Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15

Von dieser Stunde an war Pitt Pulcher noch verschlossener und insichgekehrter. Er legte seinem heiligen Versprechen gemäß und im Angedenken an die Verstorbene seine Rache und die rechte Faust an die Kette, denn er sagte sich täglich: »Dicht neben mir brütet ein Gewitter. Es ist fest angenagelt am Boden und lauert. Noch zwinkert es nur, ungewiß und mit gelben Augen. Es regt und rührt sich nicht – noch nicht. Aber sä' keinen Wind. Sonst hebt es sich auf und tritt seinen Vormarsch an, denn wer Wind säet, wird Sturm ernten.« Und so hielt er sich in Zucht und Ordnung und ging seines Weges.

Den traurigen Vorgang in der Glockenstube erwähnte er mit keiner Silbe. Er fand sich damit ab, wie man sich mit dem Unabänderlichen abfindet, und was merkwürdig war: auch diejenigen schwiegen, die Zeugen gewesen. Möglich aus innerem Mitleid heraus, möglich, sie konnten den Zusammenhang des Geschehens nicht finden, und so ließen sie denn die Dinge gehen, wie sie wollten, rüsteten auf Weihnacht und stellten bereits die großen Bowlenbehälter zurecht, um sich bei einem strammen Punsch oder Grog auf den ersten Januar vorzubereiten.

Weihnachten kam, und als die Böller dem scheidenden Jahr ein Lebewohl nachriefen und durch sieben herzhafte Knälle das neue begrüßten, als die Glocken sich bei den Händen nahmen und feierlich singend über das verschneite niederrheinische Land zogen, da saßen die vom Seegersschen Gutshof um eine pompöse Suppenterrine, in der ein delikater, mit Zitronenscheiben versetzter Punsch wallte und kochte und die Stube mit köstlichen Düften durchräucherte.

Alles, was zur Seegersschen Familie gehörte, die alte und die zukünftige Verwandtschaft, hatte sich eingefunden – bodenständige Leute, mit breiten Gesichtern und schwergoldenen Uhrketten, und Frauen in zierlichen Knippmützen und steifseidenen Kleidern.

Franz Seegers sielte sich in Wonne und Großtuerei, und als die mit krapproten Rosen bemalte Wanduhr zum Schlag ausholte und zwölfmal lospinkte, hob er das gefüllte Punschglas und bewillkommnete den Eintritt des neuen Jahres in einer prächtigen Rede. Die saß man so, und als er fertig war, knatterte eine kräftige Lachsalve über die festlich gespreitete Tafel.

»Prosit Neujahr ...!«

Die Gläser klangen gegeneinander.

Aber das von Hermann Verheyen zerschellte.

Thres wurde unruhig.

»Tut nichts!« meinte der Alte. »Man immer hü mit die bockigen Pferde. Scherben bringen Glück. Preußische Taler klingeln auch! – und du bist hier in 'ner Sippschaft, die es in der Gewohnheit hat, mit preußischen Talern zu klingeln. Drum prost, Hermann! – auf 'ne respektable Zukunft! aber auf 'ne Zukunft, die es versteht, ein angenehmes Spektakel zu machen. Hermann und Thres sollen leben!«

Alle stimmten mit ein, und die Knechte und Mägde, die in der benachbarten Küche auf ihre Weise feierten, jubelten ihr ›Prosit Neujahr‹ und ihr ›Hoch sollen sie leben‹ so kräftig in die Schneenacht hinaus, daß davon die Pferde unruhig wurden und mit den Halfterketten rumorten.

Jakob Verheyen stierte benaut vor sich hin.

Seegers trat auf ihn zu.

»Gottverdomie!« schrie er aus vollem Halse, »was hast du denn heute wieder im Leibe?«

»Ich kann mir nicht helfen,« wehrte Verheyen ab, »aber mir ist so, als stände Pitt Pulcher hinter mir, als hätte er mir etwas zu sagen ...«

»Herrjeses nochmal! – immer dieser verfluchte Pitt Pulcher ...!«

»Ich kann mich nicht ändern, aber es ist so. Gib mal acht, der wirft mir noch 'nen Knüppel zwischen die Beine ... Du – der Mensch ist gefährlich. Das endet mit Pulver und Blei, und was so 'ne blaue Bohne an sich hat ...«

Er brach jählings ab und stürzte sein dampfendes Punschglas herunter.

