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4

»Rietz!« machte der lange Schlichthobel und zog papierdünne, ellenlange Späne von dem schmalbrüstigen Tannenbrett, das Dores Jansen zwischen die eisernen Haken seiner Werkbank eingespannt hatte. Mit feinem Zischeln und Näseln kräuselten sie sich aus dem Spanloch, drehten sich um die Arme des Meisters, um Oberkörper und Beine, so daß der ›Hobel le Beau‹ unwillkürlich an den trojanischen Oberpriester Laokoon erinnerte, obgleich die beiden unglücklichen Söhne nicht zur Stelle waren und Dores sich ferner in anständigem Zeug von den fauchenden Schlangen einringeln ließ. Sonst aber erinnerte er an Laokoon, den Sohn des Antenor.

Wohl an die fünfzigmal mochte der Schlichthobel auf- und niedergefahren sein, als Dores sich mit einem tiefen Seufzer streckte, die Schlängelchen abstreifte und eine Schnapsflasche aus der offenen Beilade hervorholte. Mit feinem Glucksen lief eine gehörige Portion des kristallklaren Feuerwassers hinter die wollene Jacke, die sich im Laufe der Jahre alle Kulören des Regenbogens zugelegt hatte.

Wohlgefällig sah er sich hierauf in seinem ›Kunsttempel‹ um, wie er seine Tischlerwerkstätte zu nennen pflegte, glitt mit fuselseligen Äugelchen die Wände entlang und nahm plötzlich die Hacken seiner Schlappantoffeln zusammen.

»Still gestanden! – Augen gerade aus!«

Militärisch fuhr die rechte Hand an die Mütze, und die Blicke bohrten sich in die gegenüberliegende Wand ein.

Dort waren verschiedene Bilder seines Sohnes mit Zwicken befestigt, drei Bilder auf Reihe, buntilluminierte Steindrucke in Neuruppiner Kunst, von denen jeder einen Soldaten darstellte, auf dessen Rumpf ein kundiger Winkelphotograph den Kopf des edlen Thyß Jansen aufgeklebt hatte: Thyß in gemütlicher Haltung, mit baumelnder Uhrkette zwischen den Rockknöpfen, ein Bierseidel stramm in der Hand; Thyß in voller Montur, den rechten Arm auf das Rad einer 15 cm-Ringkanone gestützt, im Hintergrund eine brennende Festung, wahrscheinlich durch den Kanonier Thyß Jansen zur Übergabe gebracht, und schließlich Thyß auf schnaubendem Hengst, mit ausgelegter Plempe über drei aufeinander gestapelte Schanzkörbe sprengend. Das waren doch Bilder, die das Herz höher schlagen ließen!

»Famoser Kerl!«

Er ließ die salutierende Hand wieder herunter.

»Rührt euch!«

Die ausgetretenen Schlappantoffeln gaben die Hacken frei, schlurrten auseinander und gingen wieder in Hobelstellung.

»Los denn dafür!« sagte Dores und gefiel sich aufs neue darin, den Laokoon, Sohn des Antenor, zu machen, als sich ihm ein aufdringlicher Duft nach Wachs und Weihrauch in die Nase hineindrängelte.

»Guten Abend, Herr Jansen.«

Da wandte sich Dores: »Aber ich bitte Ihnen, Herr Roloffs ...!«

Das letzte Hobelschlänglein drehte sich von der Werkbank herunter.

»Ja, lieber Freund,« sagte der Küster, »wir kommen in Sachen der Ehefrau Pulcher.«

»Kann es mir denken,« versetzte der Alte, indem er seinen breiten Daumen auf das eingespannte Brett drückte. »Allens hat seine Zeit: Leben und Sterben. Die übrigen Bretters sind schon fertig gerichtet. Auf dieses hier kommt der bleierne Christus. Was sonst dazu gehört, ist in Bestellung gegeben.«

»Aber wieso denn ...?«

Der Küster trat einen Schritt zurück. Da knirschten die Späne ganz sachte auf und versuchten es, sich an seinen Hosen emporzukringeln.

