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5

Um dieselbe Stunde saß der Dechant Heinrich van Egern in seinem Studierzimmer.

Neben ihm brannte die Lampe; im Ofen knisterte ein lustiges Feuer, denn der Tag war kalt und stürmisch gewesen, und am Abend war es noch schlimmer geworden.

Der geistliche Herr hatte in der Bibel gelesen. Die Leidenswoche des Herrn war in großen Zügen an ihm vorübergepilgert, Fuß für Fuß, Station um Station. Jetzt war er zum Abschluß gekommen. Die Brille lag noch neben den aufgeschlagenen Blättern.

Er las nicht mehr, aber sein Geist erging sich weiter in stillen Betrachtungen. Hinter ihm lagen die Stunden des Schmerzes und die Stunden des Leides. Nur noch eine kurze und bange Nacht, und er wandelte sonntäglich und weißgekleidet dem Auferstehungsmorgen entgegen.

So still ringsum. Fast lautlos zogen die Menschen mit Palmsträußchen und Osterwecken vorüber. Selbst der Kanarienvogel schwieg, und wenn ihm die Sehnsucht ankam, eine zarte Klingelrolle zu flöten, so verdämmerte sie gleich darauf wieder, als wäre sie zergangen wie das Klingen einer kaum angestrichenen Geige.

In dieser ernsten Stunde glaubte der geistliche Herr den Pendelschlag der nahen Turmuhr zu hören, wie er den besonnenen Schlag seines eigenen Herzens zu hören vermeinte. Und dieser Herzschlag führte ihn zurück in vergangene Zeiten. Jemand war an seine Seite getreten. Es war seine eigene Jugend. Die schob ihren Arm in den seinen, und so aneinandergeschmiegt gingen sie über die Deiche und sahen in das Land hinein, wo die Menschen wohnen mit ihrem starken Glauben und ihren schweren Gedanken, jene Menschen, die Ströme ablenken und Berge versetzen, um die Pforte des Paradieses zu gewinnen. Und die Jugend stand neben ihm und küßte ihm den schneeweißen Scheitel.

»Es ist wie im Traum,« sagte der Dechant still vor sich hin und suchte wieder auf irdischen Boden zu kommen.

Der Wind, der geraume Zeit gefeiert hatte, erhob sich von neuem. Mit tiefem Seufzer stieß er in den Ofen hinein und ließ die glühenden Fünkchen eiliger in den Aschenkasten fallen. Einzelne Graupelkörner schlugen gegen die Fenster, aber der Dechant wähnte die Erde mit lichtem Sonnenschein vergoldet und dachte wieder an das helle und versonnene Reich seiner Jugend.

Alles um ihn war Weihe und Friede.

Gleich darauf schlug die Meßglocke an. Es war nur ein kurzer Appell, dem Rufe der Wache zu vergleichen.

Da nahm der geistliche Herr mit einem schmerzlichen Lächeln das Sammetkäppchen ab, legte es neben sich und sagte: »Der da kommt, kommt bald. Es dauert nicht lange mehr, und dann wird auch Anne-Susanne geläutet.«

Hierauf langte er nach einem Blättchen Papier, das neben ihm bei etlichen Geschäftspapieren ruhte.

»Im Angedenken an Elisabeth Pulcher,« sagte er mit weicher Betonung, »denn ihres Bleibens ist nicht lange mehr auf Erden.« Dann schrieb er:

»Pilger, zum letzten Male sahst du die irdische Sonne;
Bald vom Irdischen frei, schaust du das ewige Licht.«

Als er die Feder beiseite legte, schlug draußen die Klingel an, aber nicht wie sie es sonst in der Gewohnheit hatte, nicht mit jenem feinen Stimmchen, das bis in die gartenwärts gelegene, blanke und sonnige Küche hineinwisperte. Sie kreischte mit einem langgezogenen Ton und schrillte nachhaltig bis in die obersten Zimmer. Alle Räume des Hauses, selbst die Kammern des Dachgeschosses, schienen zu einem einzigen Resonanzboden geworden.

Dann wurde die Haustür geschlagen.