»Pink, pink, pink ...!«

In demselben Augenblick verkündete auch die Kastenuhr im Pulcherschen Hause den Beginn des neuen Jahres.

Um den einfach gedeckten Tisch saßen der Alte, Anna und Stephan.

Am Weihnachtsabend war Pitt nach seiner Buschparzelle gegangen, wo die einsame Fichte stand, hatte ein Zweiglein gebrochen und mit diesem Zweiglein das Bild seines verstorbenen Weibes geschmückt.

Heute stand die bekränzte Photographie der stillen Frau neben ihm in lieblicher Anmut – und diese Anmut war auch später im Tode nicht von ihr gegangen.

Als die Mitternachtsstunde einsetzte und mit seinem Klingen verhallte, nahm Pitt Pulcher das Glas und sprach versöhnt und ernst vor sich hin: »Auf Mutter ...:«

Und sie stießen an und tranken.

Und hierauf sah er seine Tochter an und sagte: »Anna, mein Kind, sie ist dir stets eine gute Mutter gewesen.«

Und dann sah er den jungen Kaplan an, lange und seltsam, und schüttelte kaum merklich das graue Haar und sagte ebenfalls: »Stephan, auch dir ist sie eine gute Mutter gewesen, drum denke ich: wir bitten für sie, auf daß sie teilhaftig werde des ewigen Lebens.«

Das Schwärmergesicht des jungen Geistlichen verklärte sich. Er faltete die Hände und sprach das ›Vater unser‹ mit schöner und vernehmlicher Stimme.

Da war es so, als ginge der Geist der Verstorbenen durch das Zimmer.

Und er ging von einem zum andern und segnete alle.

Draußen aber läuteten die Neujahrsglocken und riefen ihr ›Prosit Neujahr‹ über das weite, träumende, schneeweiße Land.

Ja, Prosit Neujahr! – ihr seligen, unseligen Menschen. – – –

Am heiligen Dreikönigstage suchte Pitt Pulcher die Sankt Sebastianer auf, um mit ihnen über das Wohl und Wehe der Brüderschaft zu verhandeln. Das Befinden des Hauptmanns war von Tag zu Tag bedenklicher geworden. Stündlich hatte man mit dem Ableben des wackeren Quirinus vom Oort zu rechnen.

»Der wird nicht wieder,« meinte Dores Jansen, »aberst solang ich nicht die sechs Bretter in Bestellung bekomme, darf über 'nen andern nicht abgestimmt werden.«

Dem wurde beigepflichtet und sonstiges erledigt.

Um die Abendstunde saß Pitt Pulcher über den Schriften. Das Wohl der Gesellschaft lag ihm am Herzen. Er studierte ihre Akten bis spät in die Nacht hinein. Als er zu Bett ging, fielen dichte Flocken vom Himmel. Am nächsten Morgen waren sie zu bitterkalten Flöckchen geworden, die schneidend um die Straßenecken fegten und jede Ritze verstopften.

Die weiße Decke ballte sich nicht. Wie feinstaubiger Kandiszucker lag sie auf Gesimsen und Dächern, spreitete sich jungfräulich über die Straßen, und wenn ein Fuß über sie fortging, dann war es so, als sirrte die Flamme in einem Lampenzylinder.

Die Bäume standen in einem silbrigen Duft, in einem Straminrahmen, dessen enggesponnene Maschen alle Einzelheiten verschleierten.

Dunstig sah der Helm der Sankt Nikolaikirche aus der Höhe herunter.

Nur ab und zu ruderte ein Dohlenvogel um die vereisten und überzuckerten Wasserspeier. Die Kälte war grimmig geworden.

Um die zehnte Morgenstunde ließ das nadelspitzige Schneetreiben nach.

Zwei Stunden später hörte es ganz auf.

Ein stählerner Himmel lag über der Landschaft. –

Nach dem Mittagessen klopfte Pitt Pulcher seine Kalkpfeife aus, schob den Nickeldeckel über und stellte sie auf das Eckbrett zu den übrigen Pfeifen.

Hinter ihm polterte der Kanonenofen. Mit rotangelaufenen Backen und mit glühen Fünkchen, die er in den Aschenkasten hineinprätzelte, versuchte er es, eine behagliche Wärme zu schaffen, und dennoch gelang es ihm nicht, alle Eisblumen von den Fensterscheiben zu nehmen.