»Ich arbeite vor,« entgegnete Jansen in aller Gemütsruhe, »denn an den beiden Ostertagen ist doch kein richtiges Schaffen. Für die Längde habe ich so Propter und Prätorius ein Meter fünfundsechzig gerechnet.«

»Die Frau ist doch noch gar nicht gestorben.«

»Weiß ich. Aber spätestens morgen.«

»Woher wissen Sie das?« fragte der Küster. »Wir meinen, Sie können doch nicht so mit aller Bestimmtheit ...«

»Ich könnte allens,« erwiderte Jansen, und seine kleinen Schnapsäugelchen begannen unheimlich zu glimmen. Dann schlug er sich auf seine fadenscheinige Wolljacke: »Herr Roloffs, setzen Sie mir nackig in Indigo, und ich bin doch der Kerl, der ich bin. Sehn Sie, Herr Roloffs, in der vergangenen Nacht hat der Holzwurm so niederträchtig gepinkert. Und da höre ich zu, denn ich habe 'ne innere Beaugenscheinigung von dem infamen Gepinke. Pinkert er in die linke Wand, dann muß einer aus die Kesselstraße dran glauben. Pinkert's rechts oder hinter mir, dann muß der Bessemhuck oder die Hanselaererstraße einen Toten herausgeben. Nu hat's aber in die Wand gepinkert, die mir, wenn ich im Bett liege, immer so Propter und Prätorius ansieht, und da sagte ich mir: Dores, sagte ich mir, nu muß jemand auf die Hobelspäne, der um die Kirche herumwohnt, und das ist Frau Pulcher, denn immerst hat das Pinkern die veritable Wahrheit vermeldet. Das hab' ich nu Propter und Prätorius an vierzig Jahre hindurch ausprobiert und mir niemals in die Nesseln befunden.«

Damit knöchelte er mit dem gekrümmten Zeigefinger gegen die Werkbank, daß es einen wimmernden Ton gab, griff abermals in die Beilade und brachte wiederum die Schnapsflasche zum Vorschein, die er dem Küster anpräsentierte: »Darf ich mir erlauben, Herr Roloffs?«

Dieser wehrte mit beiden Händen ab: »Wir danken submissest.«

»Dann gestatten Sie wohl,« meinte Jansen und genehmigte sich ein herzhaftes Schlückchen, »denn die Sargschreinerei geht einem auf die Nerven, besonders wenn so'ne gute Bekannte in die eigene Arbeit hinein soll. Man hat doch auch ein Herz und keinen Häcksel im Leibe.«

Dores war einer der besten Kerle zwischen Xanten und Kleve. Die Sargtischlerei brachte ihm qualvolle und betrübte Stunden, und wenn er die schwarzen Bretter für einen Näherstehenden oder eine liebe Freundin herrichten mußte, dann geriet seine Empfindungsharfe in ein wehmütiges Klingen. So auch in diesem Augenblick. Erst tönte sie leise, dann lauter, bis sie schließlich so herzergreifend anschlug, daß sich Dores über die Augen wischen mußte, um seine trostlose Verfassung nicht offenkundig zu machen.

»Gott nee, die arme Frau Pulcher!« sagte er betrübt vor sich hin und sah dabei seine angefangene Arbeit so verzweifelt an, als sei er gewillt, dem verflixten Sargbrett die Pestilenz auf den Leib zu wünschen. »Immerst dieses traurige Wirken, immerst dieses Messen nach Längde und Breite! Da möchte ich ja lieber nackig in Indigo sitzen!«

Die Empfindungsharfe schlug stärker.

