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12

Der Hobel ›le Beau‹ nagelte eine mannshohe Kiste zusammen, die ihm irgendein Manufakturist in Bestellung gegeben hatte. Die Arbeit ging ihm schwer von der Hand. Mehr denn sonst perlte ihm der Schweiß von der Stirne, und mehr als gebräuchlich stierte er durch die mit Spinnweb austapezierten Fensterscheiben, die blind und angelaufen auf die menschenleere Straße hinaussahen. Neben ihm schaffte Thyß. Die Artilleriemütze schief über das linke Ohr geschoben, bearbeitete er eine Tischplatte mit Schachtelhalm und Glaspapier und suchte ihr die nötige Glätte und Feinheit zu geben; aber auch er war nicht so recht bei der Sache, sah vergrämelt ins Wetter und machte von Zeit zu Zeit vergebliche Anstrengungen, sich eine zudringliche Brummfliege vom Leibe zu halten.

»So'n Aasknochen ...!«

Wieder taumelte die Abgewehrte mit einem sanftangestrichenen Ton gegen die Scheiben.

»Wen meinst du?« fragte der Alte.

»Dir nicht und Hermann Verheyen auch nicht.«

»Ja, Thyß, das mit Hermann Verheyen ...!« sagte der Alte, trat näher und sah seinem Sohn forsch in die Augen. »Was ist das eigentlich mit deinem artolleristischen Mitkollegen? Stimmt die Sache, oder ist sie man so Propter und Prätorius aus den dämlichen Fingers gesogen?«

»Je!« machte Thyß und schob seine Mütze nach hinten.

»Also du meinst: er läßt Fräulein Pulcher in die Ungelegenheit sitzen, um Thres Seegers in die eheliche Umarmung zu nehmen?«

Thyß zwirbelte verlegen an seinem fuchsroten Schnurrbärtchen, ohne eine Antwort zu geben. Geistesabwesend stierte er in einen brodelnden Leimtopf und zählte die einzelnen Blasen, die wie dickbäuchige Geisterlein aus der Tiefe aufstiegen.

»Thyß, ich frage noch einmal: Hat die Sache Bewandtnis, oder hat sie keine Bewandtnis?«

»Ja, Vater, es wird wohl seine Richtigkeit haben.«

»Aberst ich bitte dir, Thyß!« stammelte der Alte verlegen. »Das hätte ich von deinem artolleristischen Kollegen und Helden niemals erwartet.«

»Ich auch nicht.«

»Das ist ja um die sogenannte Kränke zu kriegen! Das ist ja nächst dem leibhaftigen Satan ...! Thyß, das muß man ja mit mannbarer Tapferkeit bestrafen. Warte mal eben ... ich will ihm einen Verachtungsschluck bringen, denn nur so kann ich meinen Ärger vertreiben.«

Damit langte er in die offene Banklade und nahm einen herzhaften Schluck aus der Pulle.

»Allens was recht ist, aberst setze mir nackig in Indigo, denn so was läßt die Erbärmlichkeit des menschlichen Herzens erkennen. Nimm's mir nicht übel, aberst ich muß sein Verhalten als eine auserwählte Feigheit bezeichnen.«

Er schluckte nach Atem.

Seine Empfindungsharfe geriet in ein langsames Klingen.

»Herrgott, der arme Herr Pulcher!« sagte er mit weinerlicher Stimme, »und Fräulein Anna und der geistliche Herr erst ...! Das wird ja die reinste Trauerkomödie im Pulcherschen Hause!«

Er wischte sich energisch über die Augen.

Die Empfindungsharfe schlug einen anderen Ton an. Alle Wehleidigkeit war von ihr genommen. Ihre Klangfarbe gestaltete sich zu einem wütigen Rauschen.

»Ja, ich estimiere es sogar als 'ne große Gemeinheit!«

»Halt!« sagte Thyß und streckte heroisch die von Firnis und Schellack eingebeizte Hand in die Höhe. »Eins von beiden: Gemeinheit oder kolosales Heldentum. Ich aber spreche die Sache für kolosales Heldentum an,« und damit klaschte er den zudringlichen Brummer mit einem gewaltigen Handschlag auf die Tischplatte.

»Was?!« erstaunte sich der ›Hobel le Beau‹, »nu kuckst du mit 'nem Mal und so Propter und Prätorius durch 'ne andere Brille?«

»Ja, aber durch 'ne richtige Brille.«

»Da stellst du dir ja in Widerspruch zu deinem inniggeliebten Vater.«

»Tut nichts,« entgegnete Thyß, denn mir gegenüber hat er sich immerst als honorig erwiesen, und unserm Regiment hat er sich auch als honorig erwiesen, indem er sich als Artollerieheld in den richtigen Schwung gesetzt und in voller Montur und kumplettem Lederzeug sich seinen Kameraden gegenüber als Rettungsengel anpräsentiert hat. Und daher tue ich pflichtschuldigst zu wissen: er hat sich auch gegen Anna Pulcher honorig benommen.«