»Was, um Gottes willen, geschieht denn?!« sagte der Pastor und versuchte, sich aus dem Sessel zu heben.

Kraftlos sank er zurück.

Mit beiden Händen stützte er sich auf die Kanten des Tisches und sah über das Licht fort, als müsse er das Unglück fernhalten.

Gleich darauf preschte auch die Zimmertür, als säße ein scharfer Wind dahinter, gegen die Wand an.

Es ging wie ein Hauch des Todes durch die Stube, so still wurde es plötzlich, so fröstelnd und von bangen Ahnungen durchzittert.

Pitt Pulcher erschien auf der Schwelle und zerknüllte die Seidenmütze zwischen den Händen. Das eisgraue Haar hing wirr um die Schläfen.

Hinter ihm kam die Haushälterin mit allen Zeichen des Unmuts, sichtlich gewillt, ihm den Eintritt zu verwehren. Allein der Alte streifte sie ab, wie man irgendein nichtiges Ding abstreift und beiseite stellt.

»Herr Dechant,« sagte er ruhig, aber in dieser Ruhe saß die ganze Verzweiflung eines gequälten Menschen, »Herr Dechant, sind Sie zu sprechen, sind Sie für mich zu sprechen, Herr Dechant?«

»Ja, mein lieber Herr Pulcher, ich bin für jeden zu sprechen. Kommet zu mir, ihr alle, die ihr mühselig und beladen seid.«

»Dann, Herr Dechant ...«

Er sprach nicht weiter. Die Sinne wollten ihm abwegig werden.

Pitt Pulcher mußte sich am Türpfosten halten, um nicht in sich zusammenzubrechen. Da stand nun der gewaltige Mann mit dem scharfgemeißelten Kopf und den eisernen Zügen, der Webermeister, der trotzige Mensch aus dem stolzen Geschlecht der Kölner Weber und Tucher, die sich einst unterfangen hatten, das Banner des Aufruhrs auf die Mauern der freien Reichsstadt zu pflanzen und die Geschlechterherren, die Herren der ›Richerzeche‹, in den Staub zu treten – jetzt das Leid zwischen den Rippen und todeswund, hilfebedürftig und eine übermenschliche Last auf den Schultern ... und hielt das sterbende Herz seines armen Weibes zwischen den Händen.

»Herr Dechant, mein Weib ...!«

Wie eine schwere Kette klirrten die Worte zu Boden.

»Kommen Sie näher,« sagte der geistliche Herr und hielt dem Verzweifelten die Arme entgegen. »Ich weiß es, Herr Pulcher. Die große Stunde senkt sich herab. Gott tröste Sie und die Ihren. Die Heilsmittel unserer Kirche mögen ihr das Scheiden leicht machen. Der Herr Vikar hat doch seines Amtes gewaltet?«

Pitt Pulcher trat näher. Seine Brust stürmte.

»Herr Dechant, der Vikar ist mir soeben mit der letzten Wegzehrung begegnet ... aber das hilft mir nicht, das kann mir nicht helfen ... um das geht es mir nicht ... Sie selber müssen kommen, Herr Dechant, sonst kann mein Weib das Sterben und die ewige Ruhe nicht finden.«

Der geistliche Herr lächelte wehmütig vor sich hin und machte eine hilflose Bewegung: »Sie sehn doch, mein lieber Herr Pulcher ...«

»Ja, ich sehe alles,« stieß der Alte qualvoll heraus, »ich sehe alles, Herr Dechant ... Aber wenn Sie nicht kommen, Herr Dechant ...«

Mit beiden Händen griff er sich zwischen Kehle und Halstuch, als müsse er sich Luft verschaffen, als säße ihm eine würgende Hand an der Gurgel: »Wenn Sie nicht kommen, Herr Dechant ...«