Dores schluchzte auf: »Und aus so was muß unsereins sich das tägliche Brot herauslangen. Nu wird auch die gute Frau Pulcher begraben!«

»Na, alter Herr,« sagte der Küster und wickelte sich dabei einen ellenlangen Span um den Finger, »suchen Sie nur einen anderen Dreh in die Sache zu kriegen. Was dem einen genommen wird, wird dem andern gegeben. Man muß mit den Dingen rechnen, wie sie nun einmal liegen. Hier wird getauft, und dort wird begraben. Uns kann's eigentlich egal sein, denn wir, die Schreinermeister und Küster, profitieren davon. Und was nun die Ehefrau Pulcher anbetrifft, da werden Sie recht haben. Die Frau tut's nicht mehr lange, und da Sie neben Ihrer Tischlerei noch das Amt eines Glöckners verwalten, so haben wir Ihnen im Namen des Herrn Dechanten eine Botschaft zu überbringen.«

Dores merkte auf. Er warf die klingende Seelen- und Empfindungsharfe beiseite und nahm mit einem hörbaren Ruck die Hacken seiner Schlappantoffeln zusammen.

Hierauf salutierte er, um die Botschaft durch den Mund des Küsters entgegenzunehmen.

Roloffs ließ seine schweren Lider herunter und hüllte sich in eine duftige Weihrauchwolke. Aus dieser sprach er, wie der Herr auf Sinai aus der Wetterwolke gesprochen hatte: »Sobald ich die kleine Meßglocke anschlage, gleichviel ob bei Nacht- oder Tageszeit, rufen Sie sämtliche Leute zusammen.«

»Was für Leute?«

»Die mit dem Glockenläuten zu tun haben.«

»Schön,« sagte Dores.

»Mit diesen begeben sie sich unverzüglich in das Turmportal.«

»Und dann?« fragte Dores.

»Das Weitere findet sich, nur: wir ersuchen um äußerste Pünktlichkeit.«

Dores legte die salutierende Hand auf die Brust: »Herr Roloffs, setzen Sie mir nackig in Indigo ... aber so Propter und Prätorius zehn oder zwölf Minuten wird's immerst dauern, bis wir antreten könnten. Eher könnte zum Beispiel der Schuster Kogeleboom aus seiner Werkstatt oder aus seinem ehelichen Bette nicht kommen.«

»Genügt,« versetzte der Küster, »aber bedenken Sie, Jansen: späteres Eintreffen dürfte für eine arme Seele verhängnisvoll werden.«

»Ach, die arme Seele!« seufzte Dores so recht tief aus seiner wollenen Jacke heraus und stemmte abermals den Daumen der rechten Hand auf das halbfertiggestellte Sargbrett.

Die Empfindungsharfe begann wieder zu tönen. Unter ihren Klängen verließ Roloffs die Werkelstube. Er ging wie auf Eiern und mußte sich bücken, um seine Enaksgestalt durch die niedrige Tür zu bugsieren.

Der ›Hobel le Beau‹ sah ihm mit feuchten Blicken nach. Sein Mitgefühl und der melancholische und doch alles verklärende gebrannte Korn machten sich wechselseitig den Rang streitig.

»Ein Meter fünfundsechzig Längde,« sagte stumpf und dumpf vor sich hin und griff wieder nach dem Handwerksgerät.

»Rietz!« machte der Hobel, und dieses infame und nichtswürdige Ziehen und Knirschen wollte nicht aufhören. Es dauerte ununterbrochen, bis die Sterne heraufblinzelten. Dann trat eine zweistündige Pause ein. Gegen zehn Uhr erleuchteten sich die blinden Fenster der Jansenschen Schreinerei. Der dunstige Schein einer hängenden Petroleumlampe legte sich quer über die Straße und warf unbestimmte Lichtflecken auf die gegenüberliegenden Häuser.

