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Inzwischen waren Monate vergangen. Die Heide blühte ab und zog ein Sterbekleid über. Der Rhein stöhnte unter dem klirrenden Eis, um dann wieder als ein freier Strom weiter zu fließen. Die vom Niederrhein taten das Stroh aus den Holzschuhen und schnupperten wie die Igel in dem laulichen Wind, der den Saft in Bast und Borte trieb und die hartgefrorenen Erdschollen langsam zermürbte. Wer Ohren hatte, zu hören, der konnte es hören: unter den Bocksdornhecken begannen die ersten Schneeglöckchen zu klingeln, aber so fein wie die Eiszapfen singen, wenn die kalten Sterne am tiefblauen Himmel erfrieren wollen.

Allein die Menschen in der kleinen niederrheinischen Stadt, von deren Turmspitze man weit in das klevische Land hineinsehen konnte, bis nach Emmerich und Elten zu, hörten kaum auf das köstliche Klingeln der Schneeglöckchen, denn noch immer lag ihnen das schwere Donnern und scharfe Tinken der Geschütze und Mörser in den Ohren, die im verflossenen Spätsommer so herrisch auf der Spellner Heide gearbeitet hatten.

Der Brief, den Thyß Jansen seinerzeit an seine Eltern gerichtet, war wie ein heiliges Himmeldonnerwetter in die sonst so stillen und nachdenklichen Köpfe der Kleinstädter und Niederungsbauern gefahren. Nun hatte auch die schmucke, von Wiesen und Äckern umsäumte, versonnene Stadt ihren Helden, nun hatten auch die Bürgersleute ihren Lorbeer, den sie sorgfältig pflanzten und tagtäglich mit frischem Brunnenwasser versorgten. Auch Thyß Jansen bekam etwas davon ab. Die geheimnisvolle Andeutung mit dem Schwarzweißen Adler ließ doch einen eigenartigen Fernblick erraten und eröffnete Gesichtspunkte, die ernstester Betrachtung wert erschienen. Manche jubelnde Lerche, die wie ein Pünktchen zwischen Erde und Himmel schwebte, mußte es sich gefallen lassen, zu einem stolzen Vogel zu werden, und wenn eine Dohle oder eine vagabundierende Krähe langsamen Fluges vorbeiruderte, wähnte manch einer, nun käme der heißersehnte Schwarzweiße Adler mit majestätischem Flügelschlagen herunter. Die mannhafte Tat auf der Spellner Heide zog immer weitere Kreise.

Nur einer blieb ruhig. Das war der Obergefreite Hermann Verheyen. Er freute sich seiner Tat, aber diese Freude blieb in gemessenen Grenzen. Das noch abzudienende Jahr lag freundlich vor ihm. Frischen Mutes und sonnigen Herzens erfüllte er seine militärischen Pflichten und dachte kaum noch an die ihm überkommene Ehrung. Dafür aber ließ sein Vater, der begüterte Mühlenbesitzer Jakob Verheyen, die harten Speziestaler auf den Wirtshaustisch knallen, spendierte allsonntags etliche Bouteillen ›Langkork‹ und wurde dabei nicht müde, dem Ruhm seines Sohnes immer frischen Wind unter die Flügel zu blasen.

Jakob Verheyen, ein Mann in den fünfziger Jahren, rank und sehnig gewachsen, mit sieghaften Manieren und herrischen Falkenaugen, hatte es verstanden, das Glück an sich zu fesseln und seine Unternehmungen so zu fundieren, daß sie trotzig und selbstsüchtig in den Himmel hineinwuchsen. Sein Name hatte guten Klang in der ganzen Umgebung. Als Freund gesucht, als Kirchenmeister gefürchtet, hatte er aus kleinen Anfängen Großes, ja Bedeutsames geschaffen und die stattliche Mühle in die Luft gehoben, die jetzt als Wahrzeichen der kleinen Stadt die weite Niederung beherrschte und bis spät in die Nacht hinein mit ihrem Segeltuch schlappte und mit feurigen Augen über die schlafenden Ziegeldächer geisterte.