Der Alte taute eine kreisrunde Stelle mit seinem Atem in die Brabanter Spitzen hinein und sah auf die Straße.

»Es muß sein,« sagte er endlich.

Um seine Mundecken zuckte ein schmerzliches Lächeln. Er fuhr sich über die Stirne, über das kranke Augenlid, als müsse er ein wehes Erinnern verwischen, langte nach seiner warmen Lammwolljacke und zog sich eine steife Otterfellmütze über die Ohren.

Hierauf holte er seinen Dorn aus der Ecke, streifte die Fausthandschuhe über und verließ das Zimmer.

Noch einen letzten Blick warf er auf die Photographie seines Weibes.

»Mutter, es muß sein,« sagte er mit weicher Betonung.

Er hatte gelernt, wieder ruhig zu denken. In der Neujahrsnacht waren alle Zweifel von ihm gefallen. Er hielt nicht mehr nach. Er hatte der verhängnisvollen Stunde Rechnung getragen. Nichts haftete ihr mehr an, auch nicht das geringste mehr. Alle Schuld war von ihr genommen. Der Tod nimmt alles hinweg. Aber auch abgesehen davon: die alte Liebe hatte aufs neue Wurzeln geschlagen. Sie ließ alles in milderen Farben erscheinen. Aus dieser Liebe wuchs für ihn die Sehnsucht heraus, bald mit der Verstorbenen vereinigt zu werden. Dieser Gedanke beschäftigte ihn seit Tagen. Er war ihm plötzlich gekommen, ohne dafür auch nur den geringsten, stichhaltigen Grund angeben zu können. Aber er ließ sich nicht scheuchen, und so ging er ihm in stiller Beschaulichkeit nach, etwa so, wie man einem scheidenden Sommerabend nachgeht, um das Blinzeln der ersten Sterne begrüßen zu können.

Aber diesen Sternen war ja der Himmel, und in ihm ruhte ja das unnennbare Glück, der ewigen Anschauung Gottes teilhaftig zu werden.

Daran dachte er jetzt.

Wann dieses Glück kommen würde, das stand bei seinem Erlöser; darüber grübelte er nicht nach. Allein, er wollte nicht überrascht werden, er mußte seine Vorkehrungen treffen, und so entschloß er sich denn, das Allernotwendigste mit dem heutigen Tage in die Wege zu leiten.

Als er den Hausflur betrat, hörte er Stina Mengels in der Küche hantieren.

»Stina,« rief er ihr zu, »ich habe noch einen Ausgang zu machen.«

Damit ging er zur Hanselaerer Straße, wo Dores Jansen wohnte.

Der ›Hobel le Beau‹ war zu Hause.

Der stillen Zeit wegen arbeitete er mit seinem Sohne auf Vorrat. In diesem Augenblick machte er sich allerdings an seinem Fläschchen zu schaffen während Thyß den unersättlichen Ofen mit Sägemehl und Abfallstücken fütterte.

Beim Eintritt des Alten legte Dores die Flasche beiseite und salutierte: »Herr Pulcher, ich habe die Ehre.«

Pitt Pulcher drückte ihm den Arm herunter und meinte: »Dores, darf ich mir eine Frage erlauben?«

»Ich bitte gehorsamst.«

»Dores, Ihr seid ein verständiger Mann, und viele behaupten, Ihr hättet die Gabe, mehr zu hören als andere Menschen.«

»Schon richtig.«

»Dann möchte ich fragen: hat etwa in letzter Zeit der Holzwurm gepinkert?«

»Allerdings, aber man äußerst genierlich. Er hat so 'ne richtige Kurasch nicht gefunden, denn der Herr Dechant ist wieder auf die Beine gekommen.«

»Und sonst nichts?«

»Daß ich nicht wüßte, Herr Pulcher. Wir schaffen auf Vorrat. Aber die Sargtischlerei ist so'n bißchen die Pleite gefallen.«

»Und der Holzwurm hat nichts mehr verlautbart?«

»Leider, keine blasse Idee.«

»Dores, Ihr könntet Euch irren. Ich meine, hat's nicht in der Wand geklopft, die auf den Kirchplatz hinausgeht?«

Jansen riß die Augen auf: »Ihr wollt doch nicht sagen ...?!«

»Ja, Dores, das wollte ich sagen.«

»Aberst ich bitte Ihnen, Herr Pulcher ...! Sie stehn ja vor mir wie die leibhaftige Urkraft, wie so'n doppelt und dreifach verdiebeltes Sielengerüst mit verzahnte Trägers dazwischen. Und so was denkt nicht ans Sterben. Für Ihnen hat der Holzwurm noch lange keine Zeit, sich aufs Pinkern zu verlegen. So zehn Jährchen wird's Propter und Prätorius immerst noch dauern.«

»Und dennoch möchte ich bitten ... Können Sie abkommen, Dores?«

»Für Sie immerst, Herr Pulcher.«

Der Alte sah sich in der Werkstätte um.