Der Nachtwächter, der um diese Zeit mit seinem weißen Spitz vorübergeisterte und die zehnte Stunde antutete, schüttelte nachdenklich die weitabstehenden Fledermausohren. Jetzt noch Licht, und das in der Werkstätte vom ›Hobel le Beau‹! – Das war gegen jede Satzung und Kleiderordnung und mußte im Kalender für Zeit und Ewigkeit rot vermerkt und doppelt und dreifach unterstrichen werden.

Jedermann wußte: Dores zählte nicht zu denjenigen Handwerkern, die lebten, um zu arbeiten, und die arbeiteten, um leben zu können. Er nahm Arbeit und Leben mit einem rührenden Gleichmut und einer grandiosen Pomadigkeit hin und benutzte die Nächte dazu, ein paar Dutzend Stuhlbeine offenen Mundes und mit einer bewundernswerten Hartnäckigkeit klein zu machen und auseinander zu schnarchen. Aber in dieser Nacht schaffte er. Unter Zuhilfenahme eines herumvagabundierenden Tischlergesellen, den er noch am späten Abend aufgefischt hatte, sägte und verdiebelte er, richtete er die einzelnen Bretter und fügte sie kunstgerecht nebeneinander. Gegen drei Uhr war die äußere Form im großen und ganzen zusammengeschreinert. Mit ihren schweren Verkröpfungen und stattlichen Zierleisten machte sie einen ganz annehmbaren Eindruck. Hierauf wurden die gedrechselten Füße, von denen Dores immer eine gehörige Portion auf Vorrat hatte, angeschraubt und die langen Flächen mit grobem Sandpapier eben gescheuert. Gegen vier Uhr stärkte sich Dores, gab auch dem Gesellen etwas ab und rührte in einem Bunzlauer Topf Firnis und schwarzen Lack zu einer breiigen, aber noch streichbaren Masse zusammen. Dann griff er zum Pinsel. Nach einer halben Stunde war die Sache erledigt, und jetzt sah man erst, was das langgestreckte Ding eigentlich vorstellen sollte. Nur der gegossene Christus, die Handgriffe und die sonstigen Beschläge fehlten noch, sonst war die traurige Arbeit ziemlich fix und fertig geworden.

Dores lohnte den zugewanderten Tischlergesellen aus, drehte die Petroleumlampe ab und kroch mit dem Bewußtsein, seine Pflicht getan und ein Meisterstück in die Welt gesetzt zu haben, in die sogenannte Traum- und Schlafkiste hinein und zog sich die molligen Posen über die Ohren.

Bald darauf befand er sich in den Gefilden der Seligen.

Auch der Docht in der Petroleumlampe, die noch kurz vorher die auf zwei Holzböcken ruhende Totenlade beschienen hatte, ging schlafen und verlöschte in seinem eigenen Qualm. – Noch einige Stunden – und grau und bleiern sah es durch die verwaschenen und mit Spinnwebnetzen austapezierten Scheiben. Die Helle nahm zu. Fröstelnd wurde sie größer und größer. Auch in der Werkstätte lösten sich die Gegenstände allmählich aus dem Dämmern und Dunkeln. Auf den beiden Sägböcken begann es zu blenkern. Der Schein wurde lebhafter. Das langgestreckte, schmale Ding mit dem erhabenen Deckel verlor seine Starre. Langsam schlug es die müden, schweren Lider auf, und mit verglasten Augen, mit einer fast hämischen Freude grinste der frischgefirnißte Sarg in den Karsamstagmorgen hinein, der langsam jenseits der großen Wiesenkoppel emporstieg.