»Herr Pulcher, es ist doch unmöglich ...«

»Nichts ist unmöglich, Herr Dechant!«

Der Alte war bei ihm, umschnürte seine Hände; seine Stimme flackerte wie eine brünstige Feuersäule: »Ich will alles für Sie tun, hungern und dursten ... ich krieche für Sie den Kalvarienberg hinauf, Station für Station, Stufe für Stufe ... ich will Sie tragen, Herr Dechant ... hier, mit meinen starken Armen will ich Sie tragen, Schritt für Schritt, Fuß für Fuß ... es geschieht Ihnen nichts ... hier liegen Sie sicher ... Nur – um Jesu Christi willen – erbarmen Sie sich ihrer ...!«

Etwas Trostlos-Wildes lag in diesen Worten, ein Klagen wie der Schrei eines verwundeten Tieres, ein Hilferuf hinaus übers Meer, in das Endlose, in die Ewigkeit hinein – und der Gequälte streckte ihm die Hände zu, die bittenden Hände ... die flehenden Hände ...

Der Schmerz verstärkte sich im Antlitz des geistlichen Herrn.

Er tastete nach seinem Sammetkäppchen.

»Mieke,« sagte er zu seiner Haushälterin, »bringen Sie mir Hut und Mantel.«

»Hochwürden, Sie werden doch nicht ...!«

»Ja, ich werde,« sagte er ruhig. »Es gilt eine Menschenseele.«

Sie trat auf ihn zu: »Das geht nicht, das dürfen Sie nicht! Sie versuchen ja den lieben Gott im Himmel.«

»Mieke, ich will meinen Mantel.«

Seine Stimme klang fest.

Da ging Mieke und brachte das Verlangte.

Währenddessen sagte der Dechant: »Muß schon ein Arzt in Sturm und Wetter hinaus, leidet ein Mensch Schaden an seinem Leibe, um wie vieles mehr ein Diener des Herrn, gilt es, das Unsterbliche ungefährdet und rein in das ewige Leben zu führen. – Herr Pulcher, ich komme.«

Und damit hüllte ihn Mieke sorglich und warm ein, während heiße Tränen über ihre Wangen rannen und ein Stoßgebet das andere ablöste.

Pitt Pulcher aber küßte die Hand des Verlähmten; dann hob er ihn mit starken Armen auf, drückte ihn wie ein schwaches Kind an seine Brust – und Pitt Pulcher, der Erlöste, der Mann mit den hellblauen Augen, Pitt Pulcher, das gutmütige Kind und doch der Mann mit dem sehnigen Willen und dem heiligen Zorn im Herzen – Pitt Pulcher schritt erhobenen Hauptes mit seiner teuren Bürde über die Dielen, über den Hausflur, über die Schwelle in die Schauer des Karsamstagabends hinein.

Mieke machte hinter ihnen das Zeichen des heiligen Kreuzes, bis die beiden im Grau der niederfallenden Graupelkörner verschwanden.

Pitt Pulcher jagte weiter. Die Mütze flog ihm vom Kopf. Es war ihm gleichgültig. Seine Seele jubelte. Er konnte den letzten Willen der Kranken erfüllen. Er hatte ihr das Leben leicht gemacht und ihr jeden Stein aus dem Wege geräumt, und so wollte er es halten bis zu dieser Stunde: auch das Sterben sollte ihr leicht werden.

Der Wind peitschte ihm das Haar und kämmte es ihm wirr um die hämmernden Schläfen. Er hatte dessen nicht acht. Scharfe Kristalle sprangen ihm in das harte Gesicht und drückten ihm die Lider herunter. Er ließ graupeln, was graupeln wollte, und ging seines Weges. Er schritt über den Kirchplatz, als wenn er das Heil des Lebens trüge, als hielte er den Heiland selber zwischen den Armen, um ihn an das Sterbebett seines Weibes zu tragen. Pitt Pulcher war ein Bringer des Glückes und ein Träger der Freude geworden.

Und endlich – endlich ...! – Der erste Klang kam aus der Höhe herunter. Durch Kreppschleier und Florgardinen ruderte er über die totenstille Stadt und sprach zu den Menschen.

Ein dumpfer Laut rang sich aus der Brust des Heilbringers.