Gehobelte und rauhe Bretter standen an den Wänden. Dazwischen hingen Sägen, Richtscheite und Bohrer. Die suchte er nicht. Seine Blicke wanderten weiter. In einer Ecke klebten sie fest. Zwei blanke Wolfsaugen lauerten da an langen, geglätteten Stielen.

Mit dem Stock deutete er auf die gierigen Äxte.

»Die meine ich,« sagte er bestimmt. »Die nehmt und kommt mit.«

»Wohin soll's denn?« fragte der ›Hobel le Beau‹

»Das sollt Ihr später erfahren.«

»Schön,« sagte Dores. »Nur einen Momang noch.«

Er und Thyß machten sich fertig, zogen die warmen Arbeitsjacken über und schulterten ihr Handwerksgerät.

»Na – denn 'rein ins Vergnügen.«

Gleich darauf verließen die drei, Pitt Pulcher in der Mitte, die Werkstätte, gingen die Hanselaerer Straße entlang, querten den Markt, traten in die zunächstgelegene Gasse, um von hier aus die Chaussee, die über Marienbaum nach Xanten führte, zu gewinnen.

Die Leute sahen ihnen nach.

»Was Pitt Pulcher nur hat?« fragten die einen.

»Was er jetzt wieder anstellt?« meinten die andern.

Aber keiner wußte Antwort auf die Fragen zu geben.

Wortlos gingen die drei nebeneinander.

Von den Chausseebäumen hingen weiße Spitzen. In dem nahen Ravelin raschelte das überständige Ried auf. Ein Stöhnen und Ächzen unterlief die mit dichten Graupeln überzogene Eisfläche. Es war wie ein Klagen der angeschmiedeten Wassergeister, die in der Kälte erstarrten.

Das Schneefeld wurde unermeßlich.

Die drei mitten dazwischen.

In der Ferne glitt ein Schlitten vorüber. Der einzige schnelle Punkt in der weiten Umgebung. Lautlos und in ziehenden Dampf gehüllt, ging die Reise ins Nichts, in die weiße Unendlichkeit. Nur ab und zu ließ sich der spitze Klang eines Glöckchens vernehmen.

Pitt Pulcher mußte unwillkürlich an eine arme Seele denken, die in das große, tiefe Schweigen hineinfuhr.

Er winkte ihr zu, als müsse er ihr einen Gruß in die Ewigkeit mitgeben.

Bald darauf verstummte das Glöckchen, als wäre es in den weichen Teppichen erstickt, die sich von der Landstraße gegen die niedrige Berglehne anschoben und alles Leben mit ihrem Flaum überdeckten. Und dennoch alles so groß, so andächtig, so mit Reinheit umgeben! – eine endlose Schneespreite, nur ab und zu von goldenen Fäden durchstreift, die die bereits tiefstehende Wintersonne in die Felder hineingestickt hatte. Und diese goldenen Fäden wurden breiter und länger. Sie glitzerten wie die Rauschgoldpartikelchen auf dem Sterbekleid einer Verblichenen. Sie verschönten die tote Erde und hießen sie lächeln.

Pitt Pulcher fühlte das alles.

Nach viertelstündigem Marsch verlangsamte er die Schritte und die seiner Begleiter. An einer umfriedeten Buschparzelle stoppte er ab. Es war seine Parzelle, zwei Morgen groß und mit niedrigen Lohhecken und Haselbüschen bestanden.