Und dennoch wollte die eigentliche, allbefreiende Helle nicht kommen. Noch vor vierundzwanzig Stunden war die liebe Frühlingssonne mit glückseligem Lächeln über die Erde gegangen. Das hatte sich geändert. Der letzte Tag der Karwoche sah vergrämelt in die Häuser der Menschen hinein. Ein kalter, stetiger Wind wehte vom tiefen Westen her und trieb rauchige Dünste gegen die kleine Stadt an. Sie legten sich über die Dächer und ließen keine richtige Osterfreude aufkommen. Und doch stand Ostern vor der Tür, und alle Herzen öffneten sich, um die Auferstehung des Herrn zu feiern. –

An dem Hause Pitt Pulchers ging die Klingel nicht mehr. Man hatte den Klöppel umwickelt, um jeden unliebsamen Ton vom Lager der Kranken fernzuhalten. Auf Zehenspitzen sprachen die Nachbarn vor und erkundigten sich flüsternd nach dem Befinden der Frau. Es war ein ewiges Kommen und Gehen. Elisabeth Pulcher hatte Liebe gesät und Liebe geerntet. Das erfuhr sie in ihren schweren Stunden. Aber alle, die kamen, gingen mit verweinten Augen wieder nach Hause, denn ein Stiller, Großer, Gewaltiger stand vor der Schwelle, einer, der nicht friert und keine Wärme empfindet, einer, der nicht hungert und dessen Herz nicht Raum hat für Dinge, die sich mit dem irdischen Leben befassen. Niemand sah ihn von Angesicht zu Angesicht und konnte ihn sehen, aber alle fühlten seine aufdringliche Nähe. So stand er schon Stunde um Stunde. Er hatte nichts zu versäumen, und so wartete er denn, bis er eintreten durfte.

Um die dritte Nachmittagsstunde legte er die kalte Hand auf die Klinke, um sie niederzudrücken. Dann schob er das Ohr an die Tür. So horchte er lange. Es mochte noch zu früh für ihn sein; er gab die Klinke wieder frei und barg die Hände in die Ärmelfalten seines langen Gewandes.

Der Wind verstärkte sich im Laufe des Nachmittags. Immer dichter wurden die Kreppgardinen. Es hing wie Aschenregen in der Luft. Nur noch ein matter Schein drängte sich in das Krankenzimmer. Neben dem Bett stand eine brennende Wachskerze. Eine große Stille war zwischen den Wänden, zeitweilig unterbrochen von einem kurzen Schluchzen und dem kaum wahrnehmbaren Knistern des Lichtes, das eine zarte Vergoldung über die Kissen spreitete.

Die Türe zum Nebenzimmer stand offen.

Der Schatten Pitt Pulchers ging dort auf Lammfellsocken unruhig auf und nieder. Zwischen seinen Fingern wisperten gläserne Perlen. Monoton spielten sie gegeneinander, begleitet von einem murmelnden Sprechen. Pitt Pulcher betete den schmerzhaften Rosenkranz. Sein Gesicht war hart und ohne Bewegung, und seine Augen konnten keine Tränen mehr finden.

Von Zeit zu Zeit trat er an das Fußende des Bettes, beobachtete die Züge seines Weibes und nahm erneut seinen früheren Gang auf.

Als er zum fünften Male den Webstuhl passierte, wurde leise gegen eine Scheibe geklopft. Dann wiederholte sich das geheimnisvolle Klopfen.

Pitt Pulcher öffnete.

In dem Fensterrahmen stand ein stilles Gesicht.

»Wenn es erlaubt ist,« sagte eine weiche Stimme, »so möchten wir uns submissest die Frage erlauben ...«

»In einer Stunde vielleicht, vielleicht auch später ... Wenn Sie dann noch einmal nachfragen wollen.«

»Wir danken submissest.«

Lautlos schloß sich das Fenster.

Wieder tippten die gläsernen Perlen gegeneinander.

Die Kranke selber schien zu schlummern. Friedlich lag sie zwischen den Kissen.

Anna saß ihr zur Linken und nahm ihr von Zeit zu Zeit den Schweiß von der Stirne.

