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1

Der Nebel kroch mit weichen, lautlosen Tatzen über die Spellner Heide bei Wesel.

Die Batterien, die sich in den mageren, mahlenden Sand über Manneshöhe eingefressen hatten, waren kaum voneinander zu unterscheiden. Nur die gelben Messingknöpfe vereinzelter Kugelhelme tauchen hier und da auf. Regungslos stehn sie in dem ziehenden Schwaden, verschwinden, um wieder mit stumpfem Leuchten in die Erscheinung zu treten.

Es mochte auf sechs gehn.

Alles ist schußbereit. Das westfälische Fußartillerie-Regiment Nr. 7 hat heute kriegsmäßiges Schießen.

Hinter den Batterien, kaum tausend Schritt von der ersten Staffel entfernt, träumt das Lager noch zwischen seinen gekappten Akazien. Nichts ist zu sehen. Alles ist mit weißen Wattebauschen umkleidet.

Vor den Geschützen das ewige Ziehen von Straminfäden und eisgrauen Tüchern ... ein mächtiges, undurchdringliches Chaos. Die Ringkanonen und Bronzegeschütze gähnen ins Leere, ins Nichts, in das gespenstische Treiben eines Hexenkessels. Kein Polygon erscheint, keine Ziele werden sichtbar; überall das brodelnde, gleichmäßige Weben und Fließen, in dem die Geräusche wie auf Baumwollsocken einhergehen.

Dann ferner Galoppschlag. Dumpf und hohl klingt er auf dem Heideboden. Wie Schemen sprengen die Reiter durch den fadigen Dunst. Sie kommen vom Lager und nehmen Richtung auf den rechten Flügel der Stellung. Eine silberne Schärpe leuchtet undeutlich auf. Der Regimentsstab ist in die erste Staffel geritten.

Noch immer keine Fernsicht!

Der Wind liegt wie ein Hund am Boden.

In dem taufrischen Heidekraut ist nicht die geringste Bewegung.

Plötzlich hebt er sich auf. Er schnuppert. Er weiß noch nicht recht, wohin er sich wenden soll. Bald hierhin, bald dorthin. Dann streicht er leise nach Westen ab.

Die dritte Batterie vom rechten Flügel wird von Hauptmann Liese befehligt, von den Kanonieren allgemein ›unser Lieschen‹ geheißen – ein gerader Mann, scharf, aber gerecht und mit Augen, die an die stille Herzensgüte eines Kindes erinnern. Den ausgezogenen Krimstecher auf der Brust, die Hände in den Manteltaschen vergraben, sucht er vor sich Terrain zu gewinnen.

Seine scharfen Blicke bleiben im Nebel hängen, nisten sich ein und kommen nicht weiter.

»Denn nicht,« sagt er still vor sich hin, verläßt den Beobachtungsstand und geht die nicht traversierte Batterie ab. Sechs eiserne Mörser auf Reihe! Wie dickleibige Ungetüme mit offenem Rachen kauern sie hinter den aufgetürmten Schanzkörben, jeden Augenblick fertig, ihre scharfgeladenen Bomben ins Vorgelände zu werfen.

Der Hauptmann lächelt; er ist zufrieden und sucht wieder den Beobachtungsstand auf.

Der Wind wird stärker. Aus der nahegelegenen Kiefernschonung kommt ein verhaltenes Rauschen herüber. Im Heidekraut beginnt es zu knistern wie in brennendem Reisig.

»Gefreiter Verheyen!«

Am zweiten Geschütz reckt sich ein junger Mann – schnittig und sehnig, das blonde, leichtgekräuselte Bärtchen keck nach oben gezwirbelt – und nimmt die Hacken zusammen.

»Herr Hauptmann!«

»Woher kommt der Wind?«

Der angefeuchtete Zeigefinger des Gefreiten fährt in die Höhe.

»Von Osten, Herr Hauptmann.«

»Danke.«

Die Kiefernschonung wird lauter. Feine Sandkörner stieben über die Brustwehr. Streifen abgerissenen Nebels gleiten vorüber. Große Fetzen werden aus den grauweißen Tüchern gesäbelt.