Aber über dem verschneiten Kleinzeug, den geduckten Lohhecken und Haselbüschen hob es sich auf in sakraler Würde und Hoheit, da hob sich der Baum auf, der so oft in das Leben Pitt Pulchers hineingerauscht hatte. Wie ein Levit in fließendem Bart, mit langem Lichtgewand, an dem die überreiften Zapfen wie Stückchen hingen, wuchs er in den Himmel hinein – heilig, unberührt und denen ein Wohlgefallen, die sich auf seine geheimnisvolle Sprache verstanden. Fetzen versprengten Sonnengoldes hingen zwischen den umkrusteten Nadeln, glühten im Geäst, rieselten als Bordüren herunter und legten ihm einen leuchtenden Reifen um die silberhelle Stirn, auf dem die Worte ›Dem Jahwe geweiht‹ in flammenden Zeichen erschienen. Auf dem höchsten Wipfel saß ein Falke in majestätischer Ruhe.

Dem Jahwe geweiht ...

Also Gott war in der Nähe, hier war sein Odem zu spüren, hier wohnte sein Friede. Hier stand sein Priester in klingender Winterpracht, keusch bis ins tiefste Mark, unberührt von den Sünden der Welt, der Reinste unter den Reinen, und läutete mit seinen Glöckchen – und spendete Weihrauch – und segnete die Welt.

In Andacht versunken standen der Alte und seine Begleiter. Ihre Blicke gingen vom Fuß bis zum strahlenden Gipfel.

Kein Fehl – alles ebenmäßige Schönheit!

So standen sie lange.

Jetzt stützte sich Dores auf den Stiel seiner Axt und sah fragend den Alten an.

Der verstand ihn.

»Kommt,« sagte er leise, stieß das Türchen in der Umgatterung auf und führte die beiden bis an den Wurzelstock des einsamen Baumes.

Jetzt war es, als wenn der Levit zu singen begänne. Aus den Nadelschleiern kam es herunter. Erst aus weiter Ferne, dann näher, wie aus einer milchigen Wolke heraus, dann mit der verhaltenen Stimme einer Posaune, seltsam und traurig – und feine Schellchen waren dazwischen und das Klingen von Harfen ... und Pitt Pulcher sprach in dieses Raunen und Klingen hinein: »Leben und Sterben, Vergehen und Auferstehn! Dores, als gelernter Tischler wißt Ihr, daß nichts mehr im Saft steht. Im Saft geschlagenes Holz ist schlimmer, als hätte es Schwamm und Notfäule zwischen den Rippen. Ein vernünftiger Haushalter weiß das in Überlegung zu ziehen. Zwei Monate später, und zwischen Bast und Borke beginnt es wieder zu steigen. Dann ist die Zeit verpaßt. Jetzt ist die richtige Stunde gekommen, und aus dieser Erkenntnis heraus: Legt mir den Baum auf die Seite.«

Dores glaubte nicht richtig gehört zu haben.

»Aberst ich bitte Ihnen, Herr Pulcher!« sagte er kleinlaut.

»Es ist beschlossene Sache.«

»Und wenn auch! – aberst Ihre Freude und Ihr sogenanntes Pläsier und alles das, worunter Sie sich sommerabends amüsierten, das sollen wir umwerfen?«

»Ja – man frisch an die Arbeit.«

»Herr Pulcher, ich habe Sie immerst als verständig angesprochen, nu aber muß ich Sie für unverständig taxieren. Der Baum ist gesund bis in die innersten Knochen.«

»Drum soll er fallen.«

»Herr Pulcher ...!«

»Dores, redet nicht weiter.«

»Herr Pulcher, die ganze Gegend profitiert von die Fichte. Sie ist gewissermaßen unser Bekömmnis geworden.«

»Habe ich Euch in Arbeit genommen? Ja oder nein?«

»Schon richtig! – aberst mein Tischlerhonnör!« – und der ›Hobel le Beau‹ nahm den Stiel der Axt zwischen die Beine und legte wie beschwörend die Hände auf die Wolljacke: »Herr Pulcher, setzt mir nackig in Indigo ... denn ich muß Ihnen sagen: Fällt der Baum, dann reißt er auch Ihre Freude und Ihr Leben mit um.«

»Wollt Ihr zuschlagen. Dores?«

»Er reißt Ihren Menschen zu Boden ...!«

»Dores, ja oder nein?!«

Da ließ Jansen die Arme herunter.

»Thyß, dann geht das nicht anders,« sagte er fahrig vor sich hin. »Gegen Herrn Pulcher kann keiner nicht reden.«

Und Vater und Sohn warfen die Fäustlinge von sich, spuckten in die Hände und umgriffen die sehnigen Stiele.