»Anne-Susanne ...! – Anne-Susanne! – Heiliger Gott, großer Gott! – nur noch zehn Minuten, nur noch zehn kurze Minuten – und mein Weib hat ein ruhiges Sterben gefunden!«

»Sursum corda,« sagte der Pastor, und eine helle Träne fiel auf den Scheitel des Mannes, der ihn trug.

Gleich darauf trat Pitt Pulcher über die Schwelle seines eigenen Hauses.

* * *

Knapp eine Stunde vor diesem Begebnis stand Jakob Verheyen mit aufgestemmten Knöcheln in seinem Wohnzimmer. Über ihm schwebte eine Hängelampe, deren grelles Licht auf eine ausgebreitete Flurkarte fiel, die in ihrer oberen linken Ecke den Katasterstempel und den Namen des amtierenden Geometers enthielt.

Dem Guanohändler und Mühlenbesitzer gegenüber saß eine gedrungene Gestalt, mit dem ortsüblichen Leinenkittel angetan und goldenen Ringen in den fleischigen Ohrläppchen. Ein gesundes, kräftiges Gesicht, von einer rötlichen Bartfräse eingerahmt, ruhte selbstgefällig auf dem kurzen Stiernacken, dessen Speckfalten beinahe den niedrigen Kragen des blauen Kittels bedeckten. Man sah es diesem krummbeinigen und bodenständigen Mann an: er, Franz Seegers, war es gewohnt, nur erstklassiges Korn auf erstklassigen Acker streuen und nur mannshohes Gras auf den fetten Niederungsweiden mähen zu lassen. Sein Weizen erzielte stets die besten Preise, sein Heu hatte doppelten Nährwert, und mit seinem rot- und weißgefleckten Viehbestand konnte es niemand in der ganzen Klever Gemarkung aufnehmen. Draußen, ungefähr eine halbe Wegestunde von der Mühle entfernt, lag sein breitangebautes und von kanadischen Pappeln umstandenes Anwesen zwischen dem Paternosterteich und dem mächtigen Damm, der sich in großem Bogen durch die Niederung hinzog und den ersten Ansturm des geschwollenen Rheinwassers aushalten mußte. Franz Seegers war wie Jakob Verheyen verwitwet. Von drei Kindern war ihm nur eine Tochter übriggeblieben, und wenn diese Tochter, straff und üppig gewachsen, ihren Rock schürzte, um die nahgelegene Stadt aufzusuchen, kam der Stolz des Alten zum Durchbruch. Lustig und hochfahrend rief er ihr jedesmal nach: »Thres, wenn du spazieren gehst, dann gehen mit dir fünfundneunzigtausend Taler spazieren.« Dabei lachte er so herzhaft aus seinem Leinenkittel heraus, daß davon die Grundfesten seines stattlichen Hauses ins Zittern gerieten.

Franz Seegers verfolgte mit dem Zeigefinger eine grüne Linie, die sich quer über die Flurkarte hinzog. An einer Stelle dieser Linie und ungefähr dort, wo eine rote abzweigte, stießen sein Besitz und der von Jakob Verheyen zusammen.

»Also das hier wäre der strittige Punkt?« fragte er lauernd.

»Allerdings,« sagte Verheyen, »aber da sind noch mehr strittige Punkte.«

»Wieso denn?« gab Seegers zurück und suchte hinter die Gedanken seines Partners zu kommen.

»Das läßt sich heute nicht alles erklären; das muß man in natura betrachten, und drum möchte ich die ganze Sache auf später verschieben.«

Damit trat Jakob Verheyen von der Flurkarte fort, legte die Hände auf den Rücken, schritt in nervöser Hast über die knarrenden Dielen, sah zum Fenster hinaus, vor dem die Schatten einiger Lindenbäume auf- und niederschwankten, riß die Tür auf und rief nach dem ersten besten Müllergesellen, schlug sie, als niemand erschien, in merkwürdiger Eile wieder zu und trat nochmals ans Fenster. Mit spitzen Fingern trommelte er gegen die angelaufenen Scheiben.

Seegers verfolgte jede seiner Bewegungen.