Vor der Front ist ein Flattern und Fliegen. Ein Stück tiefblauen Himmels blitzt auf. Noch hängt die Sonne kränklich am Himmel, aufgedunsen, ohne Glanz und Leben. Dann kommt Farbe hinein. Die Spitzen des Polygons treten in Sicht. Die scharfen Profilierungen des Werkes schieben sich vor; Glacis und Wallgang erscheinen. Noch ein letztes Kämpfen und Ringen – und wie von einer Riesenhand gekämmt, werden die Wattebausche beiseite geschoben.

Die stille Heide rollt sich auf in ihrem Spätsommerschmuck – purpurn – ein flammender Blütenrausch ohne Anfang und Ende.

Wie gelbe, langgestreckte Maden liegen die Ziele in diesem prächtigen, purpurfarbigen Teppich. Gottes Sonne flutet darüber hin und weckt auf den Kugelhelmen ein Blitzen und Leuchten.

›Unser Lieschen‹ atmet auf.

»Na – endlich!«

Er macht sich lang und hebt den Krimstecher.

Seinetwegen kann es losgehn.

Für seine Kanoniere auch.

Heute gilt's! – es ist kriegsmäßiges Schießen.

Aller Augen sind auf den Hauptmann gerichtet.

In diesem Augenblick geht die Regimentsflagge hoch. Die anderen folgen. Wie ziegelrote, scharfumrandete Flecke stehen sie in dem ehernen Himmel.

Dann ein scharfes Signal, schmetternd und hell wie Pferdegewieher: »Mit Granaten geladen! Vom rechten Flügel langsames Feuer!«

»Bum–m–m!«

Die erste Ringkanone rüttelte sich, machte einen tiefen Diener, schlug mit dem Bodenstück gegen das Lager der Richtmaschine und rasselte in ihre vorige Stellung zurück. Wie dumpfes Stiergebrüll ging ihr Ruf über die Heide. Der Boden zitterte, und zwischen den Schanzkörben war ein Rieseln und Rinnen. Geschütz und Bedienung standen in einem zähen Pulverrauchmantel, aber in diesem Mantel war ein Singen und Klingen. Mit einem feinen Vogelgezwitscher schnitt sich die Granate durch die flimmernde Luft. Am tiefen Horizont ein rauchschwaches Wölkchen! – Dann ein Krachen und Brechen! – Das Geschoß hatte seine Arbeit geleistet.

»Zweites Geschütz, Feuer!«

Wieder das Stiergebrüll, das Rasseln und Singen, und dann rollte es auf der ganzen Linie, betäubend und doch von straffen Händen geleitet.

All diese stählernen, bronzenen und eisernen Tiere waren gierig geworden. Die schwere Artillerie machte Musik, eine Musik, die das Herz höher schlagen läßt und die Augen blanker macht. Die Scheiben im Barackenlager klirrten davon. Bis weit über den Rhein und die Lippe fort hörten es die drüben im Lande.

Die Batterie Liese hielt das Ziel II unter Feuer. Wie wilde Hunde belferten die eisernen Mörser – kurz, gellend und die Ohren zerreißend. Bombe um Bombe, den feinen Rauch des brennenden Säulenzünders hinter sich herziehend, steilte sich auf, um dann mit hohem Bogen und scharfem Einfallwinkel in die lange, gelbe Linie am tiefblauen Waldrand zu schlagen.

Unentwegt, den Krimstecher am Auge, stand ›Lieschen‹ auf Posten.

Dann ging er mit der Ladung zurück.

Wieder kläfften die eisernen Hunde.

Der Hauptmann schmunzelte.

Das zweite Geschütz machte unter seinem Führer, dem Gefreiten Verheyen, abermals Dampf auf.

»Ting!« rief der Mörser, und dann ein Turteln und Einschlagen.

»Bravo, das zweite Geschütz!«

Der Batteriechef ließ das Glas herunter.

Die Pulverkammer der Zielbatterie war in die Luft geflogen. Eine schwarze, kompakte Rauchwolke strebte gen Himmel.