»Honorig benommen? – wo er ihr sitzen läßt?«

»Schön,« sagte Thyß, »aber können wir in die menschlichen Brüste hineinkucken? Können wir wissen, was er in seinem inwendigen Menschen verfaßt hat? Hat er vielleicht nicht seine ungebetene Braut auf den Altar des Abschieds geopfert, um seinen eingeborenen Vater aus der Predullig zu helfen? Für so was taxier' ich Hermann Verheyen, denn er ist von jeher ein auserwähltes Faktotum gewesen, und für dessentwegen hat er Thres Seegers in Umtausch genommen. Und das ist vornehm von ihm, denn Thres Seegers könnte man mir auf 'nem silbernen Teller anempfehlen ... Nicht rühr' an die Sache. Er aber hingegen, er nahm sie, um die poweren Kronentalers seines Vaters wieder auf die Beine zu helfen – und das ist ausgesprochene Kindesverehrung, und so was muß man als nobel taxieren. Ja!« – und Thyß streckte abermals seine fünf Schellackfinger zur Decke – »und daher tue ich hiermit zu wissen: Hermann Verheyen besitzt wahres Gefühl unter der Rettungsmedaille. Und wenn das unser allverehrter Herr Hauptmann Liese zu hören tun kriegte, er würde ihm die Hand geben und sagen: Ich danke dir, Hermann. Du hast dir proper benommen. An so was erkenne ich meinen alten Obergefreiten. Und was der Herr Hauptmann gesagt hat, daran läßt sich nicht tippen. Sein inneres Menschentum wird sich verbluten, denn Thres Seegers und Anna Pulcher verhalten sich gegeneinander wie 'ne Hobelbank zu 'ner feinen Kirschholzkommode. Aber ein Kerl ist er doch, denn er hat seine Familienehre und die Kronentalers seines Vaters gerettet. Und das tue ich auch pflichtschuldigst meinen Landsmänners vermelden, auf daß kein falsches Licht in die Welt kommt und die Leute erkennen, was für 'nen Mann sie in meinem Freunde Hermann Verheyen besitzen.«

Thyß hatte gesprochen. Mit einem tiefen, aber glücklichen Seufzer ließ er seine angebeizten Schellackfinger wieder herunter.

Der Alte war sprachlos; seine schnapsseligen Äugelchen standen in einem überirdischen Feuer.

»Thyß,« sagte er schließlich, »in diesem Momang bin ich so Propter und Prätorius ganz deiner Meinung. Früher war ich man der selige Tobias mit dem Schwalbendreck, jetzt hast du mir den Dreck aus die Augen genommen, und ich sehe deinen Freund und Mitkollegen in bengalischer Gasbeleuchtung, und das freut mir über alles Erwarten. Was ist das menschliche Leben? Nur ein Jammertal. Also verkündigen die heiligen Propheten. Ich aber sage, das menschliche Leben ist ein barbarisches Kämpfen, und ich und du und Hermann Verheyen, wir sind mitten darunter. Thyß« – und er zeigte auf die Neuruppiner Bilderbogen mit den aufgeklebten Köpfen seines Sohnes – »in dir an der Wand sehe ich Hermann Verheyen als Artollerist, als erzwungenen Bräutigam von Thres Seegers, aberst auch als Mann mit 'nem blutigen Herzen und der königlich preußischen Rettungsmedaille darüber, und aus diesem Einblick heraus ...«

Mit einem scharfen Ruck nahm er die Hacken seiner Schlappantoffeln zusammen.

»Still gestanden! – Augen rechts!«

Militärisch fuhr die Hand an die Mütze.

»Hermann, nimm mir's nicht übel, daß ich dir soeben mit ›Feigheit‹ unter die Nase getreten bin. Das war 'ne dämliche Redensart, aberst jetzt bist du für mir und Thyß und die ganze Welt ein Held von Gottes Gnaden geworden. Amen.«

Und Dores Jansen war stolz wie ein Pfauhahn, als er solches niedergelegt hatte.

»Rührt euch!«

Mit einem abermaligen Ruck fuhren die Schlappantoffeln wieder in ihre frühere Stellung.

Der ›Hobel le Beau‹ hatte seine Pflicht getan und sich selber entsühnt, während Thyß einen lustigen Marsch über die Hobelspäne pfiff, dem Alten zuplinkte und seinen Freund Hermann Verheyen für den Ausbund aller Staatsbürger und ›Artolleristen‹ erklärte.