»Gottverdomie!« rief er plötzlich, »was hast du denn heute für 'ne dämliche Unruhe im Leibe?«

Der Angerufene wandte sich.

»Das mußt du schon mir überlassen,« sagte er kurz. »Es gibt Dinge im menschlichen Leben, die sind mit der Peitsche hinter einem her und knallen einem den Verstand aus dem Schädel.«

»HerrJesusnochmal!« versetzte der fette Niederungsbauer, »ich bitte dir, Jakob: auf einen Menschen mehr oder weniger kommt's doch nicht an. Das ist doch bei dir die ganze Geschichte, 'ne Hand voll Kirchhofserde, wie Herr Roloffs immerzu sagt, und die dumme Sache ist in promptester Weise geregelt.«

Seine Worte waren von einem speckigen Lachen begleitet.

»Seegers, ich verbitte mir das ...«

Schartig kam es vom Fenster her.

»Auch gut,« versetzte der andere und verfolgte wieder, und zwar in scheinbarer Gemächlichkeit, die geraden Linien der vor ihm ausgebreiteten Karte.

Jakob Verheyen hatte sich in einen Sessel geworfen. Von hier aus sah er in das grelle Licht, das ihm in die Augen hineinstach. Das genierte ihn nicht. Er hatte kein Empfinden dafür und blieb unberührt davon. Eine senkrechte Furche bohrte sich von der Nasenwurzel bis tief in die Stirne hinein. Die Schläfen sprangen zurück. Ein kurzverschnittener, mit weißen Fäden durchzogener Spitzbart vermehrte das Bedeutsame des scharfmodellierten Gesichtes. Die Augäpfel spielten ins Gelbliche über. Sehnig gewachsen, mit energischen Mundecken und den grübelnden Blicken machte er den Eindruck eines verschlossenen, aber auch eines entschlossenen Mannes, der es gewohnt war, seinen Willen in die Tat umzusetzen und gegebenen Falles über Leichen zu gehen. Aus kleinen Anfängen hatte er sich zu seiner jetzigen Stellung emporgerungen. Durch seinen klug angelegten Guanohandel waren ihm die Bauern tributpflichtig geworden. Seine Mühle beherrschte die Gegend. Sein energisches Wort brachte ihm Ansehn. Im Kirchenvorstand spielte er die erste Geige. Mit dem gewaltigen Pitt Pulcher war er befreundet, obgleich die Fernerstehenden sich so recht nicht in diese Freundschaft hineinfinden konnten, schon deshalb nicht, weil sie nicht begriffen, wie Jakob Verheyen die schöne Elisabeth Ivers hatte vergessen können, wo er doch schon nahe daran gewesen war, sich um ihretwillen von dem Umgang seiner Mühle in die Tiefe zu stürzen. Aber wie dem auch sein mochte – Gras war über die alte Geschichte gewachsen, und der Wind näselte darüber hin wie über einen umbrochenen Stoppelacker.

Der Geist dieses Mannes mahlte hart auf hart. Zielbewußt ging er seine eigenen Wege. Seit jener furchtbaren Stunde auf dem Umgange der Mühle kannte er keine Anwandlung von Schwäche mehr, hatte sie nie mehr empfunden.

Heute kam sie zurück.

Er war unstet, zerfahren, und wie geistesabwesend stierte er in die zirpende Lampe.

Das dauerte so hundertundfünfzig Herzschläge hindurch.

Dann erhob er sich wieder, trat an den Tisch und schien sich aufs neue für die Flurkarte zu interessieren.

»Also dieses Stück willst du haben?« sagte dann auch gleich der Stiernackige, begab sich an die Seite Verheyens und umzog das fragliche Gelände mit dem Nagel des aufgesetzten Daumens.