Tagtäglich stand er auf dem Umgang seiner Mühle und sah in die Landschaft und dachte dann, wie er früher Kornsäcke geschleppt und für fremde Taschen seine Knochen zu Markt getragen hatte. Das war jetzt anders geworden, ganz und gar anders, denn nunmehr führte er das Heft in Händen, war sein eigener Herr und der wackere Schmied seines eigenen Glückes. Er hielt es mit eisernen Fäusten, und er freute sich dessen, und als zu dieser Freude noch die über den unerschrockenen Mut seines einzigen Sohnes hinzukam, da hörte Jakob Verheyen, der Mann mit dem stählernen Willen und der undurchdringlichen Seele, die Engel im Himmel geigen.

Und noch eine hörte sie geigen, lieblich und verheißend und wie ferne Glocken über dem Walde, die hoffnungsfreudig das Fest der Ostern einläuten.

Und das war Anna Pulcher, die Tochter Pitt Pulchers, die so eigenartig und schön war, daß die Kinder der kleinen Stadt sie wie ein überirdisches Wesen verehrten.

* * *

Mit aller Macht kam der Frühling über das niederrheinische Land. Da rasselten die Anker in den Werften, und die schweren Kohlenschiffschlepper zogen prustend und stampfend die quirlende, bleigraue, sich übereinanderschiebende Rauchstandarte hinter sich her. Dämme und Deiche streckten sich und geboten dem trüben Stauwasser: »Bis hier und nicht weiter,« und dann leuchteten sie auf wie helle, schwefelgelbe Feuerstreifen, denn das Frühjahr hatte zahllose Teppiche von blühenden Dotterblumen über die hängenden Flanken gespreitet. Und die ersten Finken schlugen, und die Stachelbeersträucher glitzerten wie feinmaschige, smaragdgrüne Musselinschleier.

Und da solches geschah, da ging der Vater Annas, der achtbare Webermeister und Stadtverordnete Pitt Pulcher, mit brennender Kalkpfeife auf den Paternosterdeich, der die Stadt mit sehnigen Gelenken und sicheren Schleusenwerken einkreiste, und sah, wie in weiter Ferne die wieder aufgewachten Schleppschiffe ihre bleigrauen Straußenfedern hinter sich ließen. Und er ging bis zur ersten Dammkreuzung und sah, wie tausend und aber tausend Blumen ihre leuchtenden Augen aufschlugen. Und dann ging er, ein schönes Stück Hoffnungsfreude im Herzen, wieder nach Hause und sah in das wehe und leidensvolle Gesicht seines Weibes – und ging in den kleinen Garten – und hörte die ersten Buchfinken schlagen – und freute sich über die feinmaschigen, smaragdgrünen Musselinschleier der Stachelbeersträucher – und da sagte Pitt Pulcher: »Nu wird die ersehnte Erfüllung meines Wunsches wohl kommen.«

Aber die Erfüllung seines Wunsches stand noch in weiter Ferne und ließ auf sich warten. Und dennoch hoffte Pitt Pulcher. Er hoffte, wie die Irdischen die Anschauung Gottes erhoffen. Er hoffte auf eine große Verheißung. Er hoffte wie eine junge Kinderseele auf das heilige Christfest; und das heilige Christfest mußte bald kommen, sonst zerrieselte ihm alles zwischen den Händen, wie Sand zwischen den Fingern zerrieselt.

Tagtäglich sprach der Doktor vor, und jedesmal, wenn er kam, stand ein zuversichtliches Leuchten auf seinem guten Gesicht. Und dieses Leuchten hielt an, bis er die Tür hinter sich hatte und der Drücker einklinkte. Er pfiff auch wohl eine heitere Melodie und zwar so laut, daß die Kranke es hören konnte. Dann aber verstummte das Pfeifen, und alle Zuversicht wischte eine unbarmherzige Hand von seinem Antlitz.