Damit hatte der Ärmste seine Ehrenerklärung gefunden, kurz und bündig und aus dem Herzen prächtiger Kerle; und diese Ehrenerklärung hatte fixe Beine und kam zu den Menschen. – – –

Wochen um Wochen vergingen und Monde um Monde, und mit ihnen glitt die Verlobung Hermann Verheyens als etwas Selbstverständliches in die Häuser hinein, um schließlich als eine alltägliche Sache beiseite geschoben zu werden. Man beglücktwünschte Jakob Verheyen und Franz Seegers und begriff nicht, wie der gefeierte Pitt Pulcher so starrköpfig und eigensinnig gegen seine eigenen Interessen und den Frieden seiner Tochter zu wüten vermochte. Man schüttelte die Köpfe, aber keiner sah tiefer, niemand gewahrte die Unterströmung, die den Bestand und das Glück zweier Familien zu unterspülen drohte ... und so schwemmte die Strömung die Seele Anna Pulchers immer weiter hinaus, in die Schwaden hinein, in das Ungewisse hinein, und die Heimgesuchte legte die Hände zusammen und weinte still vor sich hin ... Und so kam das Glück wie ein Gruß in leuchtender Sommernacht – und so kamen die Qualen – und so kam das Ringen um Kindesliebe und Mannesliebe – und so kamen die Schatten, die unabweislichen Schatten, die immer dichter und dunkler wurden und ihr alle Freude von der Stirne wischten. Aber sie beugte sich, ohne zu klagen, und sie ergriff die Hand ihres Vaters, um sie still und schmerzlich an ihre Lippen zu ziehen. So lebte sie, ohne zu leben, so ging sie durch Licht, ohne des Lichtes teilhaftig zu werden, so weinte sie, ohne Tränen zu haben, denn sie fühlte die Freude nicht mehr und den Schmerz nicht mehr; sie hatte keinen Sinn mehr für das alltägliche Leben, für seine Einzelheiten und seine köstlichen Stunden. Sie ging eben durch eine endlose Leere, durch fliegenden Sand, durch die Einsamkeit einer trostlosen Heide. Mariä Rosenkranz grünte nicht mehr für sie. Sie war macht- und wehrlos geworden, und ihre Liebe ging betteln. Immer dieselben Gedanken, der nämliche Kreis, das Suchen und Sinnen, ohne das Gesuchte finden zu können. Überall diese Nebelflecke, diese tödliche Ruhe, dieser eigentümliche Geruch nach welkenden Blumen ... und sie wunderte sich nur, daß ihr Vater den Nacken straffen konnte und ein Feuer in den Augen hatte, als wäre ihm eine glückliche Jugend wiedergekommen.

Ja, Pitt Pulcher straffte den Nacken. Mehr denn sonst ging er aufrecht, und sein Schritt verlieh ihm etwas Herrisches. Mehr denn sonst saß er über den Pulcherschen Dokumenten, entfachte den Kerzenstumpf und studierte die Stammrolle und die Schenkungsurkunde aus verklungenen Tagen. Mehr denn sonst hörte er auf Anne-Susanne, und wenn sie ertönte, dann legte er die Hände zusammen und sagte: »Gut, daß es also gekommen. Unser Docht leuchtet wie die ewige Lampe. Möge er also leuchten bis an das gottwohlgefällige Ende der Tage ...« und dann begab er sich an das Grab seines heimgegangenen Weibes und betete lange.

Für die Sankt Sebastianusschützengesellschaft war er in letzter Zeit ein besonderer Freund und Förderer geworden. Es tat ihm wohl, sich in alte Bräuche zu versetzen, die Akten der Brüderschaft zu studieren und sich den sonoren Ton der Schützentrommel zu vergegenwärtigen, und als der derzeitige Präsident Quirinus vom Oort eine Überfahrung bekam und langsam dahinsiechte, setzte er schon frühzeitig alle Hebel an, die zukünftige Wahl auf einen zielbewußten und würdigen Folger zu lenken. So ging er durch Sonnenschein. Es war seine eigene Sonne, und er freute sich dieser Sonne von Herzen, denn er war des seligmachenden Glaubens geworden: »Pulchersches Blut kettet innig zusammen, und wenn wir auch durch Not und bitteres Leid pilgerten, wir wurden nicht auseinandergetrieben wie verstörte Schafe. Wir bestanden die Prüfung, und Gott wird weiterhelfen.« – Mit diesem Evangelium ging er seines Weges, nahm er die Trauer seiner Tochter hinweg, oder versuchte es doch, sie von ihr zu nehmen, wuchtete er die Webelade und schob er alle Bitternis beiseite. Nur eines Tages ...

Er war gerade vom Mittagstisch aufgestanden. Seine Kinder Anna und Stephan waren bei ihm. Der junge Kaplan sprach mit weicher Stimme das Tischgebet und legte seinen Arm in den seiner Schwester, als er gewahrte, daß heiße Tränen über ihre Wangen liefen.

Dem Alten fiel es nicht auf; er setzte seine Kalkpfeife in Brand und trat ans Fenster. In diesem Augenblick klangen lustige Böllerschüsse von dem Umgang der Verheyenschen Mühle herunter. Mit sieghaften Stimmen hallten sie über die Stadt und die Niederung fort und ließen die Scheiben am Pulcherschen Hause erklirren, und als Pitt Pulcher hinsah, da bemerkte er, wie bunte Fahnen von dem Neubau wehten und die Flügel der alten Mühle sich in einem Schmuck von Girlanden und Kränzen bewegten.