»Das hilft mir allein nicht, wenn ich die anstoßende Parzelle nicht kriege.«

»Gottverdomie noch mal! – das ist ja meine beste Weizenparzelle. Boden eins a. Prima Sorte. Zwei Morgen und dreihundert Feldmesserruten. Nicht ein einziger Stein drin. Fett wie'n ausgemästetes Ferkel. Ich sage dir, Jakob, wenn ich da umpflügen lasse, so kriegt man den feinsten Brotgeruch direkt in die Nase.«

»Drum hab' ich dir ja auch dreitausend preußische Taler geboten.«

»Schon richtig – aber ich bitte dir, Jakob ...! – kannst du die Nebenparzelle nicht nehmen? Dieselbe Fläche, glatt wie 'ne Hand und nur zweitausendfünfhundert preußische Taler.«

»Ausgeschlossen.«

»Wieso ausgeschlossen?«

»Na – um es dir denn kurz auseinanderzusetzen: hier auf den dreitausend Taler wertigen Acker habe ich vor, etliche Guanoschuppen bauen zu lassen.«

»Das weiß ich. Nu aber weiter. Das geht ja auch hier auf der Nebenparzelle.«

»Nein, das geht nicht.«

»Aber ich bitte dir, Jakob ...!«

»Da ist gar nichts zu bitten, absolut gar nichts zu bitten. Die Sache ist doch klipp und klar und liegt vor mir wie auf einem porzellanenen Teller. Ich muß an den Kalkflack heran, ich muß an die Chaussee 'ran, sonst komm' ich mit meinen Percherons und meinen Fuhren nicht durch, sonst kommen die Bauern nicht durch. Ich kann mich doch um deiner schönen Augen wegen nicht festlegen und wäre ein kapitaler Narr, den Totengräber für mein eigenes Interesse zu spielen. – Also nochmals gesagt: entweder ich erhalte die bezeichnete Flur und die Leigrafenparzelle dazu, oder wir sind in vorliegender Sache geschiedene Leute.«

Die Augen Verheyens begannen zu stechen, und seine Stimme klirrte, als würde ein Fenster eingeschlagen.

»Aber ich bitte dir, Jakob ...!«

Das brutale Gesicht mit der rötlichen Bartfräse schob sich dicht an das seines Gegners: »Man immer hü mit die bockigen Pferde. Man ist doch auch nicht von heute und gestern. Man hat doch auch sein Honnör im Leibe und sieht es nicht gern, wenn so 'ne alte und prächtige Freundschaft zertöppert. Du verstehst mir doch, Jakob?«

Damit legte er ihm die breiten Hände auf die Schultern und sagte: »Jakob, ich habe dir 'nen Vorschlag zu machen. Sieh mal, Jakob, meinetswegen seit hundert Jahren stoßen unsere Besitztümer zusammen. Hier deine kapitale Mühle mit ihrer barbarischen Mahlforsche und dann noch deine übrigen Liegenschaften, und dicht daneben: ich mit dem Seegersschen Hof und dem Weizenstroh, das doppelt so lang wird wie das auf die Ackers meiner Kollegen. Gottverdomie noch mal!« – und die Rechte knallte fidel auf die Schulter Verheyens – »und da sollten wir nicht Manns genug sein und nicht die Kurasch im Leibe besitzen, unsere Kartoffeln zusammenzuschmeißen? – Denn sieh mal, Jakob: dein Hermann hat das seine gelernt, ist Obergefreiter geworden, abgesehn davon, was noch hinter ihm her kleckert, kommt bald frei von 's Militär und kann für seinetwegen sich umkucken und sagen: Na, Kinder, hier bin ich. – Und, Jakob, da ist nu meine Tochter Therese, drall wie'n Paradiesapfel, direkt vom Baume herunter, aber nicht geschüttelt, sondern lieblich mit 'nem Apfelpflücker gebrochen – und ich sage dir, Jakob, wenn die spazieren geht, dann gehn mit ihr fünfundneunzigtausend preußische Kronentaler spazieren ... also, Jakob, schlag ein ...«

Ein kräftiges Lachen, fest und herzhaft wie der Ton einer regelrecht geknallten Fuhrmannspeitsche, knatterte von seinen Lippen und ließ die Scheiben erzittern.

Dann hielt er seinem Partner die fette und dickfingerige Hand hin: »Jakob, los denn dafür.«

Jakob Verheyen zuckte zusammen.