»Ich kann ihm nicht helfen,« sagte er still vor sich hin. »Keiner vermag ihm zu helfen. Pitt Pulchers Hoffnung geht nicht in Erfüllung.« –

Schon seit langen Jahren erfreute sich Pitt Pulcher eines bedeutsamen Ansehns. Alle grüßten ihn, und das mit Respekt, und wenn irgendeiner aus der Nachbarschaft einen guten Rat nötig hatte, sprach er nicht etwa beim Barbier oder beim juristischen Ferkelstecher vor, sondern wandte sich, ohne lange zu fragen, an jenen. Las der betagte und bereits etwas verlähmte Dechant Heinrich van Egern das Hochamt, dann stand Pitt Pulcher in seiner ganzen Größe und mit feierlichen Augen in seinem Kirchenstuhl, als habe ihn der liebe Herrgott direkt aus der Bibel in die neuzeitlichen Tage hineingepflanzt – so alttestamentlich sah er aus, so würdig und ehrfurchtgebietend, so mit echter Würde und Weihe umkleidet, daß sich die gläubigen Menschen heimlich anstießen und sich wechselseitig zuflüsterten: »Pitt Pulcher kann unbesehen in den Himmel hineinspazieren.«

»Das stimmt,« setzte dann auch Dores Jansen, der Vater von Thyß, pflichtschuldigst hinzu: »Von seinetwegen könnte man den Mann nackig in Indigo setzen; als ein nobeler und reicher König käme er jedesmal zurück. Aber ich meine nicht als ein König mit Reichtümers und Brillanten behangen, sondern als ein König mit 'nem reinen Zepter und mit 'nem echten und rechten christ-katholischen Glauben.«

Und Dores Jansen, der Sargschreiner, wegen seiner tief herabhängenden Schulter und des schiefen Mundes halber auch der ›Hobel le Beau‹ geheißen, hatte durch die obige Behauptung den Nagel ganz regelrecht auf den Kopf geschlagen, denn Pitt Pulcher war ein frommer, spurechter Katholik, ohne Nebengedanken, blank wie eine Pflugschar, die drei Wochen hintereinander die fetten Schollen gebrochen. Sein Gewissen hatte nie etwas Schwarzes unter den Fingernägeln.

Er marschierte bereits den siebziger Jahren entgegen. Aber was wollte das bei ihm sagen? Hager und riemig gewachsen, zäh wie Spaltholz, hätte er es auch tapfer mit einem geschonten Fünfziger aufnehmen können. Gewiß, seine Haare zeigten schon hier und da einen eisgrauen Anflug, sein Gesicht war trocken und faltig, aber dieses Gesicht war wie mit einem Schnitzmesser aus einem harten Eichenstock herausgeholt worden, und in diesem Gesicht standen zwei selbstherrliche Augen, hell wie Schmaltebläue und durchsichtig wie Spiegelscheiben. Und diese Augen konnten lächeln wie die eines Jünglings, und diese Augen konnten gütig sein wie die eines wahrhaften Seelsorgers, aber wenn der Zorn in die Brust dieses Mannes hineingriff, der ehrliche, gerechte, bodenständige Zorn, dann konnten diese Augen sein wie das grimmige Aufblitzen von Polensensen oder wie der Schein im Gewitter, wenn der Wald sich beugte und die Wurzeln ächzten und die Stimme Gottes zwischen Himmel und Erde dahinrollte.

Pitt Pulcher war ein leidlich begüterter Mann, nicht reich, aber er hatte sein bequemes Auskommen.

Sein Gewerbe betrieb er nur noch aus alter Gewohnheit, aus dem Gedanken und der Überzeugung heraus: Pitt Pulcher, nun höre mal zu. – Als Dreikäsehoher hast du die Spule gedreht, fünfzehnjährig hast du über den Büchern gesessen und hast die Lade gewuchtet und freutest dich, wenn das Schiffchen auf- und niederschlurrte. Als Webergeselle hast du gefreit, als Meister geheiratet; als solcher dein Weib, das dir zwei Kinder geboren, geehrt und ihr die Tage leicht gemacht, selbst in ihrem elenden Siechtum, aber es ist dir gut gegangen im Leben. Also betreibe dein Handwerk weiter, das bereits deine Altvorderen betrieben, und bleibe dabei, bis du wieder aus dem Leben hinaus mußt und dir zum letzten Male die Worte zuklingen, ganz sacht, ganz leise, wie hinter einer dicken, mit Sternen besetzten Gardine: »Im Hause meines himmlischen Vaters sind viele Wohnungen bereitet. Pitt Pulcher, ziehe die Schuhe aus und säume nicht länger. Auch deine Wohnung ist hergerichtet. Sie wartet.«