»Thyß, in Gottes Namen hau' zu!«

»Eins, zwei ...!« sagte Thyß.

Und die gierigen Wolfsaugen blitzten im Winterlicht. Hoch über die Schultern gezogen, standen sie eine Augenblicksspanne unbeweglich in der Luft und wurden zu haarscharfen Schneiden.

Der erste Axthieb krachte nieder.

Hierauf der zweite.

Pitt Pulcher wandte sich ab.

Ein wehes Jammern und Rütteln ging durch den schnurgeraden Stamm. Eiskristalle prasselten nieder. Der Falke flog ab, schraubte sich hoch, um gleich darauf wieder aufzubäumen. Er wollte seinen alten Thron nicht verlassen.

Und Axt fiel um Axt. Span um Span splitterte ab und taumelte mit weichem Aufschlag in die wollige Schneedecke.

Mit abgewandtem Gesicht horchte der Alte auf das Krachen und Stöhnen.

Ihn fror nicht mehr.

Mit heißen Schläfen zählte er die einzelnen Hiebe.

In regelmäßigen Intervallen fielen sie nieder. Die von Thyß klangen härter und schärfer.

Jetzt wurde die Borke durchschlagen; er hörte es deutlich. Jetzt kamen Bast und Splint an die Reihe, und sie redeten eine Sprache, die ihm das Herz abstoßen wollte.

Die Klagelaute ließen nach. Der erste Schmerz war vorüber. Das Schlimmste sollte noch kommen, wenn es ins Kernholz und in die eigentlichen Lebensfasern hineinging. Nur ein Wimmern kam aus den Ästen, die sich leise bewegten – und unter diesen Ästen hatte er zum erstenmal sein junges Weib innig umschlungen, hatte er von seinem Glücke und den zukünftigen Tagen gestammelt. Hier hatte er empfunden, was die Liebe einer Frau zu geben vermag, wie heiß sie war, wie selig sie machen konnte. Von hier aus hatte er mit ihr in das abendliche Land hinausgesehn – in das endlose Wiesenland – in das Land mit dem blanken Streifen des Rheines, der weit hinten bei den stumpfen Türmen von Rees aufglänzte – in das Land seiner Kindheit. Und ein warmer Hauch stieg von den Wiesen herauf – ein Duft nach frischem Heu und welkenden Blumen ... und jetzt taten die Äxte ihre unbarmherzige Arbeit.

Er wurde in seinen Gedanken unterbrochen.

»Halt!« sagte Dores.

Vater und Sohn verschnauften sich und wischten sich den Schweiß von der Stirne.

»Die hätte Propter und Prätorius noch zweihundert Jahre mitmachen können,« sagte der ›Hobel le Beau‹ und zeigte auf den Wurzelstock, wo eine klaffende Wunde sich auftat, frisch und gesund und bis ins Kernholz hineingehend.

»Kolosal!« meinte Thyß und legte die Hand in die geschlagene Wunde.

Glashelle Perlen köstlichen Balsams tropften zu Boden. Die Fichte blutete, und schon dem Tode nahe, spendete sie noch allverzeihend ihr liebliches Räucherwerk.

Dores schüttelte den Kopf.

»Es geht ja nicht anders,« sagte er traurig, »aberst ich muß immerst dran denken.«

Und wieder krachten die Äxte. Sie gaben einen klagenden Ton von sich. Es ging hart auf hart. Der Stamm winselte. Das Mark wurde getroffen. Zum letzten Male sah der hohe Levit, sah der Priester unter den Bäumen, in Gottes schöne Welt hinein. Dem Westen zu standen heilige Zeichen. Die wurden zu feurigen Flammen, zu lodernden Bränden. Die legten einen Purpurmantel um die erschauernden Äste. Rote Kristalltropfen fielen herunter. Alles war Brunst und Lohe.

Noch eine bange Viertelstunde – und der Edelfalke erhob sich. Senkrecht stieg er in den Himmel hinein und zog hier Kreise um Kreise.

Und abermals waren fünf Minuten vergangen.

»Achtung!« rief Dores.

Vater und Sohn sprangen zur Seite.