»Ja, das mit dem Hermann ...«

Stand der Versucher neben ihm? – oder war das ein reeller und artiger Vorschlag? Er konnte nicht in die Irre gehn. Das Lachen hatte zu offen und ehrlich geklungen ... und da: seine Hand wollte sich langsam erheben ...

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Eine empfindliche Kälte strömte ins Zimmer. Mit ihr drehte sich die Gestalt eines vierschrötigen Müllerburschen bis dicht an den Tisch heran.

»Baas,« sagte er stumpf vor sich hin, »es geht nicht zum besten. Höchstens eine halbe Stunde noch, dann kann Dores mit die Hobelspäne erscheinen.«

Fast gleichzeitig wurden die langsam herausgewürgten Worte dumpf und schwer von dem Geläut einer mächtigen Glocke begleitet, die plötzlich verstummte, um gleich darauf wieder angeschlagen zu werden.

Jakob Verheyen verfärbte sich bis in die Haarwurzeln hinein. Das Gelbe in seinen Augen wurde noch gelber.

»Was denn los?« fragte Seegers, und seine eingekniffenen Blicke krochen bald zum Müllerknecht, bald zu Jakob Verheyen.

»Frau Pulcher liegt im Sterben,« erwiderte dieser.

»Herrjeses! – und drum das Gebimmel?«

»Es ist eine alte Gerechtsame, die den Webersleuten zusteht. Sie stammt noch aus der altkölnischen Zeit her.«

»Wo steht das?«

»Das steht verbrieft und versiegelt.«

»Ach was mit ›verbrieft und versiegelt‹! Daß die Frau in die Grube muß, und das noch so jung, tut einem ja leid. Sie hätte noch ganz bequem mitleben können. Aber so'n Brimborium um die Sache zu machen ...!«

»Ich sagte dir schon: es ist eine alte Gerechtsame der Pulchers, und was Rechtens ist, muß eben Rechtens verbleiben.«

»Aber ich bitte dir, Jakob! – wir leben doch nicht mehr in die Zeiten von Anno Tobak. So 'ne alten Scharteken soll man den Nacken umdrehen. Die machen mehr Spektakel als nötig. Unsereins muß ohne Kling und Klang und Gloria abrutschen ... aber so'ne Webergesellschaft ...«

Jakob Verheyen reckte sich. Sein Atem ging schwer. Seine Faust ballte sich und hob sich und schlug mit einem dumpfen Krach auf die Tischplatte: »Seegers, ich habe dir schon einmal gesagt ...«

Seine Augen brannten wie flackernde Kerzen.

Der Müllerbursche drückte sich scheu aus der Türe. Er kannte diese flackernden Kerzen.

»Herrjeses noch mal!« stammelte der Niederungsbauer und rollte die ausgebreitete Flurkarte zusammen. »Exküsiert! – aber, Jakob, nimm's mir nicht übel. Heute ist mit dir wieder kein Auskommen. Ich gehe. Was tot ist, ist tot. Nur der Lebendige zählt. Aber Äcker und Wiesen, die leben – die leben genau so wie die schwarzen Krähen, die ihren grindigen Schnabel in den Boden hineinstoßen. Und drum sag' ich dir, Jakob: Was auch heute passiert ist, das mit deiner Anschnauzerei – Äcker und Wiesen bringen uns doch noch zusammen. Und damit will ich mir empfohlen haben. Jakob, adjüs denn.«

Damit ergriff er Stock und Schirmmütze, stülpte letztere über und verließ, ohne sich noch einmal umzusehen, das vereinsamte Zimmer.

Die aufgerissenen Blicke Verheyens liefen ihm im Geiste nach und verfolgten ihn noch, als er über die Leigrafener Parzelle schritt und mit wehendem Kittel auf sein tief in der Niederung liegendes Anwesen lossteuerte.

Der Müller stand aufrecht.

Dann brach er mit einem kurzen Laut am Tische zusammen, stützte das Kinn auf und stierte in das grelle Licht der singenden Lampe.

Fünf Minuten mochten vergangen sein, da erhob er sich plötzlich und ging ins Freie.

 


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