Also blieb Pitt Pulcher in seinem Handwerk, schlicht und gerecht, mit Vergißmeinnichtaugen, mit glattrasiertem Gesicht und mit einem Gewissen, das niemals seine schneeweiße und frischgebügelte Weste abgelegt hatte.

Sein geräumiges Haus mit den indigoblau gestrichenen Läden und den engbrüstigen Scheiben stieß an den Kirchplatz. Von den Fenstern seines Arbeitsraumes aus sah er den prächtigen gotischen Ziegelbau aufragen, verfolgte er die Dohlenvögel, die die Gesimse und zierlichen Fialen mit ihrer weißen Tünche beschmissen, gewahrte er den Koloß der Verheyenschen Mühle, der unermüdlich die fetten Speziestaler in die Tasche des Besitzers hineinschaufelte. Von diesen Fenstern aus hörte er das Geläut der Glocken, wenn sie ihren Mund auftaten und seine frommen Gedanken bei den Händen nahmen, um sie bis an das himmlische Tor zu geleiten.

Pitt Pulcher hatte die Glocken von jeher als Lebewesen angesprochen. Sie sagten ihm mehr, als sie anderen Menschen sagten. Sie standen ihm nah, sie waren ihm seelisch verschwistert. Er kannte ihre Tugenden und Unarten. Er teilte ihre jubelnde Freude zu Ostern und Pfingsten. Diese jubelnde Freude sah er durch die Wiesen spazieren, blond und blauäugig, und sie hatte ein Himmelsschlüsselchen hinter dem Ohr stecken. Er hörte ihre klagende Stimme beim Totenamt, und diese Stimme wehte auf florigen Tüchern über die dunklen Lebensbäume des Gottesackers. Und dann die Stimmen der Weihnacht ...! – jene Stimmen, die mit goldenen Füßchen über den Schnee gleiten, in die erhellten Stuben hineinklingen, duftige Fichtenzweige und versilberte Nüsse umspielen und dann leise zu summeln beginnen, immer lauter und befreiender werden, um schließlich mit tönenden Engelszungen zu sprechen und also zu reden: »Gloria in excelsis Deo, et in terra pax hominibus bonae voluntatis ...« Und wenn er sie hörte, dann hielt er den Perpendikel der großen Standuhr an, damit dieser die heilige Feier nicht störe, öffnete das Fenster und legte die Hände zusammen.

Pitt Pulcher kannte die einzelnen Glocken. Er kannte Klinsa und die Sankt Antoniusglocke, er kannte den Türk und die stolze Maria, vor allem aber war ihm Anne-Susanne ans Herz gewachsen. Ihr sonorer, lange nachhallender Ruf tönte in ges, und wenn sie den Mund auftat, dann war es, als würde eine gewaltige Domorgel lebendig, als spräche aus dem tönenden Orgelwerk die Stimme des Herrn, als spräche sie aus alten, längst vermoderten Zeiten heraus – und also sprach sie:

»Lof en eer moet gade syn,
Anne-Susann is die name mien;
Mie gaet, die Jan van Vechgel heit
Int jaer ons Heer als hier na steit ...«