»Gratuliere, Verheyen!«

Der also Geehrte warf sich in die Brust, ließ wieder richten und summelte zwischen den Zähnen:

»Wo immer der eiserne Mörser kracht –
Nehmt euch vor dem schwarzen Kragen in acht.«

Sein Herz pochte unter dem mit Pulverschleim überzogenen Kittel.

Stunde um Stunde verrann. Langsames Feuer wechselte mit stärkerem und Schnellfeuer ab. Hin und wieder war eine Salve dazwischen.

Die Sonne stand fast scheitelrecht über der zitterigen, flimmernden Landschaft. Rings von violblauen Rändern umschlossen, lag die weite Ebene wie unter dem Zauber von blutenden Rosen. Das Heidekraut schwelgte in seinem Hochzeitskleid, und jede Blüte wandte sich der heißen Sonne entgegen. Manche verhauchte unter dem polternden Hufschlag und dem Granatfeuer.

Adjutanten sprengten ab und zu und brachten neue Befehle.

Und wieder war eine Stunde vergangen. Überall rauchgeschwärzte Gesichter. Der Schweiß perlte von den Stirnen herunter, rann über die Wangen und verfing sich in den angelaufenen Schuppenketten. Dampf und Qualm! – plötzlich durchschnitten von einem neuen Signal: »Jede Batterie feuert für sich! Feuer konzentrieren gegen den Hauptwall!«

Erst Totenstille. Dann erneute sich das taktmäßige Heulen der Flachbahngeschütze und das helle, infernalische, kurzabgebrochene Tinken der Mörser.

Der Wind flaute ab, kroch zurück, lag wieder am Boden. Die Hitze stopfte die Pulverwolken in die Stellungen hinein. Kaum war noch eine Hand vor Augen zu sehen.

»Erstes Geschütz, Feuer!«

Das Kommando kam aus der Batterie Liese. Die letzte Lage sollte durchchargiert werden. Der Mörser sprang auf – ein Blitzen, ein Krachen ... Dann aber, als wäre die letzte Stunde gekommen, fiel eine Rauch- und Feuersäule über die Bedienungsmannschaft her. Eine Sandmasse folgte, begleitet von einem Brechen und Klingen. »Himmel, Gewitter noch mal! – Was los ...?!«

Entsetzte Gesichter ... Es war etwas passiert. Anstatt ihren Steilflug über die Brustwehr zu nehmen, war die Bombe des ersten Geschützes, und zwar durch Herausspringen der Richtkeile, gegen die federnden Schanzkörbe der Bekleidung geschlagen. Von hier aus klirrte sie mit einem nervenerschütternden Schrei in den stahlblauen Himmel gerade hinein, senkrecht, wie an der Lotschnur kletternd, das feine Sausen und Zirpen des brennenden Zünders hinter sich lassend.

Schnurgerade stieg der Tod in den Himmel, senkrecht mußte er wieder herunter, während die anderen Batterien ahnungslos ihre Granaten und Schrapnells versandten.

Das Unglück hing über den Leuten.

Das sah der Hauptmann.

»Nieder!«

Das Kommando streckte die erbleichte Mannschaft wie gemäht auf den Boden.

Hier konnte nur der Zufall retten und helfen.

Zwei Sekunden, drei Sekunden ... Über den Mörsern war ein Knattern und Heulen, dann ein haltloses Stürzen. Mit dumpfem Ton war die Bombe zwischen die Geschützstände getaumelt. Der Tod neben der Mannschaft! – Der Zünder zischte wie ein giftiges Reptil. Ultima ratio ...! – Der Führer des zweiten Geschützes, Gefreiter Verheyen, sprang auf ... packte zu ... und mit verzweifelter Kraft warf er das eiserne Tier, die Todbringerin, über die Brustwehr.

Sein Atem stürmte.

Zwei Sekunden später – und er wäre eine einzige blutige Masse gewesen. Jenseits der Brustwehr, im Graben, zerplatzte die Bombe.

Ein Aufatmen wie nach einer himmlischen Botschaft! Der Tod war vorübergegangen.

Als der Rauch sich verzog, stand der Batteriechef neben Verheyen. Er hielt die Hand des Gefreiten und drückte sie.