Die Fichte tat einen entsetzlichen Wehschrei, wie ihn der Mensch hat, wenn alle Rettung dahin ist, so furchtbar klang er, so von wilden Schmerzen durchzittert. Und dann ein Biegen und Brechen, ein Splittern und Knattern ... Der gewaltige Stamm legte sich sanft auf die Seite. Und dann, wie unter dem Dampf eines Räucheraltars, mit Brausen und Sausen, mit dem Klirren und Klingen von tausend und aber tausend Schnee- und Eiskristallen, mit dem geheimnisvollen Säuseln seiner Nadeln und Zweige stürzte er nieder, Gestrüpp und Kleinholz in seinem dumpfen Falle begrabend.

Von der Berglehne kam das Echo zurück.

Noch einmal dampfte eine Schneewehe auf, dann war alles vorüber.

»Das wäre geleistet,« murmelte Thyß und stellte den rechten Fuß auf den geworfenen Riesen.

Er hatte das Leben verloren.

Kleinlaut standen die Männer nebeneinander. Über ihnen aber kreiste noch immer der Falke, senkte sich tiefer, um wieder in die Höhe zu steigen. Er trauerte um seinen gestürzten Thronsitz. Hierauf strich er ab und glitt auf weichen, lautlosen Schwingen in den Glanz der untergehenden Sonne.

Pitt Pulcher sah ihm nach, bis er untertauchte in der Glorie des Winterabends.

Er war heilig bewegt.

Feierlich nickte er dem ›Hobel le Beau‹ zu und sprach aus dieser Feier heraus: »Dores, kommt mit auf die Seite. Ich habe Euch etwas zu sagen, aber was ich zu sagen habe, das bleibt unter uns, das ist Ehrensache, das braucht der junge Mann nicht zu wissen.«

Dores verstand ihn und legte die Hand auf die Brust, als wenn er beschwören wollte: »Herr Pulcher, was hier liegt und mir anvertraut ist, das liegt so sicher geborgen wie unter 'nem Grabstein. Von dem erfährt keiner etwas. Niemand. Keine menschliche Seele. Ich komme, Herr Pulcher.«

»Dores,« sagte hierauf der Alte, »die Fichte gehört Euch. Nehmt sie an für geleistete Arbeit. Sie ist in guten Händen. Nur – ich bedinge mir aus: wenn Ihr sie geschnitten und in Richte gebracht habt, dann stellt sechs Bretter beiseite – sechs astfreie, schnurgerade Bretter. Ich habe sie nötig. Auch die Späne davon muß ich haben. Dores, unter diesem Baum habe ich die schönsten Stunden meines Lebens gelebt. Unter diesem Baum grüßte mich die alte Zeit, die Blut an den Füßen hatte und Blut an den Händen. Aber diese Zeit war groß und gewaltig und hat uns Pulchers als Stürmer gesehen. Hier hörte ich den Klang von Anne-Susanne, und ihre Stimme segnete das Land, soweit sie ertönte. Dores, unter diesem Baum habe ich mit meinem armen Weib gesessen an schönen Tagen und an solchen, die das Weinen verlernt hatten und so arm waren wie Bettelvögte. Dores, und muß ich aus diesem Leben heraus – ein Stück dieses Baumes nehme ich mit mir. Zwischen seinen Brettern will ich ruhen. Diese Stunde kommt bald ...«

»Aber, Herr Pulcher ...!«

»Ich sage Euch: diese Stunde kommt bald, und daher ist mein Wille: Ihr, Dores, sollt mir den Sarg dafür machen. Gebt mir die Hand, daß es also geschieht. Nun wißt Ihr, warum die Fichte sterben mußte. Sie und ich gehören zusammen. Es ist mein Herzenswunsch.«

»Ich weiß es, Herr Pulcher,« sagte Dores in tiefer Bewegung und legte seine Hand in die des Alten. »Es soll pünktlich besorgt werden. Jetzt versteh' ich auch alles.«

»Na, denn ...« sagte Pitt Pulcher, und er straffte den Rücken, als wäre er wieder der Alte von früher.

»So kommt,« sagte er ruhig.

Noch einen letzten Blick warfen die drei auf die Niedergestreckte, dann zogen sie heimwärts.

Wortlos, wie sie gekommen waren, also wortlos gingen sie auch wieder nach Hause.

Die Äxte funkelten im Abendrot, als zögen zwei Fackeln ihres einsamen Weges.

Eine Stunde später stand ein lichter Mond am Himmel, schön und herrlich anzuschauen.

Er suchte die einsame Fichte, die er so oft in kalter Winternacht begrüßt hatte, aber er fand sie nicht wieder.

 


 << zurück weiter >>