Pitt Pulcher erbleichte. Sein Gesicht versteinerte. Unter seinen dichten Brauen standen häßliche Funken. Seine Hand krampfte sich, und die Kalkpfeife sprang zerstückelt zu Boden.

»Nun macht Jakob Verheyen Dampf auf,« knirschte er zwischen den Zähnen, »aber Gottverdammich noch mal! – der Herr wird schon kommen und ihm sein Glück zwischen den neuen Maschinen zerschroten. So'n Viechskerl ...!«

Mit dem Fuß trat er auf die rauchenden Scherben.

Anna stieß einen wehen Schrei aus; Stephan jedoch trat geräuschlos auf ihn zu und sagte mit versöhnlicher Stimme: »Vater, denke daran. Geschrieben steht: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht vergeblich führen.«

Der Alte sah ihn mit leeren Augen an.

»Das steht wohl in den zehn Geboten geschrieben?« sagte er schließlich.

»Ja, das steht in den zehn Geboten geschrieben.«

»Und da glaubst du, ich hätte mich gegen die Satzung des Herrn versündigt?«

Der junge Kaplan lächelte schmerzlich. Er war kein Richter, und wollte in diesem Augenblick kein Richter sein. So mochte der gute Hirt gelächelt haben, als er auszog, ein verlorenes Schäfchen zu suchen. Er lächelte, wie die Gütigen lächeln, die nach einem empfangenen Backenstreich auch die andere Wange hinhalten, um auch hier den Streich zu empfangen. Auf seinem bleichen Gesicht stand der Abglanz eines geläuterten Herzens.

»Es ist nicht wohlgetan,« sagte er ruhig, »seinem Mitmenschen zu fluchen und ihm unter Anrufung Gottes sein irdisches Glück zu verwünschen.«

»So?!« fragte der Alte und fuhr sich über die Stirne, als müsse er einen häßlichen Gedanken verwischen. »Stephan, du magst recht haben, also zu reden, aber ich habe auch recht, wenn ich meine besondere Ansicht vertrete. Jeder Mensch hat sich nach den zehn Geboten des Herrn zu richten, denn in ihnen liegt Auferstehung und Leben und die Anschauung Gottes, aber jeder Mensch, der mit 'nem ehrlichen Rückgrat und mit 'ner noblen Ehre unter der Weste aufwarten will, hat im speziellen noch seine eigenen zehn Gebote aufzustellen und nach ihnen zu handeln. Und hier sind die meinen ...«

Mit einer energischen Bewegung glitt er durch die grauen Haare. Dann zählte er an den Fingern herunter:

»Ich hasse die Leisetreter.

Ich verachte die Menschen, die der Kirche geben, was der Kirche, aber vergessen, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers.

Ich hasse die Menschen, die, wenn man im Glück ist, nicht kommen, im Elend aber einen mit ekelhaftem Bedauern versorgen. Sie sind mir ein Greuel.

Du sollst dein eigenes Wort nicht fressen, wenn es zu Recht aus deinem Munde gekommen.

Gedenke, daß du ein Pulcher bist.

Wer sich gegen den gerechten Willen des Vaters auflehnt, dem soll die Hand am Leibe verdorren, denn jener ist der Verwalter der häuslichen Ehre.

Nächst Gott steht mir die Familienehre am nächsten. Mit ihr verbunden, bleibt man ein Herzog, selbst dann noch, wenn man in Lumpen geht und keine Brotschnitte im Schrank ist.

Wer dieses nicht achtet, ist ein Schurke, und wer es antastet, ist schlimmer als ein Ehebrecher.

Ich habe gesagt, die Freundschaft soll bleiben. Gut, sie soll bleiben, aber neben dieser Freundschaft geht etwas, was Haß heißt.

Zum letzten: Haltet Anne-Susanne im Herzen. Sie spricht aus alter Zeit zu euch und macht euch das Sterben leichter. Ohne sie ist es schwer, in den Himmel zu kommen.«

Und er sah seine Tochter an und fragte: »Anna, hast du etwas darauf zu erwidern?«

»Nein,« sagte sie ruhig.

»Und du. Stephan?«

»Ich hätte manches dagegen zu sagen, aber ich schweige. Es ist besser so.«

»Du wirst mir beipflichten, wenn du älter geworden bist,« versetzte der Alte, ohne sich aus seiner Fassung bringen zu lassen. »Nichts für ungut, Stephan, aber graue Haare schaffen andere Gedanken unter die Mütze.«

Damit zündete er sich eine frische Kalkpfeife an, stülpte die Seidenmütze über und ging den Schleusen zu, um in ihrer Nähe seinen gewohnten Spaziergang zu machen.