»Bravo, Verheyen.«

Seine Stimme zitterte.

Gleich darauf schmetterte es vom rechten Flügel der Stellung her: »Das Ganze halt!«

Die Flaggen senkten sich. Das kriegsmäßige Schießen war für heute beendet. –

Eine Stunde nachher erging an sämtliche Batterien der Befehl: »Heute nachmittag fünf Uhr hat das Regiment mit eingestellten Spielleuten und Burschen, rechts und links zum Kreise formiert, Aufstellung vor der Stabsbaracke zu nehmen. Anzug: Paradeanzug.«

Dann Mittagsstille und Ruhe! Nur die Kugelakazien zwischen den Lagergassen rauschten leise im Wind. Unbewegliche Wolkenballen, rosig übermalt und blankgescheuert wie kupferne Kessel, grenzten den tiefen Horizont ab. Unter ihnen träumte der Schießplatz, eingebettet zwischen Ginsterbüschen und Erika und eingeduselt von dem monotonen Schleifen und Wetzen unzähliger Grillen. Es schien, als habe die jetzt so friedliche Heide nie in ihrem Leben Granatfeuer gespürt und Pulver gerochen – so still atmete sie, so bräutlich war sie geschmückt und so feierlich stieg von ihrer Brust eine jubelnde Lerche in den Abendhimmel hinein.

Von Spelln tönte das dünne und spitze Stimmchen einer Turmuhr herüber.

Das Regiment stand in der befohlenen Stellung, in weißem Lederzeug und mit heruntergelassenen Schuppenketten.

»Still gestanden!«

Mit dem Schlage fünf trat der Oberst, von seinem Adjutanten begleitet, in den geschlossenen Ring.

In der Mitte hielt er den Fuß an.

»Gefreiter Verheyen!«

»Hier!«

»Vortreten!«

Der Angerufene sprang vor, dicht vor den Regimentskommandeur.

Ein blaues, offenes Auge blitzte in das des Obersten.

»Woher sind Sie, Verheyen?«

»Aus Calkar am Niederrhein.«

»Dasselbe Calkar, wo General Seydlitz geboren wurde?«

»Zu Befehl, Herr Oberst.«

»Na, drum auch,« und der Blick des Kommandeurs lief die Kugelhelme entlang, die ihn in schmucker Kreislinie umstanden.

»Artilleristen!« also klang seine helle, kurzabgerissene Stimme über das abendliche Heideland. »Der Soldat kennt keine Gefahr. Wo es auch sein mag, im Krieg oder im Frieden, zu Wasser oder zu Land, stets hat er ihr ins Auge zu sehn und ihr mannhaft zu begegnen, selbst unter Hintansetzung seines eigenen Lebens. Das ist heute geschehn. Einer der Euern hat im entscheidenden Augenblick Bravour und Entschlossenheit gezeigt und auf diese Weise das Leben vieler seiner Kameraden gerettet. Wie hier, so wird er auch auf dem Schlachtfelde handeln. Solche Artilleristen kann der König gebrauchen. Dessen zur Ehrung ernenne ich ihn zum Obergefreiten. Das weitere findet sich noch. Darüber wird der oberste Kriegsherr entscheiden. Ich gratuliere, Verheyen.«

Mit einem kurzen Ruck schnellte die rechte Hand an den Helmschirm.

Das Regiment war entlassen. –

Die Batterie Liese steckte sich an diesem Abend frischgrüne Eichenbrüche an die Mützen, setzte sich mit propern Drillichjacken unter die Akazien ihrer Baracke und ließ mit behaglichem Schmunzeln ein Fäßchen Freibier über sich ergehen, das der neue Obergefreite spendiert hatte. Alle belobten ihn, alle traten mit geschmalzten Haarsechsen und blankgewichsten Stiefeln an ihn heran und ließen ihr Glas gegen das seinige klingen.

