seine eigenen Gedanken, und diese Gedanken waren wie die von Ertrinkenden, die nach einem Strohhalm griffen.

So schritten sie weiter.

Sie mußten an Kirmesbuden und geputzten Menschen vorüber.

Ernstes Geläut ging vor ihnen her.

Als die beiden das Nordportal betraten, stieß der Alte die Hand in den Weihwasserkessel, bespritzte sich und den Sohn und meinte dumpf und stumpf vor sich hin: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ... Mir geht der Verstand aus dem Leim. Ich wollte ... Wie hat doch der alte Blücher gesagt? Herrjeses, das hat er ja gar nicht gesagt! Ich wollte die Nacht käme oder ...«

Sankt Nikolai war voller Duft und Weihrauch.

Die Schreine feierten in silbrigem Licht.

Auf dem Hochaltar flimmerten die Kerzen wie die blanken Augen von schwindsüchtigen Menschen. Die unzähligen Flämmchen standen wie erleuchtete Wassertropfen nebeneinander – Liebeseelchen über dem Allerheiligsten! – und in feinen Wölkchen zog der Weihrauch durch die Hallen, die unter dem feinmaschigen Hauch eines verschleierten Sommertages lagen.

Ein Kleriker aus der Nachbargemeinde zelebrierte an Stelle des Dechanten das Hochamt, unterstützt von Stephan und noch einem jungen Vikar.

Thyß und Dores beobachten alles. Sie stehen in der Nähe der Kanzel.

Drüben neben dem gotischen Pfeilerbündel ragt die gewaltige Gestalt Pitt Pulchers auf. Im schwarzen Gehrock, mit zugeknöpfter Weste, die stahlgrauen Augen hart auf die heilige Handlung gerichtet, erhebt er sich frei und unbefangen wie an sonstigen Tagen. Nur die schwarzseidene Binde ist fester um Hals und Vatermörder geschlungen, gleichsam als müsse sie ihm die Kehle verschnüren und den Schrei zurückhalten, der in ihm aufsteigen will. Keiner merkt es. Nur Anna, die neben ihm kniet. Aus freien Stücken ist auch sie erschienen, um die fürchterliche Botschaft von der Kanzel zu hören, um durch selbstauferlegte Qualen die entsetzlichste Stunde ihres Lebens niederzuringen. Heute wird ihre große Liebe endgültig begraben. Sie möge ruhen in Frieden. Auch ihr Leib ist tot. Nur er wandelt noch. Das Pulchersche Blut hält ihn aufrecht, und die neugierigen Blicke umher straffen ihm den Nacken ... So ist Anna Pulcher gestorben und doch nicht gestorben. Sie lebt, wie die Altwasser leben, wenn eine kalte, glanzlose Sonne sie freudelos berührt. Solche Wasser sind viel auf der niederrheinischen Erde zu finden. Sie erinnern an das Tote Meer, an die schwarzen Kanäle, die durch das abgestorbene Brügge schleichen. So lebt Anna Pulcher.

Auch hört und sieht sie; aber sie hört und sieht nicht wie früher. Die Stimmen, die vom Altare herkommen, gehen auf Krücken. Sie sieht Hermann und Thres Seegers und alle, die zur näheren Verwandtschaft gehören. Sie kommen ihr vor wie schuldbeladene Menschen. Und sie, die Braut ... was hat die nur? Sie steht dicht neben Hermann. Sie sieht über die Schulter, höhnisch und herausfordernd. Das gilt ihr. Vier Augen begegnen sich; lebendige Augen und tote Augen ...

Anna Pulcher hatte tote Augen.

Mit einem tiefen Weh in der Brust sinkt ihr Oberkörper nach vorn, als hätte sie ein kaltes Eisen erhalten. Es ist ihr so, als müsse ein helles Gelächter von ihren Lippen herunter. Ihre Finger verschränken sich, flechten sich fest ineinander. Der Alte beugt sich zu ihr: »Was soll das? Du hast doch Pulchersches Blut in den Adern.«

»Ja, Vater, ich habe Pulchersches Blut in den Adern.«

Dann ist ein Rauschen um sie, ein immerwährendes Rauschen ...

Die Kollekten setzen ein, und das Meßbuch wird auf die Epistelseite getragen. Eine halbe Stunde verrinnt. Das Offertorium nimmt seinen Anfang. Ein silberhelles Klingeln ertönt. Zweimal und dreimal. Der Heiland ist allgegenwärtig, der Herr Himmels und der Erde und der Trost der Betrübten. Alsdann wird das ›Ite missa‹ gesungen. Gleich darauf spricht eine würdige Stimme von der Kanzel herunter.

Sie verkündet das Evangelium, nichts weiter. Keine Predigt folgt. Dann sagt sie in stiller Bewegung: »Zum ersten Male werden aufgerufen, um in den heiligen Stand der Ehe zu treten, die ehrsame Jungfrau Therese Seegers und der ehrsame Jüngling Hermann Verheyen ...«

»Thyß, ich bitte dir – Thyß ...!«

Die Blicke aller richten sich auf Anna Pulcher.

Sie steht aufrecht.

Sie lächelt.

Sie schreitet in Gedanken über eine endlose Wiese, die voller Blumen und Lerchenjubel ist. Nur ihr Antlitz ist weiß geworden, wie das Antlitz Christi auf dem ›Kalten Stein‹.

Gleich darauf verläßt sie mit ihrem Vater die Kirche.

Beide gehen Hand in Hand.

Alle machen ihnen Platz.

Anna Pulcher ist schöner denn je.

Dicht am Portal wird sie von einem weichen Ärmel gestreift.

Hermann und Thres gehen vorüber. Sie an ihn geschmiegt.

»Heute abend tanzen wir den ersten Walzer im ›Blauen Anker‹ zusammen,« ruft sie ihm zu.

Es ist lichter Tag, und dennoch: über Anna Pulcher sind Rosen gefallen, aber nur solche Rosen, die auf dem Kirchhof blühen.

So glaubt sie. Ihr Herz ist kalt wie Eiswasser; aber aus diesem Eiswasser schießen feurige Flammen.

Sie haben die Glut von dunkelroten Kelchen in schwülen Sommernächten.

 


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