Da sah er, was er sonst nicht bemerkt hatte: die Tage hatten einen kürzeren Atem bekommen, in den Baumkronen nistete bereits der Herbst, und die seligen Stimmen der Schwalben ließen sich nicht mehr zwischen Himmel und Erde vernehmen. Es ging langsam in das Spätjahr hinein. Regenschauer schraffierten die Landschaft. Auf den Feldern wurden die Zuckerrüben eingemietet, von den Tennen hallten die Dreschflegel, und als auf den Äckern die letzten Kartoffelfeuer verschwelten, da setzte die erste Kälte ein und holte die letzten Blätter von den Bäumen herunter.

»Nu wird's Winter,« sagte Pitt Pulcher, stellte seine Stiefel beiseite, zog die warmen Lammfellsocken über und ging in blankgescheuerten Holzpantoffeln spazieren.

Ein schöner, klingender Frost legte sich über die Erde, hauchte in die Schlüssellöcher hinein und gefiel sich darin, allerlei glimmerndes Spitzenwerk als köstliche Gardinen vor die Fenster zu hängen. Und gerade dort wo die am wenigsten begüterten Menschen wohnten, war die geklöppelte Arbeit am schönsten. Blumen und Rankenwerk glitzerten in den bizarrsten Zeichnungen und Formen, und wenn abends die Rübsenöllampen hinter den Scheiben brannten, dann war die Fülle des Lichtes fast überirdisch geworden. Kurz vor Sinter Klaas wiegten sich die ersten Schneeflocken vom Himmel. Traumhaft glitten sie in die Gassen hinein, legten sich auf Dächer und Gesimse und spreiteten flaumweiche Decken zwischen die Häuserzeilen. Zwei Tage später ließ das Schneetreiben nach. Ein stahlblauer Himmel wölbte sich über die kleine Stadt, und wenn abends die Sterne heraufzogen, zitterten sie in der grimmigen Kälte.

So rückte der Tag des heiligen Nikolaus heran. Am Vorabend des fröhlichen Festes befand sich Pitt Pulcher allein zwischen seinen vier Pfählen. Anna hatte eine befreundete Familie in einer benachbarten Ortschaft aufgesucht, um hier und im Kreise einer zahlreichen Kinderschar die Feier in altgewohnter Weise zu begehen.

Um die vierte Mittagsstunde, als bereits die Schatten des Abends über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser fielen und die Schneedecken eine bläuliche Färbung annahmen, trat Stina Mengels mit einem grün- und rotgewürfelten Seelenwärmer, einer schneeweißen Knippmütze und klingenden Ohrgehängen ins Zimmer

»Mynheer,« sagte sie kleinlaut, »wenn Mynheer noch etwas zu besorgen haben ...«

»Was soll's denn, Stina?«

»Ach!« meinte sie zögernd, »heute ist Sinter Klaas, und da wäre es eine auserwählte Bekömmnis für mir, so'n bißchen zu feiern und bei 'nem Gläschen Punsch Spekulatiusmännchen zu essen.«

»Stina, wo soll's denn hin?«

»Ins Armenhaus zu Fennand van Derksen. Er ist 'ne Jugendliebe von mir. Aber wie das so ist im menschlichen Leben: er ist von jeher ein Herzenslieber, aber bettelarmer Kirchenmäuserich gewesen, und ich hatte ditto nichts in die Suppe zu brocken, und da ist es denn bei der außerehlichen Liebe geblieben. Wir sehen uns kaum noch. Aber auf Sinter Klaas, da ist das doch eine andere Sache. Da besuch' ich ihn immer, weil er selber mit die Beine so recht nicht auf dem laufenden ist. Da tun wir uns denn von alten Geschichten erzählen und uns gegenseitig so'n bißchen aufmunterieren – und da möcht' ich auch heute ...«

Der Alte schmunzelte still vor sich hin.

»Ist der Abendtisch gedeckt?« fragte er hierauf.

»Alles besorgt,« versetzte Stina und hofierte lieblich mit ihren Ohrgehängen.

»Dann möchte ich die Lampe haben, aber auf dem blauen Zimmer, das der geistliche Herr vor seiner ersten heiligen Messe bewohnte.«

»Soll besorgt werden, Herr Pulcher.«

»Na denn, fröhliche Feier und viele Grüße an Fennand van Derksen.«

»Merci und meinen gehorsamsten Ausdruck, Herr Pulcher.«

Damit glitt Stina Mengels aus dem Wohnzimmer, richtete die Lampe und klingelte alsbald in den köstlichen Winterabend hinein, der schon etliche glitzerfeine Lichtchen aufgesteckt hatte.