In den letzten Tagen hatte sich im Antlitz der Leidenden wenig verändert. Und doch war eine ruhige, zuversichtliche Klarheit über die einst so schönen Züge gekommen. Nur das Zittern der linken Hand hatte nicht nachgelassen, während die rechte in steter Ruhe verharrte. Sie konnte nicht anders, denn auf ihr lagen die heißen und zuckenden Lippen eines jungen Mannes in schwarzer Soutane, der neben der Bettlade kniete. Er trug Schnallenschuhe und das Gewand der Seminaristen. Auf dem Hinterkopf schimmerte der matte Glanz einer kreisrunden Tonsur, ein Zeichen, daß er bereits die niederen Weihen empfangen hatte.

Jetzt gab er die Hand frei. Das Haupt hob sich langsam, und die Lider erschlossen sich. Das Wachslicht beschien ein jugendliches Schwärmerantlitz, verhärmt, aber mit glühendem Ausdruck.

Seine Hand machte das Zeichen des heiligen Kreuzes; dann sprach er: »Wenn ihre zitternden und erstarrten Hände dein Kreuzesbild nicht mehr ergreifen und festhalten können, sondern gegen ihren Willen es hinfallen lassen auf ihr Schmerzenslager, dann, barmherziger Jesu, erbarme dich ihrer.«

Der Schatten Pitt Pulchers war näher getreten. Mit gefalteten Händen stand er am Fußende des Bettes.

»Wenn ihre verdunkelten und vom Todesschauer gebrochenen Augen einmal noch zu dir die matten und sterbenden Blicke wenden, dann, barmherziger Jesu, erbarme dich ihrer.«

Das Gebet war von einem seltsamen Wohllaut. Trotz des tiefen Jammers, der sich durch die Worte hinzog, lag eine Auferstehungsfreude in dieser Stimme.

Es berührte wundersam.

Die Kranke wandte das Antlitz und versuchte, die Hände zu heben.

Und wieder betete der Jüngling in der schwarzen Soutane: »Wenn ihre kalten und bebenden Lippen deinen anbetungswürdigen Namen zum letzten Male suchen und aussprechen, dann, barmherziger Jesu, erbarme dich ihrer.«

»Ja,« sagte der Alte, und es hörte sich an, als wenn er mit dem Himmel spräche, »dann, barmherziger Jesu, erbarme dich ihrer, denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen – und nur der Glaube macht selig.«

»Amen,« sagte der Kniende, und sein Haupt neigte sich wieder.

»Ah, Stephan, du bist es!« kam es kaum hörbar von den schmalen Lippen der Kranken. Ihr abgezehrtes Antlitz verschönte sich.

»Ja. Mutter, ich bin es.«

»Gut, daß du gekommen bist, Stephan,« und ihre rechte Hand erhob sich, um sich auf den Scheitel des Sohnes zu legen, »und ich danke dem Himmel, daß er mir eingab, dich Geistlicher werden zu lassen. Komm näher heran, Stephan – immer näher heran ... Du wirst durch dein heiliges Amt den Himmel versöhnen ... Du wirst meine Sünden hinwegnehmen ... die Sünde, die Sünde ...!«

»Mutter, Mutter ...!«

Pitt Pulcher beugte sich vor.

»Mutter,« sagte er fassungslos und rieb die Finger fröstelnd gegeneinander, »Stephan hat nichts zu vergeben, und du hast nichts zu bereuen. Du hast ja gelebt wie die Engel im Himmel. Du bist ja eine Heilige auf Erden gewesen. Das wissen wir alle, das wissen Anna und Stephan ... das erzählen sich ja die Lebendigen und die Toten im Grabe ...«

Liebevoll glitt er mit rauher Hand über ihre noch immer straffgescheitelten Haare: »Nein, Mutter, du hast nichts zu bereuen.«

Mit leisem Wimmern warf sie sich in die Kissen zurück, als sei sie gewillt, seiner Liebkosung aus dem Wege zu gehen: »Laß das, Pitt. – Ich bin deiner nicht würdig ...«