und dann brummte sie nach und stammelte: »Eintausenddreihundertundachtzig – eintausenddreihundertundachtzig – eintausenddreihundertundachtzig ...« und dann stand die alte Zeit neben Pitt Pulcher, mit verblichenen Zügen, mit eisgrauen Haaren und mit Spinnweb umhangen – und sie deutete rückwärts, ins Leere, ins Unermeßliche, ins Nichts. Aber der Alte verstand sie. Und er sah das hunderttürmige Köln. Er sah die Banner der Geschlechterherren und Zünfte fliegen, er hörte Pfeifen und Trommeln. Und das blutige Jahr 1372 packte in die Zunft der Weber hinein – und legte den Häuptern den Kopf vor die Füße – und färbte die Gassen purpurn und machte den Rhein zu einem Blutstrom, als wären die Rotfärber bei der Arbeit gewesen – und schleifte das Bannerzeichen der stolzen Weber in den Staub – und zerriß es ... Und dann reckte Pitt Pulcher sich auf, groß und bedächtig und zuversichtlich, und er hörte noch einmal auf das Summeln und Singen, und dann sagte er still und feierlich vor sich hin: »Anne-Susanne, du bist die Glocke der Pulcher, denn also steht geschrieben: Ich, Kaspar Christian Pulcher, Ältermann der hochmögenden Weber zu Köln, Herr über ihr Leben und Schaffen, über Maß und Gewicht, nunmehr heimgesucht und in die Verbannung gestoßen, durch das Rote Meer gegangen, um den Frieden zu finden, hier im Kirchspiel zu Calkar die Ruhe und den Frieden gefunden ... dessen aus Dankbarkeit und um unsern allmächtigen Gott, unsern Herrn Jesus Christus zu feiern, habe ich die Glocke ›Anne-Susanne‹ dem hiesigen Kirchspiel für ewige Zeiten gestiftet. Nicht aus Stolz oder aus feilem Hochmut heraus ist solches geschehen, sondern im Frieden mit Gott und in christlicher Demut. Ich verlange keine Guttat dafür, nicht Ehrenbezeugung und einen Namen, so einen klingenden Ton hat. Aber ich gebiete hiermit: Anne-Susanne soll läuten, wenn die Sterbestunde über mich kommt, und läuten soll sie, wenn einem meines Namens der Todesschweiß ausbrechen will und sein Erlöser ihn ruft. Damit ihm die Stunde leicht werde, in der er von hinnen muß, von Weib und Kind und allem, was ihm das Leben schön und das Sterben müheselig und schwer machte. Also geschehen am zweiten des April und im Jahre der Geburt unseres Herrn, da man schrieb eintausenddreihundertundachtzig. – Gott sei meiner Seele barmherzig, und er zeige ihr den Weg in das Licht, das ewiglich leuchtet. Amen.«

So sprach Pitt Pulcher durch seinen großen Vorfahr auch heute, ernst und bestimmt und mit einem Blick in die Zukunft.

Draußen sangen die Stare. In den noch kahlen Lindenzweigen war leise Bewegung. Nur ab und zu wollte eine grüne Knospe durchbrechen. Der Abend legte bereits seine feinen Schleier über die Dächer.

Pitt Pulcher stand mit seiner brennenden Kalkpfeife am Fenster. Der Portoriko kräuselte feine Rauchwölkchen nach oben.

Der einsame Mann hatte seine ernsten Gedanken, hoffnungsfreudige und solche, die alle Hoffnung hinter sich ließen.

Um ihn lag der große Arbeitsraum mit seinem schlichten Mobiliar bereits in schummeriger Dämmerhelle. An den Wänden hingen verschiedene Stiche aus dem Leben der Heiligen, die einen guten Geschmack bekundeten. Dazwischen befand sich das buntilluminierte Bildnis der Muttergottes von Kevelaer, das Pitt Pulcher eigenhändig von dem nahen Gnadenort hergebracht hatte, um die Leiden seines schwerheimgesuchten Weibes weniger schmerzhaft zu machen. In der Tiefe des niedrigen Zimmers hob sich der Webstuhl auf. Schon der Großvater des jetzigen Besitzers hatte zwischen diesen Stuhlsäulen gearbeitet, den Kontermarsch gehen lassen und die Lade gewuchtet. Die Verkröpfungen der Längs- und Querriegel, von deren Enden lange Garnstränge hingen, verloren sich in dem Grau der schön gegliederten Balkendecke. Neben dem Stuhl lagen mächtige Leinwandballen gestapelt, teils bestellte Ware, teils solche, die auf Vorrat gearbeitet war und noch des Abnehmers harrte. Aber nicht lange, denn Pitt Pulchers Gewebe war gängig und erzielte Preise, die von den Forderungen anderer Webermeister wesentlich abwichen. Ein kaum merklicher Duft nach Hederich und gehecheltem Flachs einte sich den bläulichen Kringeln, die der Kalkpfeife des insichgekehrten Mannes entstiegen.