Pitt Pulcher sah ihr mit großen Augen nach. Dann erhob er sich, legte die Hände auf den Rücken und durchmaß die Dielen nach Länge und Breite. Vieles ging ihm durch den Sinn. Das neue Jahr warf bereits seine Schatten voraus. Es war ihm so, als sähe er sie auf der bläulichen Schneedecke liegen. Sie wuchsen und streckten sich, und die Stunde war bei ihm, die ihn an das dunkle Tor erinnerte, das keine Rückkehr verstattet. Das machte ihm kein Grauen. Er liebte solche Augenblicke ernster Betrachtung und Einkehr. Sie waren ihm befreundet und ließen ihm das Unabänderliche in weniger grauen Farben erscheinen. Die Stille des Friedhofes wehte ihn an. Er nahm sie lediglich als sanfte Mahnung hin, nicht allzusehr auf seine ungebeugte Gesundheit zu pochen, sondern beizeiten sich auf den geheimnisvollen Schritt des Verhängnisses vorzubereiten und als vorsorglicher Mann sein Haus zu bestellen. Schon vor etlichen Tagen war er beim Notar gewesen, um das Nötige in die Wege zu leiten, sein liegendes und bewegliches Eigen zu überschlagen und darüber letztwillige Verfügung zu treffen. Noch etliche Papiere, Aufstellungen, Schuldforderungen und Hypothekenverschreibungen waren hierzu erforderlich, alte Urkunden mußten vorgelegt werden, und so entschloß er sich denn, die verstaubten Dokumente, die seit vielen Jahren in der Schreibkommode aufbewahrt lagen, zu sichten und sie dem Notar für die Aufsetzung des Testamentes zur Verfügung zu stellen. Die jetzige Stunde schien ihm hierzu besonders geeignet. Er hatte keine Störung zu befürchten, und seine Seele war ruhig, so ruhig und abgeklärt wie der sanfte Schein, der an weichen Sommerabenden still und feierlich über dem verschwiegenen Ried stand.

Er stellte die Holzschuhe nebeneinander.

Dann ging er nach oben.

Unter den weichen Lammfellsocken knarrten die Dielen.

Als er das blaue Zimmer betrat, drang ihm ein warmes Licht entgegen.

Stina Mengels hatte für alles Sorge getragen. Ein anheimelndes Feuerchen knackte im Ofen, etliche Bratäpfel waren auf einem Porzellanteller in die Röhre geschoben, und die Lampe verbreitete eine wohlige Helle, die alles mit einem seinen Goldglanz umkleidete.

Dicht über der Schreibkommode befand sich ein Repositorium von Tannenholz, mit zwei Glasvasen bestellt, aus denen sich künstliche Rosen auf langen Drahtstielen erhoben. Daneben lagen die Lieblingsbücher des Alten: das ›Leben der Heiligen‹, die ›Blüten und Perlen christkatholischer Andacht‹, Schillers Gedichte in Auswahl, ›Historische Notizen über die Glockengießerkunst des Mittelalters‹ und des hochseligen Thomas a Kempis ›Büchlein von der Nachfolge Christi‹.

Er nickte ihnen zu; er hatte sie lange nicht mehr in den Händen gehabt. Achtlos war er an ihnen vorübergegangen.

Jetzt nahm er ein Bändchen und schlug es auf.

Es war die Nachfolge Christi.

Er traf auf das dreiundzwanzigste Kapitel: Von der Betrachtung des Todes.

Mit sicherer Stimme las er: »Gar bald wird es hienieden um dich geschehen sein. Deshalb erwäge, wie es mit dir steht. Heute ist der Mensch da; morgen wird seine Stätte nicht mehr gefunden.«

Dann las er die Stelle noch einmal.

Hierauf legte er das Buch fort.

»Morgen wird seine Stätte nicht mehr gefunden,« wiederholte er tonlos, und er sah durch die Scheiben in den verschneiten Abend hinein, und er sah die verlorenen Schatten der Kirche und sah, wie das Licht der ewigen Lampe aus dem Chorfenster herüberflimmerte ... und dann ließ er sich bei der Schreibkommode nieder, rückte näher heran und entnahm seinem Schlüsselbund etliche Schlüssel, die zu den verschiedenen Fächern gehörten.

Seit dem Tode seiner Frau hatte er sie nicht mehr geöffnet.

Es war ihm weh ums Herz, als er die erste Schublade auszog.

Verschiedene Aktenbündel fielen ihm in die Hände. Er löste die Schnüre und sortierte die einzelnen Schriftstücke. Nichts von Belang: quittierte Rechnungen, erledigte Schuldverschreibungen ... Er schob sie beiseite. In einem Nebenfach sah er ein vergilbtes Pergament liegen. Als er es aufrollte, ging über sein Antlitz ein feierliches Aufleuchten.

»Das kann man immer und immer wieder lesen,« sagte er still vor sich hin. Dann las er:

»Anno Domini 1522. Was ich heute erlebte, dafür danke ich dem Herrn Jesus Christus und seiner allmächtigen Kirche, denn ich, Heinrich Fürchtegott Pulcher, Provisor und Ältermann der hiesigen Tucherfraternität, Unterthan kaiserlich römischer Majestät und Nachfahre des hochberühmten Herrn Kaspar Christian Pulcher, so um dreizehnhundertzweiundsiebzig nach der Geburt unseres Herrn und Erlösers dem hochmögenden Rathe zu Köllen den Gehorsam aufsagte und für Recht und Freiheit aller ehrlichen Webersleute, wenn auch ohne Erfolg und zum eigenen Unheil, die Köpfe der stolzen Geschlechterherren über den Nasen springen ließ, daß davon die Büchlein sich rosinfarbig illuminierten – tue also zu wissen. In anfangs vermeldetem Jahr und im Monat März ließ Herr Johann III., Herzog von Jülich, Kleve und Berg, seine klevischen Trommeln in hiesiger Kirchengemeinde rühren, um allhier seine Huldigung entgegenzunehmen. War in seinem Gefolge auch ein stattlicher Junker, genannt Derick van den Boetzelaer, anzusehen wie Milch und Blut und wie der holzgeschnitzte Junker Jürgen in hiesiger Kirche, dem es gelang, mit eingelegter Turnierlanze einen gräulichen Lindwurm niederzuzwingen. Trug auch drei Reiherfedern am Hut und ein Bärtlein dazu, das durch Melissengeist und den Saft ausgelaugter Quittenkerne gar lieblich in die Höhe gezwickt war. Des Herz nun entbrannte in sofortiger Stunde zu meiner einzigen Tochter Anna Maria, obgleich sie erst siebzehn Lenze zählte, aber mit köstlicher Fülle und mit blonden Haaren wie Unserer Lieben Frauen Bettstroh aufwarten konnte. Da nun die Jungfrau auch ihrerseits sich lichterloh für den besagten Junker entflammte, sprach er ihr zu, sich mit ihm in den Wiesen und unter flirrendem Mondenschein lieblich zu ergehen. Da ich solches bemerkte, herrschte ich ihn mit nachstehenden Worten an: Exi, immunde spiritus! oder zu deutsch gesaget: Fahre von hinnen, unsauberer Geist, denn Ihr habt es zu thun mit der ehelich geborenen Tochter eines Heinrich Fürchtegott Pulcher, der es in der Gewohnheit hat, seine Hausehre selbst gegen Kaiser und Reich zu verfechten. Solches ist mein Evangelium und müßte ich mir darüber das letzte Hemd anmessen lassen, denn es ist besser, von der Lebenskoppel heruntergemäht zu werden, als Schaden zu leiden an seiner seelischen und leiblichen Ehre. So Ihr aber gewillt seid. Herr Junker, ihr zuvor ein Ringlein an den Finger zu streifen, möget Ihr mit ihr in die Wiesen hinausgehn und Euch im flimmernden Mondschein ergehen. Dessen soll der liebe Herr Jesus Christus mein Zeuge sein. Darüber freute sich der Junker van den Boetzelaer und sagte, solches sei auch seine Meinung gewesen, worauf er sie mit einem Ringlein beglückte, das roth von köstlichem Gold war und zwei Herzen für immer umhegte. Da mein ehrliches Wollen und meine bürgerliche Geradheit dem hochmögenden Herzog zu Ohren kam, ließ er mich vor sich entbieten und sagte: Gott grüß' Euch, Herr Pulcher. Wie Ihr gehandelt, das ist Pulchersche Art. So ein Geschlecht verdiente ein adliges Wappen zu führen ... und meine Tochter strahlte schöner und seiner denn alle Edeldamen bei Hofe ... wurde auch Anne-Susanne geläutet ... und da war mir so, als würde der alte Herr Kaspar Christian Pulcher wieder lebendig, als spräche er also aus dem feierlichen Glockenläuten herunter: Ein adliges Wappen thut nicht noth; du hast dir selber ein Wappen gesetzet für ewige Zeiten. Mögen sich alle Pulchers so benehmen. Gott sei meiner Seele barmherzig!«

»Hast du's gehört, Jakob Verheyen?!« triumphierte der Alte. »Wenn ein Jakob Verheyen hoch hinaus will, ein Pitt Pulcher will höher hinaus ... und wenn solches die Menschen nicht reden, die alten Pergamente reden es und nehmen einem das schwerste Erdenleid und die tiefste Not von der Seele. Ich danke dir, Kaspar Christian Pulcher, ich danke dir, Heinrich Fürchtegott Pulcher – ich danke dir und küsse die Schriftzüge, die mich also getröstet.«

Sorgfältig legte er die Rolle wieder zu den übrigen Schriften. Neue Papiere glitten durch seine Hände, auch der Kaufakt über die kleine Buschparzelle, in welcher sich die stattliche Fichte erhob, die weit und breit in das niederrheinische Land hineinschaute. Laut Vermerk war bereits vor mehreren Jahren die Restsumme abgezahlt worden. Die amtliche Beglaubigung der gelöschten Hypothek stand daneben. Also auch das war in Ordnung. Er gedachte diese Buschparzelle seiner Tochter als Sondergut zu vermachen; ebenso das Haus nebst Garten und Hofraum. Er hatte dieserhalb schon mit Stephan gesprochen, und seine Erwägungen waren auf fruchtbaren Boden gefallen.

Auch diese Urkunde legte er zu den übrigen Akten.

Mit zagen Händen öffnete er eine andere Lade des Pultes. Statt der gesuchten Papiere brachte er ein schlichtes Kästchen zum Vorschein, ein unscheinbares Ding mit Glasperlen ausgelegt und an allen vier Ecken mit Messing beschlagen.