»Allerhand Achtung, Hermann!«

»Hermann, das hast du nobel gemacht!«

»Hermann, 'nen Ganzen!«

»Da kann sich einer ein Muster daran nehmen!«

»Richtig!« konstatierte eine langsame Stimme, und eine Enaksgestalt hielt ihm das Glas hin, eine Enaksgestalt mit einem gutmütigen, breiten Gesicht, als wäre es aus einem Hohlspiegel auf die Drillichjacke gepurzelt. Der freundliche Mund, in dessen linker Ecke ein Zigarrenstummel klebte, war wie ein Gummipfropfen auseinandergezogen. Darüber saß eine putzige Nase, wie aus einer kleinen Kartoffel gedrechselt, gehoben durch ein brandrotes Schnurrbärtchen, und die mit Sommersprenkeln austapezierte Hand, die sich jetzt schwer und wuchtig auf den Arm des neuen Obergefreiten legte, war mit ebensolchen brandroten Härchen besetzt, von denen jedes mit einem perlenden Schweißtröpfchen aufwarten konnte.

»Thyß Jansen will reden,« lachte der Batterieschreiber herüber.

»Tu' ich, jawoll,« versetzte Thyß Jansen, »denn Hermann und ich haben auf derselben Schulbank gesessen. Was, Hermann?« und dann sprach er so recht tief aus der frischgewaschenen und nach grüner Seife duftenden Drillichjacke heraus: »Hermann, ich freue mir kolosal, daß du als mein näherer heimatlicher Landsmann so mächtig nobilistert worden bist – Außerdem tu' ich's in die Heimat vermelden, daß unsere Landsmänner 'nen richtigen Begriff von deiner barbarischen Forsche bekommen. Hermann, es gilt.«

Der Obergefreite tat ihm Bescheid, zwirbelte sein Bärtchen, sprang auf den nächsten Schemel und rief mit erhobenem Seidel über die Köpfe der Kameraden fort: »Auf das, was wir lieben. Die Batterie Liese soll leben!«

Und »Hoch!« ging das in heller Begeisterung durch die Reihen der jungen Vaterlandsverteidiger, »und nochmals hoch und zum dritten Male hoch!« – und Hermann winkte allen zu und bestellte ein neues Fäßchen aus der Kantine. –

Die Sterne hingen längst mit sanftem Blinzeln am Himmel. In den Baracken waren die Petroleumlampen erloschen. Die letzten Klänge der Retraite irrten noch wie zerfaserte Bänder über die stille, endlose Heide. Dann verhallten auch diese. Kaum hörbar gingen die Schritte der aufgezogenen Posten durch die mit Mondschein angefüllten Lagergassen. Der Sand unter ihren Füßen zwitscherte wie halbflügge Meisen – bald näher, bald ferner, um stärker und leiser zu werden.

Im westlichen Giebelfenster der fünften Baracke war noch Licht. Hier saß Thyß Jansen unter dem Schein einer tiefhängenden Schirmlampe, eifrigst damit beschäftigt, die letzten Zeilen eines in harter Arbeit niedergelegten Briefes zu Papier zu bringen.

Um ihn war harmonisches Schnarchen, bald schüchtern und mit dem feingesponnenen Ton einer sanftangestrichenen G-Saite, bald mit dem sonoren Klang eines kräftigen Bombardons, das mit ungeschmälerter Kraft durch die schnurgeraden Bettreihen lärmte.

Hierdurch ließ sich Thyß Jansen keineswegs beirren. Mit ungelenker Hand und die Zungenspitze in die linke Mundecke geschoben, setzte er die Buchstaben nebeneinander, tunkte er ein, schraubte er von Zeit zu Zeit den qualmenden Docht höher, um mit einem tiefen Seufzer die Feder beiseite zu legen und das Geschriebene nochmals zu überdenken. Dann las er:

»Vielgeliebde Eldern!