Draußen wischte der Abend das letzte Gold von den Dächern. Die Umrisse nahmen einen unbestimmten und kränklichen Ton an. Nur die Verheyensche Mühle hielt ihre scharfumrandete, massige Form bei. Gleich einem gigantischen Ungetüm überragte sie die am Boden kriechende Silhouette der Häuserzeilen, fast drohend, selbstgefällig und trotzig ihre schmalen Schattenflügel bewegend.

Unwillkürlich hafteten die Blicke Pitt Pulchers an dem riesenhaften Gangwerk, als sich ein weicher Arm in den seinen hineinschob.

Lautlos war eine hohe Mädchengestalt an seine Seite getreten, schwarz gekleidet und von seltenem Ebenmaß. Nur die schlanke Taille schien durch das Gewicht ihrer jungen Brust etwas ermüdet. Um das ovale Gesicht lag eine Fülle blonden Haares, hinten zu einem mächtigen Knoten geflochten.

Pitt Pulcher wandte sich.

»Schläft sie?« fragte er leise.

»Ja, Vater, sie schläft. Der Doktor war da.«

»Wie steht es denn, Anna?«

»Er lächelte wieder. Jetzt wird es wohl besser werden, denn als er fortging, sagte er ruhig: Nun wird sich die Sache schon machen.«

»Der Mann lächelt immer,« versetzte der Alte mit einem wehen Ton in der Stimme. »Das geht nun schon an die fünfzehn Monate hindurch. Immer das gleichmäßige Lächeln, hinter dem etwas lauert, was ich für den Tod ansprechen möchte.«

»Aber, Vater ...!«

»Ja, Anna, so ist das. Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe das Gefühl, als wenn Mutter auf 'ner Rutschbahn säße, die immer tiefer in das Elend hineinfährt, denn das mit dem ewigen Lächeln ... Ich glaube, der Mann hat das Lächeln noch an sich, wenn die Lichtjungfer kommt und Dores Jansen die schwarzen Bretter zusammennagelt. Und ich dachte mir schon: jetzt, wo's Frühjahr wird, da käme auch für uns Ostern und Auferstehungsfreude.«

Die letzten Worte flatterten verstört durch die eingedunkelte Stube.

Ein verhaltenes Schluchzen war an seiner Seite.

»Nun hoffe doch man,« sagte die Tochter und drängte sich dicht an die Brust ihres Vaters. »Alle Leute sind doch so gut zu uns. Sie beten ja für Mutter, und da wird der liebe Gott doch nicht wollen ... Auch Jakob Verheyen hat anfragen lassen.«

Pitt Pulcher merkte auf.

»So – auch Jakob Verheyen?« und seine Blicke irrten wieder zu der großen Mühle, die jetzt wie eine tiefschwarze Kulisse immer ernster und seltsamer in den abendlichen Himmel hineingespensterte. Er konnte sich nicht davon losmachen. Seine Blicke krochen ihr dicht auf den Leib.

Sein Atem ging schwer.

Was hatte der Mann nur?

Die Tochter sah ängstlich zu ihm auf. Da legte er den Arm um sie her und sprach mit weicher Betonung: »Anna, daß ich's man sage ... Ich wollte schon längst davon sprechen ... Aber verstehe mich richtig ... Ich will mich nicht in deine Angelegenheiten hineinmengelieren. Das steht mir nicht an. Das ist niemals bei mir Mode gewesen. Da ist jeder sein eigener Herr und sich selber der Nächste; denn ich weiß, was von Pulcherscher Art ist, das geht immer seinen schnurgeraden Weg und hat stündlich seinen Herrgott vor Augen. Drum ist keine Not und keine Sorge bei mir. Aber ich meine nur, Anna: Wann hast du Hermann Verheyen zuletzt gesehen?«