Als er es zwischen den Fingern hielt, lief ein leises Zittern um seine Mundecken.

»Von ihr,« sagte er mit umflorter Stimme.

Mit wehen Gedanken betrachtete er die kleine Schatulle, die die Verstorbene aus ihren Mädchenjahren mit in die Ehe gebracht hatte. Hier waren keine wichtigen Schriftstücke, die hinsichtlich des Nachlasses Aufklärung geben konnten; hier gab es keine Geheimnisse. Ihr Leben lag vor ihm wie ein stiller Wiesengrund mit weißen Blumen und einem gütigen Himmel darüber.

Und dennoch öffnete er.

Als er den Deckel mit den eingekrusteten Glasperlen zurückhob, da war es so, als liefe der wehe, klagende Hauch einer Sterbenden durch das Zimmer, um allmählich und mit einem fröstelnden Ton zu verklingen.

Was war das nur?

Er hörte darauf, wie auf eine Botschaft aus dem Jenseits. Er wähnte den Odem seines verstorbenen Weibes zu spüren.

Mit scheuer Hast betrachtete er die einzelnen Gegenstände. Alles Erinnerungen und Andenken aus ihrer Mädchenzeit und ihrem späteren Leben: die Totenzettel von Vater und Mutter, ihre Bestallung als Lehrerin, ihr Brautkränzlein, schon zermürbt und zerfallen, etliche Bandschleifen, das Petschaft ihres seligen Vaters und hier, zwischen anderen Briefschaften, ein versiegeltes Schreiben mit Tränenspuren: »Zu Händen meines lieben Mannes und nach meinem Tode zu öffnen ...«

Das hatte sie selber geschrieben, in ihrer klaren und zuversichtlichen Weise, ohne Erregung, ohne die Merkmale ihres langsamen Hinsiechens ...

Pitt Pulcher küßte die Buchstaben.

»Von ihr,« sagte er nochmals.

Als er das Schreiben erbrach, ging wieder der wehe, klagende Hauch durch das ängstliche Schweigen.

Dann las er:

»Herzlieber Mann! Ich bin müde, wie ich niemals gewesen. Eine Tote spricht zu Dir, denn wenn diese Zeilen zu Dir reden, ist mein Tagewerk längst getan und meine Seele bittet bei Gott um Verzeihung.

Er wird barmherzig sein, wie ich hoffe; auch Du wirst barmherzig sein und Deinem armen Weibe vergeben. Pitt, ich habe Dir ein Geständnis zu machen, sonst kann ich das ewige Leben nicht finden ...«

Mit einem kurzen Laut brach er ab. Seine Pulse klopften. Dann las er weiter. Nein, er konnte nicht lesen. In fliegender Hast überlief er die Zeilen, überschlug sie, um sich an einzelne Worte festzuklammern und sie zu umschlingen.

Gierig eilte er dem Schluß des langen Briefes zu.

Seine Stirn war ehern geworden.

Nun hielt das Schweigen wirklich den Atem an. Selbst das Singen der Lampe ließ nach, und die lichten Kohlenpartikelchen, die kurz zuvor noch mit seinem Knistern dem Ofen entfielen, sanken jetzt lautlos in den Aschenkasten. Die Stille war furchtbar, sie war entsetzlich, sie war mit Krepp umhangen. Es war eine Stille wie unter dem Bahrtuch.

Draußen gingen die Leute durch den Sankt Nikolausabend, als schwebten sie zwischen Himmel und Erde. Auch nicht das leiseste Geräusch ließ sich hören. Das Fallen selbst des kleinsten Gegenstandes wäre befremdend gewesen.

Die im Grabe kannten nicht solche blutleere, entsetzliche Stille.

Wenn sie doch nachließe!

Wenn Anne-Susanne doch ihre Stimme erhöbe, um das Fest einzuläuten. Wenn sie doch klänge! Ja, wenn sie doch klänge!

Da – plötzlich zerriß sie ... die Stille ...

Der alte Mann reckte sich auf, und ein Schrei rang sich von seinen Lippen, als schrie im Sturm ein Segel, das mitten entzweiklaffte.

Ha, wie die Fetzen jetzt flogen ...!

»Nur Ruhe – Ruhe ...!« sagte der Alte.

Mit der rechten Faust preßte er die Herzgrube.

»Nur Ruhe – immer nur Ruhe ...!«

Er erhob sich und sah in den gegenüberhängenden Spiegel.

Da sah er: das rechte Augenlid war ihm tiefer gefallen.

Gelähmt hing es nieder.

»Auch das noch!« sagte er stumpf vor sich hin.

Dann griff er ins Leere, ins Nichts, als wenn er in die Ewigkeit griffe.

Mit einem wehen Laut fiel er vorwärts, umpackte das Schreibpult und preßte die Stirne gegen die Platte.

Und wieder die Stille, die blutleere, atemlose, entsetzliche Stille von eben.

 


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