Ich thu Euch pflichtschuldigst zu wissen, daß ich mir auf Posten befinde, aber nicht in voller Mondur, sondern man blos in 'ner Drillingjacke und vor 'nem Bogen Postbabier. Aber ich nehm mir das Briefschreiben auch als Postenstehen an, weil es nachtschlafende Zeit ist und ich gewissermaßen mit 'ner Briefschreibfeder herumbadrulliere. Es is nicht for mir, daß ich solches vermelde, sondern es is for Hermann Verheyen, daß ich damit an das allsehende Goddeslicht rücke. Vielgeliebde Eltern, wenn Ihr mal wieder 'ne schöne Schlackwurst besitzet, so laßt es mir wissen, denn wir Artolleristen können so was immer gebrauchen. Hermann Verheyen nämlich ist heute ein richtiger Artollerieheld geworden, indem er, wie unser allergnädigster Herr Oberst gesagt hat, unter Wegschmeißung seines eigenen Lebens die ganze Batterie vom Tode erlöst hat. Vergeßt aber nicht bei Übersendung der Schlackwurst eigene Angelegenheit des Empfängers zu setzen. Und daher mußten wir in voller Mondur antreten, das heißt in kumplettem Lederzeug und die Schuppenkedden herunter, und da hat ihn unser allergnädigster Herr Oberst zum Obergefreiten erhoben und auch durchleuchten lassen, daß da noch was Schöneres nachkommen thäte. Das aber wäre Sache des obersten Landesvaters. Möglich, daß solches der Schwarzweiße Adlerorden bedeutet, was das glorreichste Zeichen ist, was wir in Breußen besitzen. Vielgeliebde Eldern, es können auch drei Schlackwürste sein, wenn es Euch nicht zu viel Mühe bereitet, aber unsere Batterie Liese befindet sich in einem erhabenen Zustand. Und daher thue ich Euch nochmals pflichtschuldigst zu wissen, daß Ihr überall vermelden sollt, was wir aus Calkar am Niederrhein for 'nen berühmten Artolleristen besitzen – und dieser benennt sich Hermann Verheyen. Solches wird seine Familie erfreuen, denn er hat sich kolosal in Schwung gebracht und uns alle mit sogenannten sauren Lorbeerblättern umkleidet. Vermeldet auch solches an Fräulein Anna Pulcher, denn sie ist ihm in Liebe unterthänig und kann sich an seine männliche Forschheit erfreuen. Auch die übrigen Landsmänner müssen es wissen, denn solche Heldenthaten hat nur noch unser General Seydlitz, der in Calkar verposamentiert ist, verunstaltet. Vielgeliebde Eldern – und nu lebt wohl, denn nu habe ich alles genau und wie es sich zugetragen hat zu nachtschlafender Zeit, und auf Posten ohne volle Mondur niedergeschrieben. So nehme ich denn hiermit meinen gehorsamsten Abtritt, indem ich in der Hoffnung verbleibe, daß Ihr mir fünf oder sechs Schlackwürste zuweisen werdet, um meine Nothdurft zu fröhnen. Es kann auch eine mittlere Speckseite dabei sein. Hiermit beschließe ich meinen Postbrief und unterfertige mich pflichtschuldigst als Euer theurer und wohlgerathener Sohn

Thyß Jansen, nunmehriger Kanonier im westfälischen Fuß-Artollerie-Regiment Nummer 7, stationisiert im Schießlager Spelln bei die Festung Wesel am Rhein.

Nochmals meinen gehorsamsten Ausdruck. Denkt aber an Anna Pulcher, besonders von wegen Hermann Verheyen.

Thyß Jansen.«

Damit klebte er zu und schrieb die Adresse. Thyß Jansen war fertig.

Nebenan träumte Hermann Verheyen unter seiner blau- und weißgewürfelten Decke. Seine Seele spannte die Flügel und flog in die Heimat. Dabei sang sie aus dem blauen Himmel herunter:

»Zweierlei Tücher,
Schnurrbart und Sterne
Lieben die Mädchen
Alle so gerne.
Warum?
Ei dar–um ...«

Inzwischen war auch der Briefschreiber auf den Strohsack gekrochen, steckte den Kopf vor und sah dann, wie die Hängelampe noch einmal aufzuckte und hierauf mit einem dünnäsigen Seufzer die Augen zumachte. Gleich darauf sägte er an einem harten Stuhlbein herum, bis das Sägen zart und melodisch wurde. Es erinnerte an den weltfernen Ton einer Glasharmonika, die aus den Gefilden erklang, wo die Seligen wohnen.


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