»Aber, Mutter ...!«

»Nein, ich bin deiner nicht würdig ...!«

Sie rang nach Worten. Dann horchte sie auf: »Was saust da so seltsam?«

»Das ist die Verheyensche Mühle. Der Wind sitzt dahinter.«

»Verheyen ...?! – Jakob Verheyen ...?!« – mit beiden Händen tastete sie nach der Hand ihres Mannes, und als sie diese gefunden hatte, preßte sie ihren heißen Mund auf die trockenen Finger: »Verzeih mir, Pitt, du mußt mir verzeihen, sonst kann ich das Sterben nicht finden. – Ich glaube« – und sie suchte in die Höhe zu kommen – »ich glaube, sein Weib ist um meinetwillen in den Tod gegangen. – Pitt, sei gut mit den Kindern, besonders mit Stephan – und du, lieber Gott, sei meiner armen Seele barmherzig!«

Kraftlos fiel sie zurück.

Pitt Pulcher streckte sich, wie von einer Kugel getroffen.

»Was ist das für ein Entsetzen im Hause?!« fragte er tonlos und sah sich um, als wollte sein klarer Menschenverstand auseinander.

Aber Anna war bei ihm. Weinend schlang sie die Arme um seinen Nacken.

»Vater,« ächzte sie, »ihr Geist folgt nicht mehr. Er ist in die Irre gegangen.«

»Ja, er ist in die Irre gegangen.«

Ein leises Weinen setzte ein, nur unterbrochen von dem Sausen des Windes und dem monotonen Gemurmel des jungen Klerikers. Alle Gegenstände verloren sich und nahmen etwas Verwaschenes an.

Wie eine bange Frage stand das matte Licht der Sterbekerze inmitten des Zimmers. Das Wachs tropfte ab und gab einen klingenden Ton auf dem Rande des Messingleuchters.

Die Sterbende schien wieder zu schlummern. Die Finger lösten sich aus ihrer Umstrickung. Sie waren ruhig geworden.

Plötzlich wachte die Kranke auf. Mit dem Aufgebot ihrer letzten Kräfte hob sie sich zwischen den Kissen. Die Augen dehnten sich maßlos. Das Starre in ihnen ließ nach. Der alte Glanz kehrte zurück. Er suchte umher. Einzeln sah er die Umstehenden an. Alle waren in die Höhe gefahren, auch Pitt Pulcher, auch der junge Kleriker. Es war ein Aufbegehren im Angesichte des Todes.

Pitt hatte den Arm um den Leib seines Weibes geschlungen. Der müde Kopf fiel gegen seine Schulter.

»Pitt,« wimmerte sie leise,»wo ist der Dechant ...? – Ich sehe ihn nicht. Er müßte doch kommen ...«

»Mutter, soll nicht der Vikar ...«

»Nein, der Dechant soll kommen.«

Sie stemmte sich gegen ihn an: »Sonst geht meine Seele betteln und hungern. – Pitt, jetzt reißt der große Vorhang auseinander! – Mein Gott, er reißt auseinander. – Was werde ich sehen ...? – Der Dechant ...! – Der Dechant ...!«

Sie sank wieder zurück: »Anna, schüttle das Kissen. – Du tust es nie mehr im Leben. – Der Dechant ...! – Der Dechant ...!«

»Ich gehe, ich gehe!« schrie Pitt und stülpte sich die Schirmmütze über. »Mutter, ich gehe.«

An der Hausschwelle stieß er auf den Küster: »Roloffs, nu ist's Zeit. Die Sterbelaken kommen herunter.«

Da wandte sich Roloffs.

Durch die Stille des Sterbezimmers aber klangen die Worte: »Wenn die letzten Seufzer des Herzens ihrer Seele gebieten, von dem Leibe zu scheiden, so nimm diese Seufzer als Wirtungen einer heiligen Ungeduld, zu dir zu gelangen – und darum, o barmherziger Jesu, erbarme dich ihrer.«

 


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