»Als er auf Urlaub war, vergangene Weihnacht.«

»Und dann nicht mehr?«

»Nein – und dann nicht mehr.«

»Aber ihr schreibt euch noch immer?«

»Ja, alle vier Wochen.«

»Und hast du ihm auch geschrieben, daß es Mutter nicht gut geht?«

»Ja, das habe ich ihm alles geschrieben.«

»Auch das mit Stephan; daß dein Bruder die niederen Weihen empfangen hat und übers Jahr seine heilige Primiz hält?«

»Ja, Vater; aber warum fragst du das alles?«

»Kind,« sagte der Alte, und sein Arm legte sich fester um den jungen Leib der Tochter, »ich habe gar nichts gegen Hermann Verheyen. Er schlägt seiner seligen Mutter nach. Es steckt etwas Großes in ihm, etwas von dem, was die Zuversichtlichen und die Stillen im Lande besitzen. Das hat er auf dem Schießplatz bewiesen. Da hat er den Tod von der Seite seiner Kameraden genommen. Das war freiwillige Tat, und solche Tat drückt einem die Tränen in die Augen hinein. So was vergißt man nie mehr im Leben. So was lebt über das Kreuz hinaus, das dereinstmal auf seinem Grabe stehn wird. Nein, ich habe gar nichts gegen Hermann Verheyen. Solche Menschen kann man gebrauchen im Leben und Sterben. Solche Menschen wachsen in die Zeit zurück, in jene Zeit, wo ein Kaspar Christian Pulcher die Zunft der Weber aus dem blutigen Köln herausführte ... Aber sein Vater ...«

Und wieder gingen seine Blicke über die stumpfgewordenen, lichtlosen Häuser fort und umgriffen den dunklen Mühlenkoloß, dessen Flügel kaum noch voneinander zu unterscheiden waren. Nur wie unermeßliche Flortücher stakelten sie durch die ruhige Luft. Im oberen Geschoß hellte ein Fenster auf. Es zeigte nach dem Pulcherschen Hause. Wie ein Zyklopenauge, dunstig und in die Länge gezogen, sah es von seiner schwarzen Höhe herunter.

Hier das Auge des Alten und dort das Verheyensche Auge.

Wie sie sich anstierten!

»Ich weiß nicht,« ergänzte Pitt Pulcher, und es klang etwas in der Stimme, was das Herzblut gefrieren machte, »aber mir ist so, als käme von der Mühle ein Unglück herunter ...«

Anna schreckte zusammen.

»Jakob Verheyen ...?!« fragte sie tonlos.

Der Alte schüttelte den Kopf; aber immer enger hielt er sein Kind umfangen, als müsse er es vor einer drohenden Gefahr beschützen.

»Nein, Anna, nicht rühr' an die Sache. Jakob Verheyen hat es immer mit den Pulchers gehalten. Aber die schweren Gedanken! Vor Jahren waren sie da, damals kurz nach der Geburt deines Bruders – dann später ... und heute sind sie wiedergekommen. Ich habe keine Gründe dafür, wenigstens keine, die ich als richtig ansprechen könnte. Aber von der Mühle kommt es herunter, von da will der Staub über mich her, der alles absterben läßt, was in meinem Blumengarten blüht und grünt – und es will doch Ostern werden auf Erden.«

Da straffte sich das junge Mädchen in ihrer ganzen Kraft und jungfräulichen Herbe. Beide Arme schlang sie um den Hals ihres Vaters. Ihre junge, harte Brust kam ins Stürmen.

»Ja, es will Ostern werden auf Erden,« sagte sie zuversichtlich, »Ostern für dich und Mutter, für Stephan und mich – und für Hermann Verheyen.«

Und die Stunde drückte die Herzen der beiden zusammen, immer fester und fester, und Pitt Pulcher bekam von dem jungen Herzschlag etwas ab, und eine plötzliche Hoffnung und eine zuversichtliche Freude war in ihm.

»Ostern ...!« sagte er still vor sich hin.

Jenseits der Nikolaikirche begannen die ersten Sterne zu blinzeln.


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